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STANDPUNKT/622: Ja, wir können (Uri Avnery)


Ja, wir können

von Uri Avnery, 7. Januar 2017


ALS WÄHREND des Zweiten Weltkrieges deutsche Bomber England terrorisierten, bot ihnen eine kleine Gruppe tapferer britischer Flieger die Stirn. Ihre Lebenserwartung wurde nach Tagen bemessen.

Ein findiger Geist im Propagandaministerium gestaltete ein Plakat: "Wer fürchtet sich vor der deutschen Luftwaffe?"

Als es in einem der Königlichen Militärflugplätze aufgehängt worden war, schrieb eine unbekannte Hand darunter: "Hier unterschreiben!"

Innerhalb von Stunden hatten alle Flieger unterschrieben.

Es waren die Männer, über die Winston Churchill folgendes sagte: "Niemals hatten so viele so wenigen so viel zu verdanken!"

Wenn heute jemand ein Plakat entwerfen würde, das fragt: Wer fürchtet sich vor den Siedlern, wäre ich der erste, der es unterzeichnet.

Ich habe Angst. Nicht um mich. Um den Staat Israel. Um Alles, was wir in den letzten 120 Jahren aufgebaut haben.


IN LETZTER ZEIT sagen immer mehr Leute in Israel und in der Welt, dass die "Zwei-Staaten-Lösung" tot ist.

Finito. Kaputt. Die Siedler haben sie endgültig getötet.

Der Frieden ist erledigt. Da gibt es nichts, das wir tun könnten. Wir können nur in unserem bequemen Sessel vor dem Fernseher sitzen, tief seufzen, eine Tasse Kaffee trinken und zu uns selbst sagen: "Die Siedlungen sind nicht rückgängig zu machen!"

Wann hab ich das zum ersten Mal gehört?

Vor etwa 40 Jahren - oder war es vor 50 Jahren - verwendete der renommierte israelische Historiker Meron Benvenisti es zum ersten Mal. Die Siedlungen, proklamierte er, haben eine "irreversible" Situation geschaffen. Keine Zwei-Staaten-Lösung, wie meine Freunde und ich es forderten. Sorry, irreversible. Zu jener Zeit gab es weniger als hunderttausend Siedler in der Westbank und einige sogar im Sinai.

Jetzt kann dieser Slogan überall gehört werden. Unumkehrbar, irreversible. Die bloße Masse der Siedler hat die Zwei-Staaten-Lösung zu einem Hirngespinst gemacht.

Es heißt, dass es jetzt 450 Tausend Siedler in der Westbank gibt und zusätzlich noch 150 Tausend im besetzen Ost-Jerusalem. Sie können nicht ohne einen Bürgerkrieg umgesiedelt werden.

Also hören wir auf, über eine Zwei-Staaten-Lösung zu sprechen. Lasst uns über etwas anderes nachdenken. Eine Ein-Staat-Lösung? Einen Apartheid-Staat? Überhaupt keine Lösung? Ein ewiger Konflikt?


ICH GLAUBE nicht, dass es ein menschliches Problem gibt, für das es keine Lösung gibt.

Ich glaube nicht, dass Verzweiflung ein guter Ratgeber ist, obwohl es ein bequemer ist.

Ich glaube nicht, dass im Leben etwas "irreversible" ist. Natürlich abgesehen vom Tod.

Wenn sich jemand einem Problem gegenüber sieht, das irreversibel ist, muss man dieses Problem näher ansehen, es analysieren und die möglichen Auswege überdenken.

Es wird erzählt, dass General Bernard Montgomery, der britische Kommandeur in Nordafrika, in seinem Hauptquartier ein Bild von seinem Feind, dem legendären deutschen General Erwin Rommel, auf dem Schreibtisch stehen hatte. Seinen erstaunten Besuchern erklärte er: "Ich möchte mich jeden Augenblick fragen: Was denkt er gerade?"

Wenn wir versuchen, über die Siedler nachzudenken, sehen wir vor uns eine Masse von 650 Tausend Fanatikern, die jeden Tag mehr werden. Das ist wirklich erschreckend.

Aber es existiert keine Masse von Siedlern. Es gibt verschiedene Arten von Siedlern. Wenn wir Mittel ersinnen wollen, um mit diesem Problem fertig zu werden, müssen wir es zuerst einmal in seine Teile zerlegen.

Wir wollen uns die verschiedenen Gruppen eine nach der anderen anschauen.


ALS ERSTES sind da die "Lebensqualitätssiedler". Sie gehen auf die Westbank, finden dort eine Stelle, die von malerischen arabischen Dörfern umgeben ist, und siedeln auf Land, das höchst wahrscheinlich einigen arabischen Dorfbewohnern gehört. Sie schauen aus ihrem Fenster auf wunderschöne Minaretts und Olivenbäume, hören den Ruf zum Gebet und sind glücklich. Sie bekamen das Land umsonst oder fast umsonst.

Nennen wir sie Gruppe 1.

Da sie keine Fanatiker sind, wird es nicht so schwer sein, sie ins eigentliche Israel umzusiedeln. Findet man für sie einen netten Platz, gibt man ihnen eine Menge Geld, werden sie sich umsiedeln lassen, ohne viel Ärger zu machen.


DANN GIBT es die "Grenz-Siedlungen". Dort leben die Siedler in Städten und Dörfern, die sich sehr nah an der alten Grünen Linie befinden - der Grenze, die vor 1967 bestand und die noch immer als legale Grenze des Staates Israel gilt. Dort lebt der Großteil der Siedler.

Es besteht zwischen Israel und den Palästinensern eine stillschweigende Übereinkunft, dass diese Siedlungen zu dem "Landtausch" gehören werden, den sich fast jeder, der mit der Zweistaatenlösung zu tun hat, vorstellt.

Die Grundlage ist ein Tausch 1 zu 1 gemäß dem Wert. Zum Beispiel: zum Ausgleich für die "Siedlungsblöcke" könnte Israel Gebiete entlang des Gazastreifens abgeben. Die Söhne und Töchter der Familien innerhalb des Streifens, dem übervölkertsten Gebiet der Erde, würden diese Gelegenheit willkommen heißen, um dort ihre Wohnstätte in der Nähe ihrer Familien zu bauen.

Nennen wir diese Art von Siedlern "Gruppe 2".

Zu dieser Gruppe gehören viele ultraorthodoxe Siedler, denen der Ort eigentlich ziemlich gleichgültig ist. Sie haben sehr große Familien, womit sie Gottes Willen erfüllen. Sie müssen auch in bevölkerungsreichen Gemeinden zusammen leben, da viele Gebote ihres Glaubens gemeinsame Institutionen verlangen.

Die Ultraorthodoxen ("Haredim" auf Hebräisch, das bedeutet "die, die vor Gott zittern") leben in schrecklich übervölkerten Städten in Israel: West-Jerusalem, Bnei-Brak etc. Sie benötigen mehr Land und die Regierung ist glücklich, ihrem Bedürfnis nachzukommen - aber eben jenseits der Grünen Linie. Einer dieser Orte ist Modiin Illith, gegenüber dem arabischen Dorf Bilin, wo seit vielen Jahren die Dorfbewohner jeden Freitag gegen den Landraub demonstrieren.


LAST BUT not least gibt es noch die ideologischen Siedler, die Fanatiker, diejenigen, die von Gott selbst dahin geschickt wurden. Nennen wir sie Gruppe 3.

Sie sind der Kern des Problems. Diesen harten Kern umzusiedeln, ist ein schwieriger und gefährlicher Job. Wie schwierig, hängt von mehreren Faktoren ab.

Vor allem von der öffentlichen Meinung. So lange diese Siedler wissen, dass der Großteil der israelischen allgemeinen Öffentlichkeit sie unterstützt, können sie nur mit brutaler Gewalt umgesiedelt werden. Aber die meisten Soldaten und Polizisten gehören genau dieser allgemeinen Öffentlichkeit an.

Diese Schlacht kann nur dann gewonnen werden, wenn sich vorher die allgemeine Meinung geändert hat. Um dies zu bewirken, ist eine Menge politischer Arbeit nötig. Internationale Unterstützung mag helfen. Aber ich glaube nicht, dass internationale Unterstützung - durch die UN, die USA und andere - weiterhilft, wenn die Israelis selbst keinen Wandel bewirken.

Am Ende wird eine Umsiedlung des harten Kerns der Siedler mit Gewalt nötig sein. Das ist nichts, was man sich wünscht, aber es ist etwas, was unvermeidlich sein wird.


DIE SIEDLER der Gruppe 3 sind sich dieser Faktoren vollkommen bewusst, bewusster als ihre Gegner. Seit Jahren bemühen sie sich systematisch darum, die Armee, die Regierung, den öffentlichen Dienst und besonders die Medien zu infiltrieren.

Diese Bemühung war höchst erfolgreich, hat allerdings noch nicht endgültig gesiegt. Das Friedenslager muss ihr mit einer entsprechenden Bemühung entgegentreten.

Ein Hauptfaktor, der alles andere in den Schatten stellt, ist der geistige Wettstreit. Die Siedler kämpfen für ihre Ideologie als auch um ihren Lebensstandard.

Dies reflektiert übrigens ein historisches und weltweites Phänomen: Die Menschen, die an der Grenze leben, sind härter und motivierter als Menschen die im geographischen Zentrum leben.

Ein typisches Beispiel ist Preußen. Anfangs war dies eine deutsche Grenz-Provinz mit sehr schlechtem Boden und wenig Kultur. Jahrhundertelang waren die wohlhabenden Städten im deutschen Kerngebiet das Zentrum der deutschen Kultur. Aber durch reine Beharrlichkeit und Willenskraft wurde Preußen zur dominanten Region Deutschlands. Als das vereinigte (zweite) deutsche Reich gegründet wurde, war Preußen die entscheidende Kraft.

Etwas ganz Ähnliches geschah weiter südlich. Österreich, eine kleine südliche Grenzprovinz, hat im Herzen Europas ein großes Reich errichtet, das viele verschiedene Nationalitäten einschloss.


DIESE NOTWENDIGERWEISE kurze Skizze möglicher Lösungen soll nur zeigen, dass nichts unwiderruflich ist.

Am Ende hängt alles von uns ab.

Wenn wir Israel genug lieben, um für seine Existenz als Staat einzutreten, einem Staat in dem wir gerne leben und mit dem wir uns identifizieren können, sollten wir rechtzeitig handeln.

Wäre es nicht schade, wenn alle Bemühungen und Hoffnungen von 120 Jahren im Morast eines elendigen, hässlichen kleinen Apartheit-Staates versinken würden?



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 07.01.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Januar 2017

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