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STANDPUNKT/972: Vorschlag für eine Gemeinschaft der Demokratien - und eine neue Außenpolitik der EU (Karl-Martin Hentschel)


Gedanken zur Zukunft der Demokratie und der EU Nr. 2

Assoziation für Demokratie und Entwicklung
Vorschlag für eine Gemeinschaft der Demokratien - und eine neue Außenpolitik der EU

von Karl-Martin Hentschel, 30. Mai 2020


Die Demokratie ist in die Defensive geraten. Um das zu ändern, sollte die EU die Initiative für eine Assoziation der Demokratien ergreifen. Der Vorschlag knüpft an die Ideen des "Marshall-Plan für die Erde" (Al Gore) und des "New Deal" zwischen Afrika und Europa (Achille Mbembe) an. Die Assoziation könnte nach dem Vorbild der ursprünglichen Europäischen Gemeinschaft gebildet werden. Jedes Land kann Mitglied werden, das demokratische Standards einhält. Es muss sich wieder lohnen, demokratisch zu sein.


Demokratie in Gefahr

Wir stehen im 21. Jahrhundert vor gewaltigen Herausforderungen: Der Klimawandel schreitet voran. Die Ungleichheit in der Welt wächst rapide - gerade auch in den Demokratien - und in den USA schneller als irgendwo sonst in der Welt.[1] Damit verbunden sind dramatische Entwicklungen und Bürgerkriege in Staaten wie Syrien, Irak, Libyen, Afghanistan, Somalia und dem Kongo. Interventionen des Westens, insbesondere die der USA - haben immer wieder zu desaströsen Ergebnissen geführt.

In dieser Situation gerät die Demokratie in die Defensive. Über zweihundert Jahre lang blickten viele Menschen auf die USA. Millionen Flüchtlinge vor Armut und Unterdrückung aus Europa fanden dort ihre Zuflucht. Nach dem Desaster der beiden Weltkriege war die Staatsform Demokratie über 70 Jahre weltweit im Vormarsch. Die Menschen hatten genug von Krieg, Elend, Königen, Kaisern und Diktatoren. Doch das Vorbild der USA hat seine Leuchtkraft verloren. Eine aktuelle internationale Untersuchung[2] zeigt: Weltweit ist die Demokratie in Gefahr. 60 von 137 untersuchten Staaten haben in den letzten 10 Jahren ihre Demokratie ausgehöhlt. Immer wieder werden Autokraten und Möchtegernautokraten wie Putin, Trump, Bolsonaro oder Erdogan zu Präsidenten gewählt - und genießen zum Teil sogar wachsende Zustimmung. Autoren wie Yuval Harari[3] und Colin Crouch[4] prophezeien gar eine Postdemokratie, in der Internet-Konzerne wie Google oder gar Roboter die Macht übernehmen in einer Welt, in der die Menschen mit Drogen, manipulierten Informationen und Spielkonsolen glücklich und benebelt gehalten werden.


Die Herausforderung durch China

Gleichzeitig schauen immer mehr Menschen im globalen Süden - den sogenannten Entwicklungsländern - nach China. Viele haben den Eindruck, dass die westlichen Demokratien nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind und ihnen wenig zu bieten haben. Dagegen erscheint China als ein erfolgreiches Entwicklungsmodell. Und die vom Westen propagierte Demokratie ist den Eliten dieser Länder oft nur ein lästiges Hindernis.

Unter Xi Jinping als Parteichef und Ministerpräsident hat China begonnen, seine außenpolitische Zurückhaltung aufzugeben. Mit dem Projekt "Neue Seidenstraße" und dem wachsenden Engagement in Afrika dokumentiert China seine Ambitionen, wirtschaftlich die führende Macht der Welt zu werden und dazu auch den politischen Einfluss auszuweiten. Dies wird von einer zunehmenden repressiven Innenpolitik - insbesondere in Hongkong und gegenüber den Uiguren in Xinjiang begleitet.

Prof. Zhang Weiwei, der bekannteste Theoretiker des chinesischen Modells, hält das "american model", das Entwicklungsmodell des Westens, für gescheitert und verweist auf die katastrophalen Entwicklungen in vielen Staaten Afrikas, in Mittelamerika und im Nahen Osten.[5] Die "Zwangsdemokratisierung" diene nur der Öffnung der Märkte und dem Ausverkauf der Rohstoffe. Selbst der kanadische Politologe Daniel A. Bell hält die chinesische "Meritokratie" für "moralisch wünschenswerter" und "politisch stabiler" als die "westliche Wahldemokratie".[6] Und Parag Khanna, einst außenpolitischer Berater von Präsident Obama, lobt die "Technokratie" in Singapur, die schon Deng Xiaoping als Vorbild diente.[7]

Und was setzen die Demokratien, was setzt konkret die EU dem entgegen? Fast nichts! 2011 fand in Tunesien nach 56 Jahren Herrschaft der Einheitspartei eine demokratische Revolution statt. Das Volk hoffte darauf, dass es ihnen mit der Demokratie besser gehen würde. Aber was macht die EU? Sie arbeitet in gleicher Weise mit autoritären wie demokratisch gewählten Regierungen zusammen. Demokratie bringt keine Dividende. Das muss sich ändern!


Die neue Rolle der Europäischen Union

Wir brauchen also einerseits eine soziale und ökologische Transformation[8] um die großen Probleme zu lösen. Wir brauchen aber auch eine Initiative zur Stärkung der Demokratien, wenn wir der Postdemokratie von Google, der Meritokratie von Xi Jinping oder dem Populismus von Donald Trump etwas entgegensetzen wollen. Grundsätzlich sprechen sich immerhin 90 Prozent aller Menschen weltweit für Demokratie aus![9] Nur mit der Realität der Demokratie sind viele nicht zufrieden. Heute gibt es nur noch drei Akteure, die das Gewicht hätten, den erforderlichen Impuls zu einer nachhaltigen und sozialen Veränderung der Welt auszulösen: Die USA, China und die EU. Da jedoch die USA weitgehend das Vertrauen der Welt verloren haben und China nicht demokratisch ist, richten sich die Augen vieler Demokraten in der Welt nicht zufällig auf die EU.

Doch die EU befindet sich in einer nicht enden wollenden Krise. Prägend dafür sind der Brexit, der hingenommene Abbau von Demokratie in Polen und Ungarn, die Duldung von Steueroasen im Binnenmarkt, die wirtschaftliche Stagnation in Südeuropa und die Unfähigkeit, gemeinsam außenpolitisch zu handeln. Aber gerade Krisen sind stets eine Chance für einen Neuanfang. Tatsächlich mehren sich die Initiativen in Politik und Zivilgesellschaft, die eine Neukonstituierung der EU fordern. Immer mehr Menschen wird bewusst, was die EU uns gebracht hat. In einem Kontinent, in dem sich die Völker seit Tausenden von Jahren gegenseitig die Köpfe einschlugen, gab es innerhalb der EU und ihrer Vorläufer 75 Jahre lang keinen einzigen bewaffneten Konflikt mehr. Viele blutige historische Konflikte wie die in Südtirol, im geteilten Herzogtum Schleswig, im Baskenland und in Nordirland wurden befriedet. Gerade die hitzige und in der Geschichte leicht mobilisierbare Jugend Europas wächst immer mehr zusammen und kann sich ein Europa mit inneren Grenzkontrollen kaum noch vorstellen.

Ja - ich höre die Einwürfe: Was war mit der Bombardierung von Belgrad im Kosovo-Krieg? Was mit den Interventionen in Ruanda, in Mali, in Libyen, in Afghanistan? Was mit der Ausgrenzung der beiden transkontinentalen Staaten Russland und Türkei? Aber spricht das gegen die EU? Eher im Gegenteil: Es fällt auf, dass in keinem dieser Fälle die EU der Akteur war, sondern stets die Nationalstaaten, vor allem Deutschland, England und Frankreich oder die NATO - und oft handelten sie sogar in einem unabgestimmten Alleingang.

Was aber könnte die EU zur Stärkung der Demokratien tun?


Der europäische Traum

Jeremy Rifkin hatte in seinem Buch "Der europäische Traum"[10] erstmals die Idee entwickelt, dass ein einiges Europa ein Modell für die zukünftige Entwicklung der Welt - für das Zusammenwachsen der Völker - werden könnte. Die EU hat Europa eben nicht erobert, sondern umgekehrt, die Völker wollten freiwillig in die EU. Was weder Kaiser Augustus, Karl dem Großen, Karl dem V., Napoleon und Hitler mit all ihren Kriegen und Schlachten gelungen war, hat die EU friedlich zustande gebracht: den freiwilligen Zusammenschluss der Völker.

Was macht die Attraktivität dieses historisch neuartigen Gebildes aus? Es sind stabile demokratische Verhältnisse, Frieden, Wohlstand und die Freizügigkeit. Immer waren es die Völker, die ihre Regierungen getrieben haben, der EU beizutreten. Das gilt für die Griechen, Spanier und Portugiesen ebenso wie später für die blutig verfeindeten Völker des Balkans und die ehemaligen Ostblockstaaten in Mitteleuropa. Und auch die Ereignisse in der Ukraine sind ohne die Attraktion der EU nicht verständlich.

Die EU ist nicht perfekt - im Gegenteil. Sie muss dringend reformiert werden. Wir brauchen eine gemeinsam handelnde EU, um die großen Probleme zu lösen: Bei der Bekämpfung des Klimawandels, bei der Besteuerung von internationalen Konzernen, bei einer friedlichen Außenpolitik. Und die EU muss endlich sozialer werden, sie muss auch zu einer Sozialunion zusammenwachsen, damit sie von den Menschen akzeptiert wird.

Und damit das gelingt, muss die EU vor allem demokratischer werden. Sie braucht endlich eine demokratische Verfassung (siehe dazu [11]). Aber das wird nur möglich sein, wenn die EU zugleich auch dezentraler wird. Es darf nicht zugelassen werden, dass ganze Regionen abgehängt werden. Mit einem guten Finanzausgleich und klaren Regeln können die meisten Dinge sogar vor Ort in den Kommunen und Regionen selbst entschieden werden. Aber beim Klima, bei der Außenpolitik, bei den Unternehmens- und Reichensteuern - da muss die EU künftig gemeinsam handeln. In diesem Artikel geht es aber nicht um die neue Verfassung der EU, sondern um eine neue Außenpolitik. Wie könnte die aussehen?


Eine Assoziation für Demokratie und Entwicklung - Marshall-Plan für die Erde

Von Al Gore, US-Vizepräsident von Clinton, stammt die Idee des Marshall-Plans für die Erde[12]: Eine globale Initiative, die den armen Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ein Angebot macht. Es ist eine faszinierende Idee, aber wie könnte sie realisiert werden?

Einen Vorschlag dazu machte der wohl bedeutendste afrikanische Historiker und Philosoph Achille Mbembe: Er schlägt einen "New Deal für Demokratie und ökonomischen Fortschritt" vor. Er sollte zwischen den afrikanischen Staaten und den europäischen Mächten ausgehandelt werden, um die "Narben des Kolonialismus" zu überwinden. Der Deal sollte auch juristische und strafrechtliche Sanktionen (vom Ausschluss aus dem Deal bis zur Amtsenthebung von Regierungen) vorsehen bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schweren Fällen von Korruption und Ausplünderung des eigenen Volkes. Ein solcher Deal wäre auch für Europa ein wichtiger und notwendiger Schritt, um die Geschichte des Rassismus und Kolonialismus zu überwinden.[13]

Und wie könnte der von Mbembe beschriebene Deal umgesetzt werden?

Eine außenpolitisch handlungsfähige EU könnte die Initiative ergreifen für eine "Assoziation für Demokratie und Entwicklung". Das wäre eine internationale Gemeinschaft nach dem Vorbild der ursprünglichen EU-Vorläufer. Mitglied dieser Assoziation können alle Staaten werden, in denen demokratische Standards wie faire, demokratische Wahlen, Einhaltung der Menschenrechte, unabhängige Gerichte, Gewaltenteilung und freie Presse gewährleistet sind. Weiterhin sollten sich die Mitglieder verpflichten, keine militärischen Aggressionen gegen andere vorzunehmen und auch kein Militär im Inneren einzusetzen.

Die Assoziation sollte so konstruiert werden wie die frühere Europäische Gemeinschaft (EG). Sie sollte den Mitgliedern Fördermittel anbieten zur Finanzierung der Energiewende, für Bildungseinrichtungen, Aufforstung, Müllentsorgung, Verkehr und anderer wichtiger Infrastrukturprojekte. Sie könnte auch eine gemeinsame neue Säule in der Gesundheitspolitik aufbauen. Die Corona-Pandemie hat plastisch verdeutlicht, welche Bedeutung die Gesundheitspolitik künftig für die Entwicklung der Staaten haben wird. Weiterhin sollte die Assoziation allen Mitgliedern anbieten, den Markt für Agrarprodukte der armen Länder zu öffnen und privilegierte Angebote für den Import von fair gehandelten Gütern machen.

Auch dabei sollte aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt werden: Marktöffnung darf nicht zu Lasten der schwachen Ökonomien gehen. Daher sollte es möglich sein, Marktsegmente für einheimische Industrien durch Schutzzölle zu schützen, wo das für eine nationale Wirtschaftsentwicklung erforderlich ist. Es gibt sogar den Vorschlag, für die "least developed countries" anstelle einer Wirtschaftsförderung ein minimales Grundeinkommen von zwei Dollar pro Kopf täglich zu finanzieren, um Kaufkraft und damit einen Impuls für eine selbstinduzierte Wirtschaftsentwicklung zu generieren.

Noch ein weiterer Punkt sollte bei der Bildung einer solchen Assoziation besser geregelt werden als bei der EU: Es müsste vereinbart werden, was passiert, wenn ein Mitglied der Assoziation die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt. Dann sollte es möglich sein, dass die Mitgliedsrechte durch ein oberstes Gericht suspendiert werden können, damit nicht das passiert, was wir heute in der EU mit Ungarn und Polen erleben.


Die Assoziation als Game Changer

Eine solche Assoziation könnte einen enormen Anreiz auf alle Staaten ausüben, sich selbst zu demokratisieren und zu zivilisieren. Gerade die Eliten, die heute oft die Demokratie untergraben und verhindern, würden einem hohen Druck ausgesetzt sein, Demokratie zuzulassen, um eine wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen und davon zu profitieren.

Gradmesser für diese Initiative sollten die Sustainable Development Goals sein, die im September 2015 von 196 Staaten der UNO unterzeichnet worden sind. Damit haben sich auch alle EU-Staaten zu einem Monitoring entlang dieser Ziele verpflichtet: Armuts-, Hungerbekämpfung, Lebensqualität, Bildung, Gleichberechtigung, Zugang zu Wasser, Energie, Beschäftigung, Infrastruktur, Einkommensunterschiede, Stadtentwicklung, Konsumverhalten, Klimawandel, Artenvielfalt, Gesellschaftlichen Frieden und Zusammenhalt.

Ein solcher Marshall-Plan kann jedoch nur erfolgreich sein, wenn er nicht als wohltätige Veranstaltung gegenüber Dritten, sondern als ein Projekt verstanden wird, das im ureigenen gemeinsamen Interesse Europas und der anderen beteiligten Staaten liegt. Wir brauchen dazu die Einsicht, dass wirtschaftliche Beziehungen dann erfolgreich sind, wenn alle Seiten davon profitieren.

Dabei sollte Europa bewusst eine besondere Beziehung zu Afrika eingehen, wie Achille Mbembe es gefordert hat. Denn die Geschichte der beiden Kontinente bedeutet für uns auch eine besondere Verantwortung. Dies liegt im gegenseitigen Interesse: Wenn wir Afrika helfen, wirtschaftlich auf die Beine zu kommen, dann kommen nicht nur weniger Flüchtlinge, es gibt auch mehr Frieden in der Welt, und letztlich profitieren alle - auch und insbesondere Europa.


Eine Assoziation für den Frieden

Eine solche Assoziation würde auch friedenspolitisch eine enorme Ausstrahlung entfalten. Denn faktisch würde sie durch das Aggressionsverbot einen Friedensraum in der Welt definieren. Dieser funktioniert natürlich doppelt: Einmal wirkt er auf die Mitglieder und die potentiellen Mitglieder ein, da ein Verstoß gegen das Aggressionsverbot zur Suspendierung der Mitgliedschaft führen würde. Das Konzept funktioniert aber auch nach außen. Die Mitgliedschaft in der Assoziation wäre ein attraktives Angebot, wenn ein Land sich vor Aggressionen durch Dritte schützen möchte. Wenn es dann gelänge, einen großen Teil der Demokratien wie Kanada, Japan, Korea - aber auch Indien und andere wichtige Demokratien für die Assoziation zu gewinnen, dann könnte die Assoziation perspektivisch auch die NATO als Sicherheitsbündnis der Demokratien ablösen, selbst wenn die USA der Assoziation nicht beitreten würde.

Eine solche Assoziation würde natürlich auch ein Angebot an die Staaten bedeuten, die heute dabei sind, sich von der Demokratie zu entfernen - wie zum Beispiel Russland oder die Türkei.


Eine neue Fair-Handelsordnung

Die EU beziehungsweise die Assoziation sollten auch eine Initiative ergreifen für eine neue Fair-Handelsordnung.[13] Denn natürlich sollte der globale Marshall-Plan der EU eingebettet sein in ein neues Frei-Handelsmodell, das künftig eher Fair-Handelsmodell heißen sollte. Der Grundgedanke besteht darin, dass künftig Freihandel keine Priorität mehr vor der Einhaltung der Menschenrechte und von internationalen Abkommen haben darf. Anstelle des heute noch weitgehend bedingungslosen Freihandels, der mit der WTO durchgesetzt wurde, sollte ein Modell treten, das freien Handel nur dann gewährt, wenn die beteiligten Staaten bzw. Firmen die internationalen Vereinbarungen zum Schutz der Menschen und der Natur akzeptieren.

Das heißt: Generell gilt freier Handel. Waren aus Ländern, die sich nicht an internationale Standards halten, um sich dadurch Vorteile zu verschaffen, können jedoch mit Strafzöllen belegt werden. Das wäre übrigens auch völlig in der Logik der WTO. Denn Missachtung der Menschenrechte ist Dumping! Kinderarbeit ist Dumping! Missachtung von Umweltschutzstandards, von Klimaschutzvereinbarungen und Meeresschutzabkommen, von Arbeitnehmerrechten usw. ist Dumping! Wer diese internationalen Rechte und Vereinbarungen missachtet, versucht sich damit auf unfaire Weise einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, der zu Sonderzöllen berechtigt. Außerdem sollte es Entwicklungsländern möglich sein, ihre Märkte selektiv und ggf. gemeinsam durch Zölle zu schützen.

Dieses Modell sollte zunächst innerhalb der Assoziation gelten. Ziel sollte aber sein, diese Regeln auch zur Grundlage der WTO zu machen. Mit einem solchen Fair-Handelssystem würden internationaler Handel und Globalisierung nicht mehr Instrumente zur Untergrabung der Standards und zur Durchsetzung der Interessen der Reichen und der internationalen Konzerne auf Kosten der Armen und der Natur sein. Im Gegenteil. Dann könnte die Verbesserung der Lebenssituation in den armen Ländern und eine engere Zusammenarbeit mit Europa eine vielfache Dividende bringen: Die Demokratie wird gestärkt, der Klimawandel wird wirksam bekämpft, Frieden wird belohnt und wirtschaftlich profitieren alle davon - sowohl die beteiligten Länder wie auch Europa.


Demokratisierung der internationalen Ordnung

Natürlich zielt die Idee der Assoziation noch weiter. Es geht langfristig um die Konstituierung der Weltdemokratie. Der logisch nächste Schritt zur Weiterentwicklung der internationalen Ordnung wäre ein Weltparlament.[15] Der interessanteste Vorschlag ist die United Nations Parliamentary Assembly (UNPA) - also eine repräsentative zweite Kammer der UNO - neben der Generalversammlung, die ja eine Staatenkammer darstellt. Diese sollte dann auch in einem Konsensverfahren (wie bei der Regierungswahl in der Schweiz, also kein Mehrheitsverfahren) den Sicherheitsrat der UN wählen.

Um der Angst der Mächtigen vor dem Kontrollverlust und der Angst der Kleinen, untergebuttert zu werden, Rechnung zu tragen, könnte zunächst eine "Binding Triad" gelten.[16] Beschlüsse des Parlaments sollten dann verbindlich sein, wenn diese von 2/3 der Länder unterstützt werden, die mindestens 2/3 der Weltbevölkerung repräsentieren und deren Staaten 2/3 der Beiträge zum UN-Etat zahlen würden. Ein solches Verfahren würde es den USA oder auch China und Russland und vielen anderen Staaten schwerer machen, die Beschlüsse weiterhin zu ignorieren.

Weiter Schritte auf dem Weg der Demokratisierung der internationalen Beziehungen wären dann die Integration der WTO, der OECD und anderer internationaler Organisationen unter dem Dach der UNO, so ähnlich, wie es bereits mit der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds geschehen ist.


Zum Autor: Karl-Martin Hentschel wurde 1950 in Bad Münder in Niedersachsen geboren. Er absolvierte eine dreijährige Offiziersausbildung bei der Bundeswehr und studierte anschließend Mathematik in Kiel. Von 1978 bis 1993 arbeitete er als Datenbankmanager, Systemprogrammierer und Abteilungsleiter für neue Technologien in einem internationalen Konzern in Hamburg. Seit seiner Schulzeit war er politisch aktiv, zunächst in der außerparlamentarischen Opposition, dann bei den Grünen, sowie als Betriebsrat. Von 1996 bis 2009 war er Abgeordneter im Landtag in Schleswig-Holstein und Fraktionsvorsitzender während der rot-grünen Simonis-Regierung. Seitdem veröffentlichte er mehrere Bücher und Aufsätze und hält Vorträge über Demokratie, Steuergerechtigkeit und Klimapolitik. Er ist Mitglied im Bundesvorstand von Mehr Demokratie e. V. und im Vorstand des Netzwerk Steuergerechtigkeit und arbeitet in der AG Finanzen und Steuern für Attac. Die Artikel-Serie "Gedanken zur Zukunft der Demokratie" basiert auf seinem Hauptwerk "Demokratie für morgen" UVK-Verlag 2019), in dem er Vorschläge für die Weiterentwicklung der Demokratie im 21. Jahrhundert darstellt, insbesondere auch den Entwurf einer EU-Verfassung.


Anmerkungen:

[1] Siehe Emmanuel Saez/Gabriel Zucman: Der Triumph der Ungerechtigkeit - Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020

[2] Siehe Bertelsmann Stiftung: BTI Transformationsindex. In https://bti-project.org/de/

[3] Siehe Yuval Harari: Homo Deus - Eine Geschichte von Morgen. Verlag C. H. Beck, München 2017

[4] Siehe Colin Crouch: Postdemokratie. Edition Suhrkamp, Frankfurt 2008

[5] Siehe Zhang Weiwei: The Allure of the Chinese Model. International Herald Tribune, 2.11.2006

[6] Siehe Daniel A. Bell: The China Model - Political Meritocracy and the Limits of Democracy. Princeton University Press, New Jersey 2015

[7] Siehe Parag Khanna: Jenseits von Demokratie - Regieren im Zeitalter des Populismus. Gottlieb Duttweiler Institute, Zürich 2017

[8] Den Begriff "Transformation" benutzen so unterschiedliche Autoren wie Jo Leinen, Elmar Altvater oder auch Hans Joachim Schellnhuber: Manchmal könnte ich schreien. in Zeit-Online, Hamburg am 2.9.2009; Ulrich Beck spricht dagegen von "Metamorphose" in: Die Metamorphose der Welt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017; und Harald Welzer von einem "radikalen Modernisierungsprojekt" in: Es liegt was in der Luft. Futurzwei No. 4/2018

[9] Siehe Pippa Norris: Democracy Deficit - Critical Citizens Revisited. Cambridge University Press, New York 2011

[10] Siehe Jeremy Rifkin: Der Europäische Traum - Die Vision einer leisen Supermacht. Campus Verlag, Frankfurt 2004

[11] https://www.transforming-europe.eu/de/artikel/fuer-einen-europaeischen-buergerkonvent

[12] Siehe Al Gore: Wege zum Gleichgewicht - ein Marshallplan für die Erde. S. Fischer-Verlag, Frankfurt 1992

[13] Siehe Achille Mbembe: Ausgang aus der langen Nacht - Versuch über ein entkolonisiertes Afrika. Suhrkamp, Berlin 2016, Seite 34

[14] Siehe Christian Felber: Ethischer Welthandel - Alternativen zu TTIP, WTO & Co., Deuticke Verlag, Wien 2010; siehe Franz Josef Radermacher: Balance oder Zerstörung - Ökosoziale Marktwirtschaft als Schlüssel zu einer weltweiten nachhaltigen Entwicklung. Ökosoziales Forum, Wien 2002

[15] Siehe Jo Leinen/Andreas Bummel: Das demokratische Weltparlament. Dietz-Verlag, Bonn 2017

[16] Siehe Richard Hudson: Should There Be a Global Parliament? What Is the Binding Triad? Washington 1991 - zitiert nach Jo Leinen/Andreas Bummel (s. Endnote 12)


Vom Autor erschienen:

Karl-Martin Hentschel
Demokratie für morgen
Roadmap zur Rettung der Welt
Mit einem konkreten Entwurf für ein gerechtes Europa
UVK-Verlag
17,99 Euro


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der erste Beitrag des Autors in der Reihe Gedanken zur Zukunft der Demokratie und der EU ist im Schattenblick erschienen unter:
www.schattenblick.de → Infopool → Politik → Meinungen
STANDPUNKT/854: Die "Nichtregierung" - Konkordanzsystem und Direkte Demokratie als Modell für die EU? (Karl-Martin Hentschel)

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Quelle:
© 2020 by Karl-Martin Hentschel
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. August 2020

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