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STANDPUNKT/731: Was zum Kuckuck? (Uri Avnery)


Was zum Kuckuck?

von Uri Avnery, 10. Februar 2018


WAS ZUM Kuckuck bin ich? - Ein Israeli? Ein Jude? Ein Friedensaktivist? Ein Journalist? Ein Autor? Ein ehemaliger Soldat in der israelischen Armee? Ein Ex-Terrorist? Ein ...

Alles von diesen und mehr.

Okay, okay. Aber in welcher Reihenfolge? Welcher Aspekt ist der wichtigste?

Zu allererst natürlich bin ich ein menschliches Wesen mit all den Rechten und Pflichten eines menschlichen Wesens. Dieser Teil ist leicht. Wenigstens in der Theorie.

Dann bin ich ein Israeli - dann ein Jude. Und so weiter.


EIN AUSTRALIER englischer Herkunft hätte kein Problem, solch eine Frage zu beantworten. Er ist zuerst und vor allem ein Australier und dann ein Angelsachse. In zwei Weltkriegen eilte er - praktisch grundlos - Großbritannien zu Hilfe. Aber im zweiten Weltkrieg, als seine eigene Heimat plötzlich in Gefahr war, eilte er nach Hause.

Das war ganz natürlich. Australien wurde hauptsächlich von Briten (meistens deportierte Straftäter) geschaffen. Aber die geistige Welt eines Australiers wurde durch die geographische, politische und physische Umgebung Australiens geformt. Im Laufe der Zeit veränderte sich sogar seine physische Erscheinung.



EINMAL DISKUTIERTE ich mit Ariel Scharon darüber.

Ich sagte ihm, ich betrachte mich zu allererst als Israeli und als Jude nur als zweites.

Sharon, der im vor-israelischen Palästina geboren wurde, entgegnete mir aufgebracht: "Ich bin zuerst ein Jude und erst dann ein Israeli!"

Dies sieht zwar wie eine überflüssige Diskussion aus, aber für das tägliche Leben hat die Sache eine sehr praktische Bedeutung.

Zum Beispiel: Wenn dies ein "jüdischer" Staat ist, wie kann er ohne die Dominanz der jüdischen Religion existieren?

Israel wurde von sehr säkularen Idealisten gegründet. Die meisten von ihnen betrachteten die Religion als ein Relikt der Vergangenheit, als Niederschlag eines lächerlichen Aberglaubens, der ausrangiert werden muss, um den Weg für einen gesunden, modernen Nationalismus zu ebnen.

Der Gründungsvater, Theodor Herzl, dessen Bild in jedem israelischen Klassenzimmer hängt, war völlig unreligiös, um nicht anti-religiös zu sagen. In seinem bahnbrechenden Buch "Der Judenstaat" erklärte er, dass in dem zukünftigen zionistischen Staat die Rabbiner in den Synagogen bleiben werden - ohne Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten.

Die Rabbiner antworteten unmissverständlich. Sie verfluchten ihn freiheraus und bedienten sich dabei der extremsten Ausdrücke. Sie glaubten, dass Gott, der Allmächtige, die Juden als Strafe für ihre Sünden ins Exil geschickt hat und allein Gott, der Allmächtige, das Recht habe, sie zurückzubringen und ihnen den Messiah zu senden.

Sogar die deutschen Reform-Rabbiner, die damals eine kleine Minderheit waren, verdammten Herzl. Nur eine Handvoll Rabbiner schloss sich damals der zionistischen Bewegung an.

In Jerusalem war eine bedeutende Gruppe von orthodoxen Rabbinern, die sich selbst Neturei Karta ("Wächter der Stadt") nannten, offene Anti-Zionisten. Viel später traf ich sie in Arafats Büro. Andere orthodoxe Rabbiner, ein bisschen weniger radikal, bestanden darauf, keine Zionisten zu sein, akzeptierten aber zionistisches Geld. Sie sind jetzt Mitglieder der Regierungs-Koalition.

Damals, als der Staat entstand, verachtete der führende Zionist David Ben-Gurion die Religiösen. Er war davon überzeugt, dass sie von selbst rechtzeitig verschwinden würden. Deshalb (und um Geld von den Orthodoxen Juden im Ausland zu bekommen), machte er ihnen alle Arten von Konzessionen. Jetzt gefährden sie die reine Existenz unseres weltlichen Staates.

Auch wenn sie nur etwa ein Fünftel von Israels Bevölkerung darstellen, sind die Orthodoxen verschiedener Schattierungen jetzt eine mächtige Kraft in der israelischen Politik. Sie vertreten einen extremen Nationalismus, der sich oft in einen religiösen Faschismus verwandelt. Ihr Einfluss auf das tägliche Leben dehnt sich immer weiter aus.

In letzter Zeit gelang es ihnen, ein Gesetz zu verabschieden, das Supermärkten verbietet, am Samstag (Shabbat) zu öffnen. Der extreme orthodoxe Flügel verbietet seinen Söhnen, in der Armee zu dienen und verlangte, dass alle weiblichen Soldaten entfernt werden oder wenigstens verhindert wird, dass sie irgendeinen Kontakt mit ihren männlichen Kameraden haben.

Da die meisten Israelis die Armee als die (vielleicht) einzige vereinigende Kraft in Israel ansehen, verursacht dies eine ständige Krise. Andere orthodoxe Flügel vertreten die entgegengesetzte Ansicht: Sie sehen die Armee als Gottes Instrument, um das Heilige Land von allen Nicht-Juden zu reinigen.

Die arabischen Bürger Israels - mehr als 20 Prozent der Bevölkerung - dienen mit einigen Ausnahmen nicht in der Armee. Wie könnte man sich darauf verlassen, dass sie die Pläne Gottes für Israel erfüllen?

Wenn Ben-Gurion und alle gefallenen Soldaten meiner Generation hören könnten, wie es heute damit steht, würden sie sich im Grabe herumdrehen.


DIES IST nur eine der Manifestationen der "Jüdisch-Zuerst"-Ideologie. Eine andere ist die Frage nach Israels Platz in der Region. "Jüdisch-Zuerst" diktiert eine völlig andere Ansicht als "Israelisch-Zuerst".

Ich war gerade 10 Jahre alt, als meine Familie aus Nazi-Deutschland nach Palästina floh. Auf dem Schiff von Marseille nach Jaffa trennte ich mich vollkommen vom europäischen Kontinent und verband mich mit dem asiatischen.

Ich liebte ihn. Die Geräusche, die Gerüche, die Umwelt. Ich wollte alles umarmen. Als ich mich im Alter von 15 der Untergrundorganisation im Freiheitskampf gegen die britischen Herren von Palästina anschloss, fühlte ich, dass wir ein Teil des allgemeinen Kampfes einer neuen Welt gegen die westliche Vorherrschaft waren.

In jener Zeit wurde eine sprachliche Anwendung, selbst ohne es zu merken, von uns allen akzeptiert. Wir begannen alle zwischen "jüdisch" und "hebräisch" zu unterscheiden. Mit "jüdisch" meinten wir die Juden in der Diaspora (Exil-Juden in zionistischer Redeweise) und mit "hebräisch" meinten wir das lokale und mutterländische.

"Jüdisch" waren die Religion, die Ghettos, die jiddische Sprache. Hebräisch waren wir, die erneuerte Sprache, die neue Gesellschaft in unserem Land, die Kibbutzim, alles Lokale. Am Ende kam eine kleine Gruppe junger Intellektueller mit dem Spitznamen "Caananiter" und ging noch weiter. Sie behauptete, dass wir Hebräer nichts mit den Juden zu tun hätten, dass wir eine neue Nation wären, eine direkte Fortsetzung der hebräischen Nation, die etwa 2000 Jahre zuvor von den Römern vertrieben worden war.

(Diese Vorstellung wird übrigens von vielen nicht-jüdischen Historikern bestritten, die behaupteten, dass die Römer nur die Intelligenz vertrieben hatten. Die einfachen Leute aber seien geblieben, übernahmen den Islam und sind jetzt die Palästinenser).

Als die Wahrheit über den Holocaust herauskam, überflutete eine Welle der Reue die hebräische Gemeinschaft hier im Land. Jüdisch wurde zur vorherrschenden Selbstdefinition. Seitdem ist in Israel ein Prozess der Wieder-Judaisierung im Gange.

Als der Staat Israel gegründet wurde, wurde der Begriff "hebräisch" durch den Begriff "israelisch" ersetzt. Die Frage ist jetzt: zuerst "jüdisch" oder zuerst "israelisch"? Die Antwort wirkt sich direkt auf den israelisch-palästinensischen Konflikt aus.

Herzl hatte kein Problem. Er war ein überzeugter West-Europäer. In seinem Buch schrieb er die schicksalhaften Worte: "Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden; wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen."


HÄTTE ES denn anders kommen können? Hätten wir uns denn wieder in die Region integrieren können? Ich weiß es nicht. Als ich jung war, glaubte ich es. Ich war 22 Jahre alt, als ich eine Gruppe gründete, die ich "Junges Land Israel" nannte (und im Arabischen und Englischen "Junges Palästina"). Sie wurde allgemein als "Kampfgruppe" bekannt und verhasst, weil wir in unregelmäßigen Abständen eine Zeitung mit diesem Namen herausbrachten. Als Jawaharlal Nehru in Neu-Delhi einen asiatisch-afrikanischen Kongress einberief, schickten wir ihm ein Glückwunschtelegramm.

Nach dem 1948-Krieg gründete ich eine Gruppe, die sich "semitische Aktion" nannte und sich mit der Idee von Israels Integration in die "semitische Region" befasste. Ich wählte "semitisch", weil es alle Araber und Israelis einschloss.

1959 traf ich Jean-Paul Sartre in Paris. Er hatte Vorbehalte, was den Ausdruck "semitisch" betraf, der ihm rassistisch klang. Aber es gelang mir, ihn zu überzeugen und er veröffentlichte einen Artikel von mir zu diesem Thema in seiner Zeitschrift "Temps Modernes".

Je "jüdischer" Israel wird, um so breiter wird der Abgrund zwischen ihm und der muslimischen Welt. Je "israelischer" es wird, um so größer wird die Chance einer eventuellen Integration in der Region, ein Ideal, das viel tiefer greift, als nur nach Frieden.

Deshalb wiederhole ich: Zuerst bin ich israelisch und erst dann jüdisch.



Copyright 2018 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 10.02.2018
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Februar 2018

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