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STANDPUNKT/690: Hat Deutschland wirklich offene Grenzen? (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Hat Deutschland wirklich offene Grenzen?

Von Valentin Grünn, 20. September 2017


Die Meinung, dass Deutschland offene Grenzen habe, geistert seit zwei Jahren durch die Lande. Ist das wirklich so?

Eine offene Grenze bedeutet, dass Menschen unabhängig von ihrem Geburtsort oder ihrer Nationalität frei den Ort wählen können, an dem sie leben, arbeiten und Eigentum erwerben können - es handelt sich also um die Niederlassungsfreiheit. Für Schengen-Bürger ist das tatsächlich so.

Ob Grenzen kontrolliert werden oder nicht, hat nichts damit zu tun ob sie offen sind oder nicht. Weder das Asylrecht noch die illegale Einwanderung bedeutet, dass Grenzen offen sind, in beiden Fällen besteht keine Niederlassungsfreiheit.

Weltweit sind etwa 65 Millionen Menschen auf der Flucht. 1/65 davon ist 2015 nach Deutschland gekommen. Davon hat etwa die Hälfte (477.000 Menschen) einen Asylantrag gestellt. 2016 sind die Zahlen schon zurückgegangen.

Der Begriff der "Flüchtlingskrise" hat sich auch anhand des schlechten Managements durch die Bundesregierung etabliert. Dabei geht es nicht um Fragen der Finanzen oder um die innere Sicherheit. Es ist vor allem eine emotionale Krise; es geht um das Unvermögen Deutschlands, seinen Teil an den weltweiten Krisen durch Krieg, Hunger, Umweltveränderungen richtig einzuordnen.

Dass Deutschland schon seit Jahrzehnten erstrangiges Ziel von Asylsuchenden ist, wird dabei geflissentlich verschwiegen. Die Schlauchboote übers Mittelmeer fahren schon seit über 10 Jahren verstärkt; Deutschland hat die Italiener ein Jahrzehnt lang damit im Stich gelassen. Das hat selbst Merkel eingesehen. Auch Mitte der 90er haben bis zu einer zu einer halben Million Menschen (vor allem aus Rumänien, Algerien und Pakistan) in Deutschland Zuflucht gesucht. Auch ohne Kanzler-Selfie hätte (und nahm) der Migrationsdruck angesichts der zunehmenden Zahl der Flüchtlinge weltweit, zugenommen. Angesichts des Flüchtlingsdeals mit der Türkei ist die angeblich so humanitäre Flüchtlingspolitik der Kanzlerin in einem sehr zweifelhaften Licht zu sehen.

So hält sich der Mythos, dass Deutschland offene Grenzen hätte. Das behauptet Thilo Sarrazin, die AfD, Seehofers CSU und selbst die FDP teilweise.


Was bedeuten eigentlich offene Grenzen?

Es ist im wesentlichen die Niederlassungsfreiheit unabhängig von Geburtsort und Pass seinen Lebensmittelpunkt auszusuchen. Grenzen können dieses einschränken und Verwaltungseinheiten abschotten. Für Schengen-Bürger sind die Grenzen offen, denn sie genießen Visa-Freiheit und sind den deutschen Bürgern weitgehend gleichgestellt.

Für Syrer, Afghanen, Iraker und Menschen aus Afrika besteht diese Niederlassungsfreiheit eben nicht. Für sie gibt es nur ganz geringe legale Chancen, über Einwanderungsprogramme in Deutschland leben und arbeiten zu können. Sie können in den wenigsten Fällen ein Visum beantragen und mit dem Flugzeug hier einreisen; schon gar nicht ihren Wohnsitz und den Arbeitsplatz hier suchen.

All die anderen aus diesen Ländern, die auf welchen Wegen auch immer, hier her gelangen, stellen Asylanträge; ihre Möglichkeit zum Erwerb des Lebensunterhaltes ist stark reguliert, ihre Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt, sie müssen oft jahrelang in Lagern verbringen. Die Anerkennungsquote ist individuell und kann von den Menschen nicht beeinflusst werden.

Die grundsätzliche Möglichkeit, Asyl zu beantragen bedeutet nicht, dass die Grenzen Deutschlands deshalb für jeden offen wären; denn sonst gäbe es keine Ablehnung der Asylanträge, keine Abschiebungen und keine Ausweisungen. Das Asylrecht hat mit temporärem Schutz in Notlagen zu tun und nichts mit offenen Grenzen.

Über die Notwendigkeit von Grenzkontrollen wird schon seit Jahrzehnten diskutiert und die Schengen-Staaten haben sich dazu entschieden, die innereuropäischen Kontrollen abzuschaffen. Für die Migranten ist es ohne Bedeutung ob Grenzkontrollen stattfinden oder nicht. Es ist egal, ob sie beim Grenzübertritt kontrolliert werden oder erst ein paar Wochen später in irgendeinem Flüchtlingslagen. In beiden Fällen ist Niederlassungs- und Arbeitsfreiheit eingeschränkt.

Eine Grenze ist nicht deshalb offen, weil nicht unmittelbar an der Grenzmarkierung kontrolliert wird. Es könnte der Einwand vorgebracht werden, dass dann jederzeit illegale Einwanderung möglich wäre. Das ist falsch. Das Leben als illegaler Einwanderer in Deutschland ist nicht das Leben, das einem Menschen mit Niederlassungsfreiheit zukommt. Er kann weder am Gemeinschaftsleben noch an den gesellschaftlichen Errungenschaften oder an Sozialleistungen teilhaben. Er könnte allenfalls auf einem Schattenarbeitsmarkt tätig werden.

Hätte Deutschland tatsächlich offene Grenzen, so würde jeder ein Visum für eine legale Einreise nach Deutschland erhalten, könnte sich eine Arbeit suchen und seinen Lebensmittelpunkt hier einrichten. Er wäre nicht auf behördliche Überprüfungen (z.B. das Recht auf Asyl oder Einwanderungsvoraussetzungen) angewiesen.

Wer die Behauptung in den Raum stellt, Deutschland hätte offene Grenzen der braucht ein deutliches Maß an Blindheit, an Verdrängung oder Unehrlichkeit. In der gegenwärtigen Situation auch nur im Ansatz eine offene Grenze zu sehen ist schlichtweg falsch.


Über den Autor

Valentin Grünn, Jahrgang 1966 und im Schwarzwald aufgewachsen und lebend. Er hat die geschäftige Lebensphase hinter sich gelassen und schreibt, um sich dem schwindenden Einfluss von Humanismus und der Menschlichkeit in der Gesellschaft entgegen zu stellen. Seine Frieden findet er in der Meditation und den Bergen beim Hüten von Vieh.


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: johanna.heuveling@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. September 2017

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