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STANDPUNKT/922: Anhaltender Erfolgsgesang - Von der Debatte zum Mauerfall zu der um 30 Jahre Einheit (spw)


spw - Ausgabe 6/2019 - Heft 235
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Anhaltender Erfolgsgesang
Von der Debatte zum Mauerfall zu der um 30 Jahre Einheit

von Daniela Dahn


Von einem Paradigmenwechsel war die Rede. Dass es in den großen Medien und auf Podien und Bühnen etwas mehr Bereitschaft gab, Ostdeutsche zu Wort kommen zu lassen und ihnen auch zuzuhören, lag vor allem an dem beunruhigenden Rechtsruck, der Europa, Deutschland und noch eklatanter Ostdeutschland befallen hat. Musste erst die AfD kommen um zu begreifen, dass der Frust an der Basis etwas mit den falschen Weichenstellungen der deutschen (und später nach gleichem Muster laufenden europäischen) Einigung zu tun hat?

Östliche Kritiker von links sind lange als Nostalgiker oder Altlast ausgegrenzt und lächerlich gemacht worden. Aber auch westlichen Warnern ist von Anfang an nicht zugehört worden. Im Dezember 1989 hatten drei Dutzend Autoritäten, darunter Heinrich Alberts, Inge Aicher-Scholl, Ossip K. Flechtheim oder Dorothee Sölle gemahnt: "Nicht nur Euer Land, Ost und West stecken in einer tiefen Krise." Kohls Plan der Wiedervereinigung zu westdeutschen Bedingungen würde den Demokratisierungsdruck auf beiden Seiten verschütten. Im selben Monat veröffentlichte die Frankfurter Rundschau die "Erklärung der Hundert": Diese Großmannspolitik werde "die Wiedervereinigung in einem Scherbenhaufen enden lassen und den Aufbau des Europäischen Hauses gefährden".

Der österreichische Futurologe Robert Jungk flehte geradezu: "Lassen Sie sich um Gottes Willen nicht von den Konzepten kapitalistischer Staaten verführen. Wenn bei uns weiter in der bisherigen Art regiert und produziert wird, stehen unvermeidlich schwere, nicht wieder gut zu machende Krisen ins Haus." Diese Krisen sind inzwischen unser ständiger Begleiter. Einen "Nationalismus der Deklassierten" in Ostdeutschland hat Oskar Negt schon 1994 vorausgesagt. Es sei auf die Dauer unmöglich, dass große Teile einer Bevölkerung in Entwertungszuständen und dem Gefühl der Demütigung ruhig bleiben. Irgendwann werde eine "explosive Rebellion" kommen. Wo war dafür Platz? Rechtsaußen.

Nach Berechnungen von Wirtschaftsexperten habe die Vereinigung zwei Billionen Euro gekostet, so die FAZ am 30.09.2015. Aber es habe dazu keine Alternative gegeben und sich überdies durch das zweiten Deutsche Wirtschaftswunder im Osten gelohnt. Dabei kann Ostdeutschland den eigenen Verbrauch bis heute bei weitem nicht selbst erwirtschaften, muss also noch auf unabsehbare Zeit alimentiert werden. Auch weil hier nur verlängerte Werkbänke für die großen Konzerne im Westen übrig geblieben sind. Das passt genauso wenig zu einem Wunder wie der Umstand, dass die Bundesrepublik einer der größten Niedriglohnsektoren Westeuropas ist - Ostdeutschland mit Abstand der größte. Solche wunderbaren Beschönigungen sind zwischenzeitlich seltener geworden, zumal die Transfers weitgehend über Kredite bezahlt wurden, die längst nicht abgezahlt sind. Sie gingen in die Staatsschuld ein, die künftigen Generationen am Hals hängen. Aber auch uns Heutigen, in Form der schwarzen Null.

Verfestigt hat sich dennoch ein wohlbeabsichtigtes Bild, wonach gleich nach dem sogenannten Mauerfall die Massen zu schneller Einheit drängten, verbunden mit dem Wunsch nach bedingungsloser Übernahme der westlichen Ordnung. Doch obwohl Ende November 1989 die meisten DDR-Bürger die Erfahrung hinter sich hatten, wie es ist, mit Begrüßungsgeld durch westliche Konsumtempel zu schreiten, entschieden sich damals 86 Prozent für "den Weg eines besseren, reformierten Sozialismus", nur fünf Prozent wollten einen "kapitalistischen Weg", neun Prozent einen "anderen Weg" gehen.(1) Die Rolle von Fake News, Medien und überzogenen Versprechen westlicher Politiker als Stimmungsmacher in den Wochen bis zu den Wahlen im März 1990 ist noch nicht untersucht.

Ja, es gab einen Paradigmenwechsel in der Debatte, aber vorsichtig und halbherzig. Besonders zum Jahrestag selbst hatten sich dann wieder die Erfolgsgesänge durchgesetzt, wie man es von Jubiläen kennt. Das ging oft an der Stimmung an der Basis vorbei. Allzu grundsätzliche Fragen, wie die, ob es nicht doch Alternativen gab, wurden eher nicht gestellt. Das ist nun auch Schnee von gestern. Dennoch wäre es wünschenswert, wenn sich die 2020 ins Haus stehende Debatte einiger der unerfüllten Forderungen der als "friedliche Revolution" beginnenden und als Restauration des Neoliberalismus endenden Wende erinnern würde. Schon weil wir weiterhin ständig an Scheidewegen stehen, sollte aus Gründen des nachholenden Dazulernens daran erinnert werden, welche Weichen damals falsch gestellt wurden.

Was im Osten überdrüssig und übermütig mit revolutionären Ansätzen begonnen hatte, wurde im Westen gekontert mit dem Wechsel auf eine Zukunft, die den über die Freiheit des Konsums hinausgehenden Erwartungen oft nicht standhielt. Sieht man sich heute die programmatischen Gründungsdokumente der damaligen Bürgerbewegungen, oppositionellen Gruppen, Runden Tische, neuen Parteien und die kirchlichen Stellungnahmen an, so erhebt das Unerfüllte immer noch Anspruch. Den dringlichen Forderungen nach Reise- und Meinungsfreiheit, nach einem Ende von Bevormundung und Privilegien der Funktionäre kann man, soweit das für Habenichtse möglich ist, mit der Einheit den Status: erfüllt zubilligen.

Das ist keinesfalls gering zu schätzen. Es war aber, angesichts der fehlenden Chancengleichheit und des Beharrens auf herkömmlichen Demokratieformen im beizutretenden Gebiet, nicht eben revolutionär.

Als oberstes Ziel aller Entwürfe wurde immer wieder ein "solidarisches Gemeinwesen" gewünscht. Das hat zweifellos den Status: nicht erfüllt. Auch die damaligen Vorstellungen über den Charakter von Freiheit lassen sich heute kaum als erfüllt betrachten. Die von der Schriftstellerin Christa Wolf formulierte Präambel des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches drückte die Überzeugung aus, "dass die Möglichkeit zu selbstbestimmtem verantwortlichen Handeln höchste Freiheit ist".

Selbstbestimmung wird ohne eine angemessene Arbeit und Vergütung schwierig. Und die Mittel für verantwortungsvolle Teilhabe am politischen Geschehen werden bekanntlich mehrheitlich als so mangelhaft empfunden, dass von Fassadendemokratie und notwendiger Selbstermächtigung die Rede ist. Von "höchster Freiheit" wird also kaum jemand reden wollen. Reduziert man die Forderung auf die dennoch wichtige Vergrößerung der bisherigen Spielräume persönlicher Freiheit, so lässt sich mit Genugtuung mehrheitlich bilanzieren - Status: erfüllt.

Revolutionär wurden die damaligen Forderungen auch dadurch, dass etwa vom Neuen Forum neben Verbesserungen im eigenen Leben auch die Belange des ganzen Landes und der Menschheit bedacht wurden. Zwar wünschte man sich ein vielfältigeres Warenangebot, man sah aber auch die ökologischen Kosten und plädierte für eine "Abkehr von ungehemmtem Wachstum". Demokratie Jetzt forderte, der Sozialismus dürfe "nicht verloren gehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht". Doch alle systemrelevanten Veränderungen bekamen geradezu automatisch den Status: abgelehnt.

Im Demokratischen Aufbruch verlangten wir, dass Sozialismus und Demokratie miteinander versöhnt werden sollten. Die Demokratisierung dürfe auch vor der Wirtschaft nicht Halt machen. Die neu gegründete DDRSPD verlangte, die Marktwirtschaft mit einem "strikten Monopolverbot zur Verhinderung undemokratischer Konzentration ökonomischer Macht" zu belegen. Status: abgelehnt.

Entschädigte Enteignungen zugunsten des Allgemeinwohls sollten möglich sein, die Privatisierung von Gemeineigentum aber streng reglementiert werden. Der überragenden Bedeutung einer sicheren Wohnung für ein menschenwürdiges Leben war besonderes Gewicht beizumessen. Status: In der Diskussion.

Artikel 32. des. Verfassungsentwurfs. sah. vor: "Das Eigentum und die Nutzung von land- und fortwirtschaftlichen Flächen, die einhundert Hektar übersteigen, ist genossenschaftlichen und öffentlichen Einrichtungen und den Kirchen vorbehalten." Über das Privateigentum hinaus ging es um die "Pluralisierung der Eigentumsformen". Wobei das gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln vorherrschend sein sollte (Böhlener Plattform). "Wir wenden uns entschieden dagegen, dass politbürokratische Unterdrückung durch kapitalistische Ausbeutung ersetzt wird." Status: Abgelehnt.

Wertsteigerungen von Boden durch Umwandlung in Bauland stehen den Kommunen zu. Status: Ansätze von Diskussion.

Gefordert wurden politische Verhältnisse, die die Bürger kontrollieren, durchschauen und verändern können. Direkte Demokratie sollte gefördert, der Einfluss von Betriebs- und Bürgerräten erhöht, Volksentscheide, bei Zugang aller zur Öffentlichkeit, ermöglicht werden. Die Akten der Geheimdienste sollten auf beiden Seiten geöffnet werden. Status: unerfüllt und abgelehnt.

Alle Bürgerrechtsgruppen bestanden auf drastischer Senkung der Militärausgaben, auf friedlicher Konfliktlösung, auf dem Konzept der strukturellen Angriffsunfähigkeit und dem Wachstum der Konversionsindustrie Losung: Raketenschlepper zu Straßenkränen. Status: bedrohlich verschlimmert.

Die weltweiten Militärausgaben haben sich seit Wegfall des einstigen Hauptfeindes Warschauer Pakt um 80 Prozent erhöht.

Immer wieder ging es darum, "Bewährtes zu erhalten" (Bund der Evangelischen Kirchen) und neue Wege zu einer partizipatorischen Gesellschaft zu suchen. Auch die Kirche stehe vor dem Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Das Leben erfülle sich nicht im Besitz, "sondern in dem, was ich für andere bin". Niemand habe gegenwärtig die Lösung. Status: unverändert.

Was anfangs den Euphemismus "Revolution" verdiente, war der ansatzweise Wandel zu einer Demokratie, die auch den zentralen Machtbereich öffentlicher Kontrolle unterworfen hatte, die den Bürgern mehr Möglichkeiten des Mitdenkens und Mitentwerfens bot als die meisten der bisher praktizierten Regierungsformen. "Das könnte ein Modell für die Welt werden", schwärmte Jungk. Dreißig Jahre nach dem Niedergang des Realsozialismus steht die Welt ohne jedes durchsetzungsfähige Modell da.

Den krassesten Befund zum Jahrestag bot wohl die jüngste Umfrage unter Ostdeutschen, mit der Die Zeit am 2. Oktober ihr Titelblatt schmückte: "Die staatliche Willkür in der DDR war auch nicht schlimmer als heute." Dieses Lebensgefühl bestätigte auch ein noch verstörenderes Urteil: Drei Viertel der befragten Ostdeutschen fühlen sich heute nicht wohler als zu DDR-Zeiten.

Für zwei Billionen so viel Unbehagen? Wenn das kein Scherbenhaufen ist. Vor allem für all die Geschichtsbilder, die seither gezimmert wurden. Wie viele waren wir wirklich, die immer in einer Demokratie leben wollten, aber nie im Kapitalismus? Die Frage ist nach wie vor offen.


Anmerkung:
(1) DDR zwischen Wende und Wahl. Meinungsforscher analysieren den Umbruch, hrsg. von Peter Förster und Günter Roski, Berlin 1990, S. 54.


Autorin:
Die Schriftstellerin Daniela Dahn war 1989 Gründungsmitglied des "Demokratischen Aufbruchs" und ist stellvertretende Vorsitzende des Willy-Brandt-Kreis e. V. Sie hat in mehreren kritischen Büchern den Weg der Einheit begleitet oder die westliche Demokratie, wie in: "Wir sind der Staat. Warum Volk sein nicht genügt".

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2019, Heft 235, Seite 5-8
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2020

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