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STANDPUNKT/945: Thüringen - Vom Tabu-Bruch zum Ramelow-Comeback und darüber hinaus (spw)


spw - Ausgabe 1/2020 - Heft 236
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Thüringen: Vom Tabubruch zum Ramelow-Comeback und darüber hinaus

von Klaus Dörre(1)


Zwischen Dänemark und Prag
Liegt ein Land das ich sehr mag
Zwischen Belgien und Budapest
Liegt
Thüringen
Das Land ohne Prominente [...]

Rainald Grebe, Thüringen


Der Schauspieler Rainald Grebe hat ein Problem. Der Text seiner inoffiziellen Landeshymne passt nicht mehr. Dass man Thüringen nur in Thüringen kennt, trifft nicht länger zu. Im Gegenteil, die Thüringer Verhältnisse mischen längst die Bundespolitik auf. Das ist schon so, seit mit Bodo Ramelow ein Mitglied der Linkspartei zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Nun gibt es einen neuen Grund - den Thüringer Tabubruch und seine Folgen. Thomas Kemmerich (FDP) hatte sich mit den Stimmen von AfD, CDU und der eigenen Partei zum Ministerpräsidenten wählen lassen. Sein Entschluss, die Wahl anzunehmen, hielt nur 24 Stunden. Angesichts der empörten Reaktionen und unter dem Druck der Berliner Parteiführung musste er zurücktreten. Vier Wochen später ist Bodo Ramelow zurück im Amt. Er führt ein rot-rot-grünes Minderheitskabinett, das die Regierungsgeschäfte wahrnimmt und Neuwahlen vorbereitet, die im April 2021 stattfinden sollen. Damit ist der "Handschlag der Schande" ("Bild"-Schlagzeile zu einem Foto, das Kemmerich mit dem Gratulanten Höcke zeigt), erst einmal korrigiert. Möglich wurde dies, weil sich die CDU-Fraktion mit einer Ausnahme auch im dritten Wahlgang der Stimme enthielt. Von nun an gilt ein befristeter Stabilitätspakt, der einschließt, dass die Christdemokraten Gesetzesvorhaben von Rot-Rot-Grün (r2g) nicht mit Hilfe der AfD zu Fall bringen. Umgekehrt ist klar, dass die Minderheitsregierung auf eine projektbezogene Kooperation mit der CDU angewiesen bleibt. Ob und wie lange dieser Pakt trägt, ist ungewiss. Ungeachtet dessen stellt sich die Frage, was aus den Thüringer Ereignissen zu lernen ist und wie es politisch weitergeht - nicht nur im Freistaat, sondern in der gesamten Republik.

Ein stabiler antifaschistischer Grundkonsens

Was öffentlich bevorzugt als Chaos oder Wahldebakel dargestellt wird, ist, so meine These, nur das Symptom einer bonapartistischen Demokratie, in der das politische System und seine Akteure überfällige Richtungsentscheidungen verweigern.(2) Die erste dieser Richtungsentscheidungen betrifft den Umgang mit der radikalen Rechten und schließt das Verhältnis der Mitte-Rechts-Parteien zur Linkspartei ein. Im Grunde geht es um die Frage, wie ein zivilgesellschaftlicher Basiskonsens beschaffen sein muss, der demokratische Institutionen und Verfahren künftig zumindest einigermaßen bestandsfest macht. Hier lässt sich die erste Lehre aus den Thüringer Ereignissen ziehen. Sie lautet: In der Zivilgesellschaft gibt es, trotz spektakulärer Wahlerfolge der radikalen Rechten, einen mehrheitlich geteilten antifaschistischen Grundkonsens. Dieser Grundkonsens ist stabil, belastbar und mobilisierungsfähig. Genau das haben die Reaktionen auf Kemmerichs Wahl gezeigt. Kaum war der - formal verfassungsgemäße(3) - Wahlakt vollzogen, brach ein wahrer Sturm der Entrüstung los. Es waren weder Medien noch Berliner Parteizentralen, die den Orkan entfachten. Ausgelöst wurde er von der großen Mehrheit all jener, die seitens der radikalen Rechten gerne als "das Volk" vereinnahmt werden. Wer öffentlich gegen Kemmerichs Wahl protestierte und dessen sofortigen Rücktritt verlangte, bekam Zuspruch von den vielbeschworenen "normalen Bürger*innen" - am Bahnhof, in Zügen, beim Einkaufen und im Büro. Die gesellschaftliche Linke hat mit ihren Positionen erstmals wieder Oberwasser in den Alltagsdiskussionen, das war lange Zeit nicht mehr der Fall.

Dass der zivilgesellschaftliche Antifaschismus sich als derart stabil erwiesen hat, ist bemerkenswert. De jure ist eine solche Grundhaltung in der Verfassung festgeschrieben. Laut Artikel 139 GG gelten im Bundesgebiet noch immer die zwecks Entnazifizierung seitens der Alliierten erlassenen Rechtsvorschriften zur "Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus". Das heißt NS-Ideologie, Faschismus und Militarismus stehen außerhalb des Verfassungsbogens.(4) Was die radikale Rechte gern als Ausdruck von Fremdbestimmung wertet, war zunächst ein Geschenk der Alliierten an die (west)deutsche Demokratie. Anfangs primär eine Rechtsnorm, hat dieser Grundkonsens die demokratische Zivilgesellschaft der alten Bundesrepublik stark geprägt. Das ist nicht im Selbstlauf geschehen, denn vor allem im Westen konnten Ex-Nazis bis in hohe Staatsämter gelangen. Der Adenauer-Vertraute Hans Josef Maria Globke, Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassengesetze, ist nur ein prominentes Beispiel. Daran, dass aus der Rechtsnorm eine mehrheitsfähige zivilgesellschaftliche Grundhaltung geworden ist, hatten die 1968er-Bewegungen einen maßgeblichen Anteil. In der ehemaligen DDR war der Antifaschismus ebenfalls kein ausschließlich verordneter. Deshalb begegnen große Bevölkerungsteile der radikalen Rechten im Osten weiterhin mit klarer Ablehnung.

Rechtsverschiebung misslungen

Nur weil das so ist, folgte dem Dammbruch von Erfurt keine Überflutung des demokratischen Hinterlandes. Der radikalen Rechten, das ist die zweite Erkenntnis, misslingt der Versuch, sich als "normale" politische Kraft zu etablieren. Führen wir uns noch einmal vor Augen, was den Tabubruch von Erfurt eigentlich ausmacht. Lange Zeit beinhaltete der antifaschistische Grundkonsens in der Bundesrepublik, dass Parteien, die sich nicht glaubwürdig vom NS distanzierten, keine Chance hatten, politische Mehrheits- oder gar Regierungsbildungen zu beeinflussen. Auf nationaler Ebene blieb ihnen - gleich ob NPD, DVU oder Republikaner - der Einzug ins Parlament verwehrt. Das hat sich mit der AfD geändert. Im Zuge der Kemmerich-Wahl sollte nun, so jedenfalls das Kalkül auch in Teilen von FDP und CDU, der nächste Akt vollzogen werden. Wäre es bei einem Ministerpräsidenten von Höckes Gnaden geblieben, hätte sich die AfD fortan als Partei der bürgerlichen Mitte präsentieren dürfen.(5) FDP und CDU waren offenbar zur Wahlallianz mit einer politischen Kraft bereit, deren Spitzenmann gerichtsfest als Faschist bezeichnet werden darf. Weder die Dresdener Rede Höckes zum Holocaust-Mahnmal als angeblichem "Denkmal der Schande", noch der Geschichtsrelativismus eines Alexander Gauland, der den NS als "Vogelschiss" der deutschen Geschichte bezeichnet hatte, wären fortan ein Hinderungsgrund für eine Mitte-Platzierung. De facto liefe das darauf hinaus, die antifaschistische Essenz des Artikels 139 GG, zu eliminieren. Regierungsbildungen unter Einschluss der AfD wären die logische Folge. Das Interregnum im politischen System würde aufgelöst, indem man die radikale Rechte hoffähig macht und ihr indirekt Definitionsmacht für den neuen Grundkonsens einer "Erfurter Republik" überantwortet. Beruhigend ist, dass so viele dieses Manöver sofort durchschaut haben. Ein Aufstand der demokratischen Zivilgesellschaft war die Folge.

Ein kalkulierter Tabubruch

Der Versuch, die Kooperation mit der radikalen Rechten salonfähig zu machen, kam keineswegs überraschend und man fragt sich, weshalb die r2g-Parteien auf diese Möglichkeit strategisch so wenig vorbereitet waren. Wer es genau wissen wollte, hätte nur Politiker*innen aus der zweiten Reihe von FDP und CDU zuhören müssen. "Was können wir dafür, wenn die AfD unseren Kandidaten wählt", lautet der Standardsatz, mit der Liberale und Konservative die M-Frage zu beantworten pflegten. Weil derartige Haltungen unkommentiert blieben, mögen die Parteispitzen von FDP und CDU in Thüringen wie in Berlin zu der Annahme verleitet haben, man werde mit Wahl eines bürgerlichen Kandidaten im Meinungs- und Medienspektrum der Republik durchkommen.

Dass Kemmerich mit Hilfe der AfD Ministerpräsident werden könnte, war allen handelnden Akteuren klar. Höcke hatte Liberalen und Konservativen bereits im November 2019 angeboten, eine schwarz-gelbe Minderheitsregierung zu tolerieren. Umgekehrt hat die FDP auf kommunaler Ebene schon häufig AfD-Anträge aus "sachlichen Gründen" unterstützt. Ähnliches gilt für jenen Teil der CDU, der Allianzen lieber mit der AfD als mit der Linkspartei eingehen würde. Auch inhaltlich hatten sich im Wahlkampf manche Schnittmengen zwischen AfD, FDP und CDU abgezeichnet. Polemik gegen angebliche Klimahysterie, die Rettung des Thüringer Waldes vor Windrädern, Vorbehalte gegen Energie- und Verkehrswende, Migrationskritik und Steuerbefreiung für Unternehmen statt Industriepolitik lauteten einige der Stichworte, in denen sich eine mögliche schwarz-gelb-blaubraune Allianz bereits andeutete. Dazu passt, dass FDP-Chef Kemmerich seinen Bundesvorsitzenden Lindner noch vor der Wahl öffentlich vor einem "Rückfall" in den Sozialliberalismus vergangener Zeiten warnte.

Aus all diesen Gründen hätte man nicht überrascht sein müssen, als Kemmerich seiner Wahl ohne eine Sekunde des Zögerns zustimmte. Der Tabubruch ist - vorerst - rückgängig gemacht. Doch er kann, das ist die dritte Lehre aus den Thüringer Ereignissen, wiedergeschehen. Die Kräfte, die ihn begangen haben, sind weiter aktiv. Deshalb benötigt nicht nur Thüringen eine klare Richtungsentscheidung.

Laut aktueller Wahlumfragen könnten r2g derzeit mit einer satten Mehrheit rechnen. Landes-CDU und Landes-FDP hätten rasche Neuwahlen hingegen fürchten müssen wie der Teufel das Weihwasser. Die Christdemokraten würden im zweistelligen Bereich Stimmen verlieren, die Liberalen fänden sich in der außerparlamentarischen Opposition wieder. Die Angst vor einem Wahldesaster dürfte letztendlich bei der CDU den Ausschlag gegeben haben, für einen befristeten Zeitraum die Rolle der konstruktiven Opposition zu übernehmen und Bodo Ramelow die Rückkehr ins Amt zu ermöglichen.

Der neue CDU-Fraktionsvorsitzende Voigt verkauft diese Entscheidung als einen Akt wiedergewonnener staatspolitischer Vernunft. Blickt man auf die Wochen, die zwischen der Wahl Kemmerichs und dem Comeback Ramelows lagen, bleiben Zweifel. Thüringens CDU irrlichterte zeitweilig durch den politischen Raum, als sei ihr jegliche Orientierung abhandengekommen. In den Abgrenzungsbeschlüssen der Bundespartei gefangen und von der Furcht vor einem Zwölf-Prozent-Ergebnis bei Neuwahlen getrieben, konnte sie sich nicht einmal dazu durchringen, die Ex-Ministerpräsidentin und CDU-Politikerin Christine Lieberknecht zur Chefin einer Übergangsregierung zu machen. Ein Angebot, das die CDU nach Ansicht des FAZ-Herausgebers Jasper von Altenbockum "nicht ausschlagen" konnte, "es sei denn, sie will den Rest an Glaubwürdigkeit, der ihr geblieben ist, auch noch verlieren"(6), wurde mit einem unseriösen Gegenvorschlag abgelehnt. Statt die Gleichsetzung von AfD und Linkspartei aufzugeben, setzten CDU und FDP alles daran, die Wirklichkeit ihrer realitätsfernen Hufeisentheorie anpassen zu wollen.

Vor dem Ende der Hufeisentheorie

Glaubwürdigkeit, das ist die vierte Erkenntnis aus den Thüringer Ereignissen, verlangt den Abschied von eben dieser Hufeisentheorie, die den Demokraten Ramelow und den völkischen Rechten Höcke auf eine Stufe stellt. Solche Gleichsetzungen werden in weiten Teilen der demokratischen Zivilgesellschaft abgelehnt. Nur deshalb konnte ein Orkan losbrechen, der Kemmerich zum Rücktritt zwang, anschließend auch die CDU-Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer, den Ostbeauftragten der Bundesregierung Hirte und schließlich den CDU-Landeschef und Fraktionsvorsitzenden Mike Mohring aus ihren Ämtern fegte. Die Erfurter Demonstration der 18.000, die zehn Tage nach der Kemmerich Wahl stattfand, vermittelte einen Eindruck von der Breite und Vielfalt des Protests. Von kirchlichen Würdenträgern bis zu einem starken Gewerkschaftsblock,(7) von NGOs und Campact bis zu den Omas gegen rechts, von Antifa-Initiativen bis zu den Mitte-Linksparteien war ein Spektrum vertreten, das sich nicht alle Tage zu gemeinsamen Aktionen zusammenfindet. Schon unmittelbar nach dem Wahleklat war es in zahlreichen Städten - darunter Jena, Erfurt, Berlin und Frankfurt - zu Demonstrationen gekommen. Selbst im fernen Saarland gab es Protest auf der Straße. In Jenas Universität hatten hunderte Teilnehmer*innen einer Vollversammlung den Rücktritt Kemmerichs und sofortige Neuwahlen verlangt und einen entsprechenden Aufruf unterstützt. An einer spontanen Protestdemonstration beteiligte sich auch der Präsident der FSU Walter Rosenthal.

Stärker noch als diese Demonstrationen dürfte FDP und CDU beeindruckt haben, was ihnen aus der Wirtschaft entgegenschallte. Ein Beispiel: "Während wir für unsere Thüringer Unternehmen und Institutionen auf der Optikmesse Photonics West in San Francisco tätig sind, haben wir von der Wahl Thomas Kemmerichs zum Thüringer Ministerpräsidenten erfahren. Diese Wahl war offenkundig nur mit Unterstützung einer rechtsextremen Partei möglich, deren Positionen von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit geprägt sind. Wir akzeptieren nicht, dass diese Positionen einen entscheidenden Einfluss auf die Thüringer Landespolitik nehmen. Um weiteren Schaden von unserem Bundesland und der Thüringer Wirtschaft abzuwenden, fordern wir Thomas Kemmerich zum Rücktritt vom Amt des Thüringer Ministerpräsidenten auf. Wir bitten die Thüringer Landesverbände von Die Linke, CDU, SPD, B90/Grüne und FDP zu einem Konsens zu finden, der auf demokratischen Werten, wirtschaftlicher und sozialer Verantwortung und ökologischer Vernunft beruht."(8) Den noch am 5. Februar verfassten Text unterzeichneten führende Thüringer Industrievertreter. Ihnen folgten ähnliche Statements von Spitzenmanagern und Verbandsvertretern aus der gesamten Republik.

Die Proteste aus der Wirtschaft dürften die CDU-Spitze ins Mark getroffen haben. Im Land des Exportweltmeisters ist es schlicht geschäftsschädigend, wenn die radikale Rechte Ministerpräsidenten mitwählt. Dies vor Augen, wird der Abschied von der Hufeisentheorie für die CDU/CSU zu einer Grundsatzfrage, die ihren Volkspartei-Charakter berührt. Dabei geht es allerdings nicht allein um die Berücksichtigung von Wirtschaftsinteressen. Von italienischen Marxist*innen hätte man in früheren Zeiten lernen können, beim Kampf um Hegemonie Entwicklungen in den Kirchen größte Aufmerksamkeit zu widmen.(9) Hier sei nur angedeutet, was einer genaueren Analyse wert wäre. Papst Franziskus hat sich in der sozialen und der ökologischen Frage inhaltlich sehr klar und geradezu radikal positioniert. In der evangelischen Kirche spielen soziale Gerechtigkeit und ökologisch inspirierte Wachstumskritik ebenfalls eine gewichtige Rolle. Wenn etwa der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa auf Kirchentagen als Superstar gefeiert wird, ist das ein Zeichen für tiefgreifende Veränderungen in einem Spektrum, das einst das natürliche Rekrutierungsfeld für Christ- und teilweise auch für Sozialdemokraten war. Angela Merkel hat dies mit ihrem pragmatischen Machtkalkül und ihrem Instinkt für Verschiebungen in der politischen Mitte klar erkannt. Sie hat die CDU ansatzweise für diese Veränderungen geöffnet. Hinter diese Öffnung für zivilgesellschaftliche Vielfalt kann auch ein Friedrich Merz nur zurück, wenn er den Volkspartei-Charakter der CDU aufs Spiel setzt. Die Christdemokratie wird Zeit benötigen, um diese Grundsatzfrage zu klären. Das kann sie am besten in der Opposition - in Thüringen genauso wie im Bund. Der Abschied vom Hufeisen wird erfolgen - fragt sich nur, ob nach links oder nach rechts.

Die AfD - aus dem Spiel

Damit sind wir bei einer weiteren Erkenntnis. In Thüringen hat sich wie unter einem Brennglas gezeigt, was auch auf nationaler Ebene notwendig ist. Das politische Interregnum im Land muss beendet werden. Wir benötigen klare Richtungsentscheidungen. In diesem Zusammenhang ist alles andere als unwichtig, dass die AfD von der politischen Polarisierung im Land nicht profitieren kann. Deshalb mögen die Vordenker der radikalen Rechten Höcke für sein taktisches Geschick loben,(10) insgeheim wird ihnen die Tatsache, dass die Thüringer AfD in Umfragen bei etwa 25 Prozent verharrt, durchaus Kopfschmerzen bereiten. Es scheint als habe die Partei ihr Potential ausgeschöpft. In bundesweiten Umfragen verliert sie an Zustimmung; in Hamburg hat sie den Einzug ins Parlament nur äußerst knapp geschafft. Bleiben spektakuläre Wahlerfolge aus, wird das die Fraktionskämpfe im rechtsradikalen sozialen Block anheizen. Schon zeichnen sich erste Konfliktlinien ab. Die Werteunion, Sympathisantenverein der AfD in der CDU, macht Höcke für das Scheitern einer rechtsnationalen Koalition in Thüringen verantwortlich. Umgekehrt giftet das Höcke-Lager gegen die ehemaligen Merkelanhänger*innen in der Werteunion. Das taktische Hin und Her zwischen Sozialpopulismus und radikalem Wirtschaftsliberalismus wird ebenfalls nicht zur inneren Stabilisierung des Rechtsaußen-Lagers beitragen. Protestwähler*innen werden registrieren, dass ihre Wut auf die Etablierten verpufft, weil die AfD politisch nichts erreicht. In den Auseinandersetzungen, die auf den Tabubruch folgten, hat die AfD mit ihren taktischen Manövern keine Rolle gespielt. Stattdessen hat ein gesellschaftlicher Klärungsprozess über das Wesen und den Gehalt von Demokratie eingesetzt. Kurzum: Die AfD ist politisch aus dem Spiel.

Von Thüringen zu neuen Mehrheiten im Bund?

Damit das so bleibt, benötigen wir im Osten wie im Westen eine Auseinandersetzung über die großen Zukunftsfragen der Gesellschaft, die unter und zwischen Demokraten ausgetragen wird. In Thüringen sollte r2g aus der Minderheitsregierung daher nicht mehr machen als sie ist. Diese Regierung hat dringende Regierungsgeschäfte wahrzunehmen und Neuwahlen vorzubereiten. Da von der CDU abhängig, sind ihrem Entscheidungsspielraum enge Grenzen gesetzt. Einen Linksruck wird man von einer solche Regierung wahrlich nicht erwarten können. Immerhin ist ein Jahr Zeit gewonnen, das es ermöglicht, mit attraktiven Zukunftsprojekten und klarem Profil in die nächste Wahl zu gehen. Wo die politischen Konfliktlinien verlaufen, habe ich in einem früheren Artikel angedeutet.(11) Thüringen braucht, was die gesamte Republik benötigt - einen sozial ausgewogenen Green New Deal, der sich an Nachhaltigkeitszielen orientiert. Auf der Grundlage eines entsprechenden Programms hätten die r2g-Parteien große Chancen, als Sieger aus Neuwahlen hervorzugehen. Gelänge dies, könnte der Türöffner für einen Weg gefunden sein, der schließlich auch zum Ende der Berliner GroKo führen wird. Das Interregnum, das Bonapartistische Demokratien auszeichnet, lässt sich überwinden, sobald klare politische Alternativen zur Abstimmung stehen. Deshalb geht es in Thüringen um sehr viel mehr als "nur" um einen klugen und beliebten Ministerpräsidenten Ramelow. Es geht um neue Mehrheiten und um eine Richtungsentscheidungen auch im Bund.

In der Emilia Romagna hat die Sardinen-Bewegung vorgemacht, wie ein sicher geglaubter Wahlsieg der äußersten Rechten zu stoppen ist. Wird der Schwung, der vom Aufstand der demokratischen Zivilgesellschaft ausgeht, genutzt, muss es in der Bundesrepublik erst gar nicht so weit kommen. Je erfolgreicher es gelingt, die bloße Ablehnung eines "Pakts mit Faschist*innen" in einen positiven Konsens zugunsten dringend notwendiger sozialökologischer Transformationsprojekte zu übersetzen, desto besser ist das für die Zukunft der Gesellschaft und der Demokratie. Die Gelegenheit, Kräfteverhältnisse grundlegend zu verändern, ist da. Viele, die gegen den "Handschlag der Schande" opponiert haben, wollen nicht zurück zum alten Status quo. Sie wollen, dass sich im Verhältnis von Bürger*innen und Politik etwas ändert. Und zwar etwas Grundlegendes. Sie wollen teilhaben an wichtigen Zukunftsentscheidungen. Sie wollen ernst genommen werden, sichtbar sein, Gehör finden. Das kann der Ausgangspunkt sein, um die gesamte Republik zu verändern. Strategische Klugheit und politisches Wollen entscheiden darüber, ob es einem emanzipatorisch-linken Mosaik gelingt, diese Chance zu nutzen. Käme es dazu, wäre Thüringen fortan ein Land, das alle kennen - nicht nur aufgrund seiner Prominenten, sondern wegen der vielen, die sich am 5. Februar 2020 auf den Weg gemacht haben, um der Demokratie eine Zukunft zu sichern.

PS: Ach ja, da wäre noch die FDP. Einen klugen politischen Liberalismus könnte die Republik gut gebrauchen. Intellektuelle wie Lisa Herzog(12) haben bereits vorgedacht, was darunter zu verstehen ist. Von einer solchen politischen Philosophie sind die real existierenden Liberalen indes meilenweit entfernt. Kaum zu glauben, dass die FDP einmal die Partei des großen liberalen Soziologen Ralf Dahrendorf war. Die heutige FDP benötigt kein Rezo-Video, um sich selbst zu zerstören. Das besorgt sie schon aus eigener Kraft. An der neuerlichen Wahl eines Ministerpräsidenten haben die Thüringer FDP-Abgeordneten erst gar nicht teilgenommen. Damit haben sie unfreiwillig signalisiert, welche Bedeutung ihre Partei künftig haben wird. Sie ist - überflüssig!

Pps: Kaum war der neue Damm gegen die radikale Rechte errichtet, verkündete Bodo Ramelow, er habe einen AfD-Abgeordneten in das Präsidium des Landtags gewählt. Das geschah ohne Not und wird von vielen, die sich engagiert haben als Schlag ins Gesicht empfunden. Viele derartige Fehler darf sich ein linker Ministerpräsident nicht erlauben, sonst könnte seinem Aufstieg alsbald ein tiefer Fall folgen.


Anmerkungen

(1) Dr. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitherausgeber der spw.

(2) Siehe: Klaus Dörre (2019): Bonapartismus von links - die Bedeutung der Thüringenwahl für progressive Politik, in: spw 6/2019, S. 12-16.

(3) Die Putsch-Rhetorik, wie sie gelegentlich zu hören war, halte ich für Unfug. Der Wahlakt entsprach demokratischen Regeln.

(4) Siehe: Wolfgang Abendroth (1966): Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme. Pfullingen: Verlag Günther Neske. Siehe auch: Dian Schefold: Das Grundgesetz - von links gesehen, in: Die Zeit vom 28.10.1966.

(5) Die intellektuellen Stichwortgeber der radikalen Rechten setzen indes alles daran, eben diese politische Mitte als "Verschiebemasse ohne eigene Standfestigkeit" zu desavouieren. Siehe Benedikt Kaiser (2020): Notizen zur Wahl in Thüringen (2). In:
https://sezession.de//62128/notizen-zur-wahl-in-thüringen-2.

(6) Jasper von Altenbockum: Ramelows unwiderstehliches Angebot, in: Frankfurter Allgemeine vom 18.02.2020.

(7) Besonders auffällig waren die Fahnen vieler Mitglieder der IG BCE!

(8) Als Erstunterzeichner werden namentlich genannt: Stefan Jakobs, Torsten Poßner, Thomas Bauer. Den Hinweis verdanke ich meinem Kollegen, dem Physik-Professor Gerhard-Paulus.

(9) Dazu lesenswert: Lucio Magri (2014): Der Schneider von Ulm. Berlin: Argument-Verlag.

(10) Götz Kubitschek (2020): Höckes Schachzug - drei Anmerkungen, in:
https://sezession.de62123/hoeckes-schachzug-drei-Anmerkungen.

(11) Siehe Fußnote eins sowie: Antje Blöcker/Klaus Dörre/Madeleine Holzschuh (Hrsg.) (2020): Auto- und Zulieferindustrie in der Transformation. Berlin: Stiftung Neue Länder.
https://www.otto-brenner-stiftung.de/stiftung-neue-laender-snl/

(12) Lisa Herzog (2019): Konkrete Demokratie wagen, in: Was stimmt nicht mit der Demokratie? Eine Debatte mit Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa, hrsg. Von Hanna Ketterer und Karina Becker, Berlin: Suhrkamp, S. 196-202.

*

Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2020, Heft 236, Seite 49-54
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. April 2020

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