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STANDPUNKT/603: Erkin Erdogan - "Wir gleiten ab in eine faschistische Diktatur" (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Türkei: "Wir gleiten ab in eine faschistische Diktatur"

Gespräch mit Erkin Erdogan, dem Co-Vorsitzenden des HDK, mit Hilfe von Peter Vlatten

Von Johanna Heuveling, 8. November 2016


Berlin - 08.11.2016. An diesem Montag fanden sich wieder einige hundert Menschen - Männer, Frauen, Kinder - vor dem Bundestagsgebäude ein, um mit den Slogans "Es reicht!" und "Deutschland unternimm endlich was" gegen die Festnahmen der HDP-Abgeordneten und andere anti-demokratische Ereignisse in der Türkei zu protestieren. Sie befürchten ein Abgleiten der Türkei in eine faschistische Diktatur und kritisieren die Sanftheit der europäischen und deutschen Diplomatie gegenüber Erdogan und seiner Regierung.

Zwei Wochen vorher hatten wir Erkin Erdogan, den Co-Vorsitzenden des HDK, des Demokratischen Kongresses der Völker, der Unterstützungsorganisation der HDP, in einem Kreuzberger Café getroffen. Bereits dort wirkte er pessimistisch, seitdem ist viel passiert. Hier ein paar Gedanken, die er uns in Bezug auf die Türkei, die Demokratie und seine Partei mitgegeben hat, welche sehr relevant sind.

Was in den Medien meist vernachlässigt wird, ist, dass die HDP durchaus nicht nur eine pro-kurdische Partei ist, sondern die Rechte aller Minderheiten, Ethnien und Randgruppen vertritt. Sie sei zwar vor den Protesten um den Gezi-Park als hauptsächlich pro-kurdische Partei gegründet worden, habe aber durch diese Bewegung stark an Breite gewonnen. "Das war eine neue Art, Politik zu machen. Die Gezi-Park-Bewegung hatte einen politischen Geist wie man ihn auch von Occupy kennt", erklärt Erkin Erdogan. Die Gezi-Bewegung sei eine echte Gefahr für die Partei Erdogans, die AKP, gewesen, weil auch viele AKP-Anhänger sich mit ihr solidarisierten. Anfangs hätten die politischen Machthaber nicht gewusst, wie sie mit dieser neuen Form umgehen sollten. Am Ende sei der Protest aber durch extreme Polizeibrutalität zerschlagen worden. "Wir haben damals viel aus diesen Protesten gelernt. Die Bewegung war sehr pluralistisch, hatte aber keine Strategie." Viele hätten sich danach in der HDP wiedergefunden.

Sehr viele Gruppierungen und Organisationen sind unter dem Dach der HDP - LGBT, Gewerkschaften, Frauenverbände, verschiedene Religionen und Ethnien. "Wir hatten eine extrem breite Kandidatenliste", so Erkin. Eine der bemerkenswerten Parteistatuten ist, dass es immer Doppelspitzenposten gibt, von ganz oben bis in die Gemeinden, bevorzugt ein Mann und eine Frau. Bei der Wahl im Juni 2015 bekamen sie dann 13,1% der Stimmen und stellten damit die drittgrößte Partei und eine ernst zu nehmende Größe für die Regierung dar.

Aber die Freude darüber war nur von kurzer Dauer. Von Beginn an seien sie starker Repression ausgesetzt gewesen, sagt Erkin. Büros der Partei seien zerstört worden, vor allem durch Anhänger der rechtsextremen Partei MHP, die die AKP unterstützt. Im Mai dieses Jahres wurde der parlamentarische Schutz der HDP-Abgeordneten aufgehoben. Seit dem Coup im Juli sei das Recht auf Demonstrationen ausgeschaltet, politische Versammlungen seien angegriffen worden, es ist der Notstand verhängt und anti-demokratische Massnahmen nehmen überhand. "Die Demokratie ist wie in Wartehaltung. Die Lage ist extrem angespannt. Die Gesellschaft wird polarisiert und jegliche Opposition mundtot gemacht." Es habe auch vor den jetzigen Verhaftungen bereits direkte Operationen gegen die HDP gegeben, so seien zum Beispiel 29 HDP-Bürgermeister im Rahmen der Notstandsgesetzgebung abgesetzt worden, und die Zahl steigt noch weiter an.

Erkin Erdogan sagt uns: "Wir haben immer gedacht, jetzt kann nichts schlimmeres mehr passieren, aber es ist immer noch schlimmeres passiert. Im Moment sind wir sehr unglücklich und beängstigt. Die Demokratie funktioniert nicht mehr. Es findet eine Restrukturierung statt. Wir driften auf eine Diktatur zu."

Was macht der HDK in Deutschland und was erhoffen sie sich von der deutschen Politik? "Klare Worte und saubere Abkommen", fasst Erdogan zusammen, was der HDK von der deutschen beziehungsweise der EU-Politik und was auch bei der Kundgebung wiederholt wird. Momentan macht der HDK eine Kampagne gegen den EU-Türkei-Deal. "Die Europäische Politik sollte nicht mit einer undemokratischen Regierung feilschen, sie sollten besser die oppositionellen Kräfte im Land unterstützen." Sie versuchen hier mit Politikern und Interessenvertretern in Kontakt zu kommen, um ihnen ihre Position zu erklären. Neulich hat der andere Co-Vorsitzende, Selahattin Demirtas, ein Gespräch mit Außenminister Steinmeier gehabt. Ob es was gebracht hätte? Erkin zuckt mit den Schultern. Er scheint kein großes Vertrauen in die Ratio der deutschen Außenpolitik zu haben. Bisher sind sie sehr enttäuscht von der deutschen Haltung. Es habe lediglich "Besorgnis"-Aussagen gegeben und zusätzlich wird ihnen in Deutschlands ebenfalls die Ausübung demokratischer Rechte erschwert. Demonstrationen werden immer wieder wegen angeblicher Terrorismusnähe verboten, wie gerade in Köln geschehen. Dabei werde als Informationsquelle lediglich die türkische Regierung herangezogen. Die AKP aber könne ungehindert demonstrieren.

Seit dem versuchten Staatsstreich habe man in Deutschland viel über die Verletzung der Rechte vieler Gruppen geredet, wie Journalisten, Akademiker, und so weiter, aber niemand rede über das, was gegen die Kurden passiere, kritisiert Erkin. "Da wird ein Krieg gegen Minderheiten geführt. Gegen die Kurden finden Massaker statt, nicht nur in Syrien, sondern auch im Südosten der Türkei. Die Verteidigungsmassnahmen der Bevölkerung werden von der Regierung als Terrorismus bezeichnet", sagt Erkin Erdogan. "Die deutsche Politik ignoriert das vollständig."


Neben seiner Doktorarbeit in Wirtschaftswissenschaften, die Erkin Erdogan gerade in Deutschland anfertigt, ist er permanent mit der türkischen Entwicklung beschäftigt. Wir wünschen ihm und seinen Kolleg_innen viel Glück und hoffen auf weitere Interviews darüber, wie es weitergeht in der Türkei.


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: johanna.heuveling@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. November 2016

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