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STANDPUNKT/689: An der Verzweiflung verzweifeln (Uri Avnery)


An der Verzweiflung verzweifeln

von Uri Avnery, 16. September 2017


MEIN OPTIMISMUS hinsichtlich der Zukunft Israels irritiert viele Leute. Wie kann ich angesichts dessen, was hier jeden Tag geschieht, ein Optimist sein?? Die praktische Annexion der besetzten Gebiete? Die Misshandlung der Araber? Die Errichtung der verderblichen Siedlungen?

Doch Optimismus ist eine Geisteshaltung. Sie wankt nicht gegenüber dem Bösen. Im Gegenteil - das Böse muss bekämpft werden. Und man kann nicht kämpfen, wenn man nicht glaubt, dass man siegen kann.

Einige meiner Freunde glauben, dass der Kampf schon verloren ist. Dass Israel nicht mehr länger "von innen" verändert werden kann. Dass der einzige Weg der ist, dass Druck von außen ausgeübt wird.

Sie glauben, zum Glück gibt es draußen eine Organisation, die bereit und in der Lage ist, diese Aufgabe für uns zu erfüllen.

Sie wird BDS genannt - kurz für "Boycott, Divestment, Sanctions", Boykott, Kapitalabzug, Sanktionen.



EINE DIESER Freundinnen ist Ruchama Marton.

Wenn jemand das Recht hat zu kritisieren und zu verzweifeln, dann ist sie das. Ruchama ist eine Psychiaterin, die Gründerin der "Ärzte für Menschenrechte", eine ausgezeichnete israelische Gruppe.

Die Ärzte gehen jede Woche in ein arabisches Dorf und geben allen, die es brauchen umsonst medizinische Hilfe. Selbst die israelischen Behörden akzeptieren dies und gestatten ihnen, wenn es unbedingt notwendig ist, Kranke aus den besetzten Gebieten in ein Krankenhaus in Israel bringen zu lassen.

Als wir letzte Woche Ruchamas 80. Geburtstag feierten, wandte sie sich an mich und warf mir vor, falsche Hoffnungen über die Chance zu wecken, dass das heutige Israel jemals Frieden schließen und sich von den palästinensischen Gebieten zurückziehen wird. Ihrer Meinung nach sei diese Chance vorbei. Was übrig geblieben sei, sei die Pflicht, BDS zu unterstützen.

BDS ist eine weltweite Bewegung, die den totalen Boykott von allem, was israelisch ist, propagiert. Sie will ausländische Unternehmen und besonders Universitäten davon überzeugen, sich von israelischen Investitionen zu trennen und alle Arten von Sanktionen gegen Israel zu unterstützen.

In Israel hasst man BDS wie den Teufel, vielleicht sogar noch mehr. Man braucht in Israel wirklich eine Menge Mut, um sie öffentlich zu unterstützen, wie es ein paar Leute tun.

Ich versprach Ruchama, auf ihren Vorwurf eine Antwort zu geben. Hier ist sie:

Zunächst habe ich einen schweren moralischen Einwand gegen jedes Argument, mit dem behauptet wird, dass wir selbst nichts tun könnten, um unseren Staat zu retten, und dass wir darauf vertrauen müssten, dass das Ausland an unserer Stelle unsere Aufgabe erfüllt.

Israel ist unser Staat. Wir sind für ihn verantwortlich. Er gehört den wenigen Tausenden, die ihn auf dem Schlachtfeld verteidigten, als er entstanden ist. Nun ist es unsere Pflicht, für ihn zu kämpfen, dass er zu dem Staat wird, den wir uns gewünscht haben.

Selbst von einem moralischen Standpunkt aus akzeptiere ich den Glauben nicht, die Schlacht sei verloren. Keine Schlacht ist verloren, solange es Leute gibt, die zu kämpfen bereit sind.

Doch wenden wir uns vom Moralischen zum Politischen.


ICH GLAUBE an Frieden. Frieden bedeutet ein Abkommen zwischen zwei (oder mehr) Seiten, um in Frieden zu leben. Israelisch-palästinensischer Frieden bedeutet, dass der Staat Israel und die palästinensische National-Bewegung miteinander zu einer Einigung kommen.

Frieden zwischen Israel und Palästina setzt voraus, dass der Staat Israel existiert und zwar Seite an Seite mit dem Staat Palästina. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob dies das Ziel der BDS-Bewegung ist. Vieles, was sie tut und sagt, könnte zu dem Schluss führen, dass sie einen Frieden ohne Israel wünscht.

Ich bin davon überzeugt, dass es die Pflicht der BDS ist, diesen Punkt absolut klar zu machen. Frieden mit Israel oder Frieden ohne Israel?

Einige Leute sind davon überzeugt, dass Frieden ohne den Staat Israel möglich und wünschenswert ist. Viele von ihnen unterschreiben etwas, das die "Ein-Staat-Lösung" genannt wird. Dies bedeutet, dass die Israelis und die Palästinenser als gleiche Bürger gemeinsam in einem Staat leben.

Das ist ein netter Traum, aber leider spricht die historische Erfahrung dagegen. Die Sowjetunion, Jugoslawien, Tschechoslowakei, Indochina und andere sind auseinandergebrochen; Belgien, Kanada und Großbritannien und viele andere sind in ernster Gefahr, auseinanderzubrechen. Gerade jetzt wird unter der Schirmherrschaft einer Friedensnobelpreisträgerin in Burma ein Völkermord durchgeführt.

Werden zwei stark nationalistische Völker, die dasselbe Land als Heimatland für sich beanspruchen und die seit fast 150 Jahren im Krieg miteinander sind, jetzt friedlich in einem gemeinsamen Staat zusammenleben? Unwahrscheinlich. Das Leben in einem solchen Staat wäre die Hölle.

(Ein israelischer Scherz: "Können der Wolf und das Schaf zusammen leben? Kein Problem. Man muss nur täglich ein neues Schaf beschaffen.)


LEUTE, DIE BDS unterstützen, weisen im Allgemeinen auf die Erfahrung in Südafrika hin. Diese Erfahrung sei die Basis ihrer Strategie.

Die Geschichte verlief folgendermaßen: die schwarze Mehrheit Südafrikas war von der weißen Minderheit unterdrückt worden. Sie wandte sich an die aufgeklärte (weiße) Welt, die einen weltweiten Boykott über das Land verhängte. Letzten Endes gaben die Weißen nach. Zwei wunderbare Menschen, Nelson Mandela und Frederick Willem de Klerk fielen sich in die Arme. Ende der Vorstellung.

Dies ist die Geschichte in den Augen der Weißen. Darin spiegelt sich der typische Egoismus der Weißen wieder, die sich als Mittelpunkt der Welt sehen. Mit den Augen der Schwarzen betrachtet, sieht die Geschichte ein wenig anders aus:

Die Schwarzen, die die große Mehrheit in Südafrika darstellten, begannen eine Kampagne mit Streiks und Gewalt. Auch Mandela war ein Terrorist. Die weltweite Boykott-Bewegung half sicherlich, es war aber der Kampf der Eingeborenen, der entscheidend war.

(Die israelischen Führer sagten ihren weißen südafrikanischen Freunden, sie sollen das Land teilen. Aber keine der beiden Seiten wollte diesen Rat annehmen.)

Die Umstände hier sind völlig anders. Israel braucht keine arabischen Arbeiter. Es kommt ohne sie aus. Es importiert Arbeiter aus aller Welt. Der Lebensstandard der Israelis ist mehr als 20mal höher als der der Palästinenser in den besetzten Gebieten. Auf beiden Seiten besteht ein starker Nationalismus. Wegen des Holocaust genießt die jüdische Seite die große Sympathie der Welt. Antisemitismus ist nicht mehr Mode und die israelische Propaganda klagt die BDS an, antisemitisch zu sein.

In einem Augenblick ungewöhnlicher Weisheit verordneten die Vereinten Nationen die Teilung Palästinas. Tatsächlich gibt es keine bessere Lösung.


IM PRINZIP bin ich nicht gegen den Boykott. Schon 1977 war die Gush Shalom-Bewegung, zu der ich gehöre, tatsächlich die erste, die einen Boykott der Siedlungen proklamierte. Wir verteilten viele Tausende von Listen der Unternehmen, die dort operierten. Eine Folge davon war, dass eine ganze Anzahl davon nach Israel umsiedelte. Ich kann mir leicht einen viel größeren Boykott aller Unternehmen vorstellen, die die Siedlungen unterstützen.

Doch nach meiner Einschätzung wäre ein Boykott Israels selbst ein Fehler. Er würde alle Israelis in die Arme der Siedler treiben. Dabei ist es unsere Aufgabe, die Siedler zu isolieren und von den normalen Israelis zu trennen.

Ist dies möglich? Ist dies noch immer möglich? Ich bin davon überzeugt.


DIE GEGENWÄRTIGE Situation macht deutlich, dass wir Fehler gemacht haben. Wir müssen haltmachen und alles neu überdenken, ganz von Anfang an.

Die von Ruchama Marton gegründete Organisation ist nicht die einzige für Frieden und Menschenrechte aktive Gruppe. Es gibt Dutzende von ihnen, von phantastischen Männern und Frauen gegründete, die jede in einer von ihr gewählten Nische wirken. Wir müssen einen Weg finden, um ihre Stärken miteinander zu verbinden, ohne ihre Unabhängigkeit und ihre besondere Art zu verletzen. Wir müssen einen Weg finden, um die politischen Parteien der Linken (Die Labor-Partei, Meretz und die Arabische vereinigte Liste), die sich in einem Koma befinden, ins Leben zurückzubringen oder eine neue Partei gründen.

Ich respektiere BDS und alle ihre Aktivisten, die ernsthaft darum kämpfen, die Palästinenser zu befreien und zwischen ihnen und uns Frieden zu schließen. Die Anstrengungen, die jetzt in den USA gemacht werden, um ein Gesetz zu verabschieden, das ihre Aktivität verbietet, erscheinen mir lächerlich und anti-demokratisch.

Lassen wir sie dort ihre Arbeit tun. Unsere Aufgabe hier ist es, unsere Bemühungen, die darauf hinauslaufen, unsere gegenwärtige Regierung und ihre Verbündeten zu stürzen, neu zu gruppieren, neu zu organisieren und zu vervielfachen und die Friedensmächte an die Macht zu bringen.

Ich bin der Überzeugung, dass die Mehrheit der jüdischen Israelis den Frieden wollten, wenn sie dächten, Frieden sei möglich. Sie sind zerrissen zwischen einer energischen rechten Minderheit mit einem faschistischen Rand, der behauptet, Frieden sei unmöglich und unerwünscht, und einer schwachen, sanften linken Minderheit.

Dies ist keine hoffnungslose Situation. Der Kampf ist längst nicht vorbei. Wir müssen unsere Aufgabe innerhalb Israels erfüllen und es den Kräften im Ausland überlassen, ihre Aufgaben dort zu erfüllen.

Es gibt keinen Grund, zu verzweifeln, außer an der Verzweiflung selbst.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 16.09.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. September 2017

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