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STANDPUNKT/596: Der Triumph des Sisyphus (Uri Avnery)


Der Triumph des Sisyphus

von Uri Avnery, 8. Oktober 2016


DAVID BEN GURION wurde nicht bei den Großen der Nation auf dem nationalen Friedhof in Jerusalem beerdigt, sondern neben dem Grab seiner Frau in Sdeh-Boker, der Negev Siedlung, die er liebte.

Simon Peres, sein Schüler und Nachfolger wurde nicht neben dem Grab seiner Frau in Ben Shemen beerdigt, dem Platz, den sie liebte, sondern bei den Großen der Nation.

Das ist der ganze Unterschied.


ICH NAHM nicht an dem Wirbel um das Begräbnis teil. Alles in allem war es ziemlich lächerlich. Jeder, der einmal seine Hand geschüttelt hat oder mit ihm ein paar Worte wechselte, fühlte sich verpflichtet, etwas über ihn in aller Länge zu schreiben und tiefe Ansichten auszudrücken. Das meiste war reiner Unsinn.

Ich bin gerne im Fernsehen. Aber diesmal lehnte ich Dutzende von Einladungen von Fernsehen, Radio und wer weiß was ab. Ich hatte einfach keine Lust, in den Chor einzustimmen.

Abgesehen von anderen Dingen, gab es da ein Paradox: Die Hunderte von Grabrednern, einschließlich Dutzender, die aus dem Ausland kamen, sprachen, um den Mann des Friedens zu loben. Doch das ganze Ereignis war Propaganda für die Netanjahu-Regierung, die Regierung der Besatzung.


DIE SINTFLUT von Artikeln über den Entschlafenen erinnerte mich an die alte, griechische Geschichte über einen Haufen blinder Männer, die an einem Elefanten vorbeikamen. "Der Elefant ist wie eine Pfeife", berichtete der eine, der seinen Rüssel betastete. "Der Elefant ist rund und scharf", sagte ein anderer, der die Stoßzähne berührte. "Er ist wie ein Teppich", sagte derjenige, der das Ohr hielt, u.s.w.

Shimon Peres hatte viele Facetten. Nur alle zusammen machen den Mann wirklich aus, so wie er von keinem der Lobredner gesehen wurde. Fast alle sagten und schrieben Quatsch.

Und alle ignorierten den wirklichen Elefanten, der in der Mitte des Raumes stand: die Besatzung.


ALS ER einen Schlaganfall hatte, schrieb ich einen Artikel. Ich habe mich entschlossen, diesen neu zu schreiben, mit mehreren Zusätzen, von denen ich denke, dass sie wichtig sind oder wenigstens interessant. Es tut mir leid, dass er ein bisschen lang wurde.

Shimon Peres war ein Genie. Ein genialer Poseur.

Sein ganzes Leben lang hat er an seinen öffentlichen Person gearbeitet. Fast allen Lobrednern ging es um das Image dieser Person. Der wirkliche Mann wurde beerdigt. Möge seine Seele in Frieden ruhen. Der imaginierte Mann wird noch Generationen lang im Gedächtnis bleiben.


OBERFLÄCHLICH betrachtet gab es einige Parallelen zwischen ihm und mir. Er war nur 39 Tage älter als ich. Er kam einige Monate nach mir in dieses Land, beide waren wir 10 Jahre alt. Ich wurde nach Nahalal, einem genossenschaftlichen Dorf, geschickt. Er nach Bet Shemen, einem landwirtschaftlichen Dorf für Jugendliche. Man könnte sagen, dass wir beide Optimisten und dass wir beide aktiv in unserm Leben gewesen sind.

Damit enden unsere Gemeinsamkeiten.


ICH KAM aus Deutschland, wo wir eine wohlhabende Familie waren. In Palästina verloren wir sehr schnell all unser Geld. Ich wuchs in äußerster Armut auf. Er kam aus Polen. Seine Familie war auch in Palästina wohlhabend. Ich behielt einen deutschen Akzent. Er behielt einen starken polnischen. Die meisten Leute dachten, es wäre ein jiddischer Akzent - aber er leugnete dies vehement. In jener Zeit wurde die jiddische Sprache in diesem Land gehasst und verachtet.

Schon in seiner Kindheit gab es etwas, das den Ärger seiner Klassenkameraden in der jüdischen Schule dieser kleinen polnischen Stadt auf sich zog. Oft wurde er von ihnen verprügelt. Sein jüngerer Bruder Gigi pflegte ihn zu verteidigen. Er erinnerte sich später, das Shimon ihn fragte: "Warum hassen sie mich so?"

Das war vielleicht der Ursprung davon, dass er sich sein Leben lang nach Liebe, Bewunderung und Verehrung von Menschen sehnte.

In Ben Shemen war sein Name noch Persky. Einer seiner Lehrer schlug ihm vor, einen hebräischen Namen anzunehmen, was fast alle von uns taten. Er schlug den Namen Ben Amoz, den Beinamen des Propheten Jesaja, vor, aber diesen Namen schnappte ihm sein Mitschüler Musia Tehilimsager, der dann auch als Dan Ben-Amoz berühmt werden sollte, vor der Nase weg. Deshalb schlug der Lehrer Peres vor, den Namen eines großen Raubvogels.

In einer anderen Geschichte heißt es, dass Schimon auf einer Wanderung im Negev einen Geier sah und dessen Namen annahm.


WIR TRAFEN UNS zum ersten Mal im Alter von 30 Jahren. Er war bereits der Generaldirektor des Verteidigungsministeriums, ich war der Chefredakteur eines Magazins, das das Land in Aufruhr versetzte.

Er lud mich in sein Ministerium ein, um mich zu bitten, einen investigativen Artikel nicht zu veröffentlichen (über das Versenken eines illegalen Flüchtlingsschiffs durch die Hagana im Hafen von Haifa vor der Gründung Israels). Unsere Begegnung war eine Geschichte gegenseitigen Abneigung auf den ersten Blick

Er mochte mich nicht. Ich mochte ihn auch nicht.

Meine Abneigung war schon vor unsern Treffen vorhanden. Im Krieg von 1948 (dem Unabhängigkeitskrieg) war ich ein Zugführer. Alle Frontsoldaten dieses Krieges verachteten Mitglieder unserer Altersgruppe, die nicht dienten und in Saus und Braus lebten, während unsere Kameraden um uns herum fielen. Einer von diesen, die keinen Militärdienst leisteten, war Peres. Er wurde von David Ben Gurion ins Ausland geschickt, um Waffen zu kaufen. Ein wichtiger Job - aber einer, der von einem 60-Jährigen ausgeübt werden konnte.

Diese Tatsache schwebte eine sehr lange Zeit wie eine Wolke über seinem Kopf. Sie erklärt, weshalb Mitglieder seiner Altersklasse ihn verachteten und Yitzhak Rabin, Yigal Alon and deren Kameraden liebten. Haim Hefer, der Dichter der Eliteeinheit Palmach, schrieb ein Lied über ihn: "Wie ist es der Wanze gelungen, so hoch zu steigen?"


SHIMON PERES war von Kindheit an ein richtiger Politiker, durch und durch ein Politiker und nichts anderes. Keine anderen Interessen, keine Hobbys.

Das begann bereits in Ben Shemen. Peres war dort ein "Außenseiter-Junge", ein neuer Einwanderer, der sich von all den sonnengebräunten, athletischen einheimischen Jungen unterschied. Sein unattraktives Gesicht und der starke Akzent machten die Sache nicht besser. Trotzdem fand ihn Sonja, die Tochter des Schreinermeisters, anziehend und wurde seine Frau.

Er lechzte von ganzem Herzen danach, als "einer aus der Gang" angesehen zu werden. Deshalb trat er der "Arbeiterjugend" bei, der Jugendorganisation der allmächtigen Histadruth-Gewerkschaft und wurde sehr aktiv. Da die heimischen Jungen, die den Spitznamen "Sabras" (Kaktuspflanze) hatten, an politischen Aktivitäten nicht interessiert waren, stieg Peres die Karriereleiter hoch und wurde schnell zum Ausbilder.

Seine erste Gelegenheit kam, nachdem er seine Studien in Ben Shemen beendet hatte und sich einem Kibbutz der Arbeiterpartei (Mapai) anschloss, die die jüdische Gemeinschaft mit eisener Faust regierte. Die Partei spaltete sich. Fast alle Jugendleiter schlossen sich der "Fraktion B" an, der Oppositionsgruppe. Peres war fast der Einzige, der der Mehrheitsfraktion treu blieb. Dadurch zog er die Aufmerksamkeit des Parteiführers Levi Eshkol auf sich.

Es war eine brilliante politische Übung. Seine einstigen Kameraden verachteten ihn, aber er hatte nun Kontakt zur Führungsspitze der Partei. Eshkol stellte ihn Ben-Gurion vor und als der Krieg im Jahre 1948 ausbrach, sandte Ben-Gurion ihn zum Kauf von Waffen in die USA.

Von da an war Peres Ben Gurions rechte Hand, bewunderte ihn und - was besonders wichtig war - wurde sein politischer Nachfolger.

Im Tohuwabohu der Lobreden wurde Peres "der Letzte der Gründer Israels" genannt. Das ist kompletter Unsinn. Der Staat wurde von den Soldaten von 1948 gegründet, von den Gefallenen, den Verletzten und ihren Kameraden. Nicht in einem Büro in Tel Aviv, sondern auf den Schlachtfeldern von Negba und Latrun. Ben Gurion und die Politiker prägten den Staat, aber nicht zu seinem Besten. Peres war nur ein Junior-Assistent.


BEN-GURION prägte dem neuen Staat seine politische Einstellung auf, und man könnte sagen, dass der Staat sich auch heute noch auf den Gleisen bewegt, die von ihm gelegt wurden. Peres war einer seiner wichtigsten Helfer dabei.

Ben-Gurion glaubte nicht an Frieden. Seine Ansichten basierten auf der Annahme, dass die Araber niemals Frieden mit dem jüdischen Staat eingehen würden, denn der war schließlich auf dem Land erbaut, das einmal ihnen gehört hatte. Zumindest eine lange, lange Zeit lang würde es keinen Frieden geben. Deshalb brauchte der neue Staat eine starke Westmacht als Verbündeten. Die Logik diktierte, dass solch ein Verbündeter nur aus den Reihen der imperialistischen Mächte kommen könne, die den arabischen Nationalismus fürchteten.

Es war ein Teufelskreis: (1) Um sich gegen die Araber zu verteidigen, brauchte Israel einen kolonialistischen anti-arabischen Verbündeten. (2) Solch eine Allianz würde nur den Hass der Araber auf Israel verstärken. (3) Und so weiter, bis heute.

Der erste zukünftige Verbündete war Großbritannien, die Mutter der "Balfour-Erklärung". Aber diese Verbindung scheiterte: die Briten bevorzugten es, sich den arabischen Nationalismus zu eigen zu machen. Jedoch im richtigen Augenblick erschien ein anderer Verbündeter auf der Bühne: Frankreich.

Die Franzosen hatten ein ausgedehntes Imperium in Afrika. Algerien, ein offizielles Department von Frankreich, rebellierte im Jahre 1954. Beide Seiten kämpften mit äußerster Grausamkeit.

Die Franzosen konnten es nicht fassen, dass ihre Algerier sich gegen sie erhoben, und schoben die Schuld auf den neuen Führer, der in Kairo an die Macht gekommen war. Aber kein Land war bereit, ihnen bei ihrem "schmutzigen Krieg" beizustehen. Keines außer einem.

Ben-Gurion, mittlerweile in fortgeschrittenem Alter, fürchtete den neuen pan-arabischen Führer Gamal Abd-al-Nasser. Jung, energisch, gutaussehend und charismatisch, war "Nasser" ein Redner, der begeisterte und ganz anders als die alten arabischen Honoratioren, die Ben-Gurion gewohnt war. Als die Franzosen Ben-Gurion die Hand hinstreckten, ergriff er sie begierig.

Es war wieder der alte Teufelskreis: (1) Israel unterstützte die französische Unterdrückung der Araber, (2) der Arabische Hass auf Israel wuchs, (3) Israel benötigte die kolonialen Unterdrücker sogar noch mehr.

Vergeblich warnte ich vor diesem katastrophalen Prozess. Als Abd-al-Nasser an die Macht kam, zeigte er Bereitschaft, mit Israel zu reden. Er lud einen Freund von mir, einen hochrangigen, früheren Armeeoffizier, den er im Krieg von 1948 getroffen hatte, zu einem geheimen Besuch nach Kairo ein. Außenminister Mosche Sharett verbot ihm, dorthin zu gehen. Ich glaube, dass damals eine historische Gelegenheit verpasst wurde. Israel tat genau das Gegenteil.

Ben Gurions Abgesandter nach Frankreich war Shimon Peres. Der junge Mann sprach schlechtes Französisch und trug einen blauen, schlecht sitzenden Anzug und wurde ein bekanntes Gesicht in Paris. Mit seiner Hilfe erreichte der Prozess ungeahnte Höhen. Zum Beispiel: Als die UN über den Vorschlag debattierten, die Haftbedingungen des algerischen Führers Ahmed Ben Bella zu verbessern, war Israel das einzige Land in den UN, das dagegen stimmte. (Die Franzosen selbst boykottierten die Versammlung).

Diese unheilige Allianz erreichte ihren Höhepunkt im Suez-Krieg von 1956, in dem Frankreich, Großbritannien und Israel gemeinsam Ägypten angriffen. In jener Zeit organisierte ich den "israelischen Rat für ein freies Algerien". Ich traf mich mit Mitgliedern der "Provisorischen Algerischen Regierung", die wollte uns davon überzeugen, dass die algerischen Juden nach der Unabhängigkeit in ihrer Heimat bleiben sollten.

Die Franzosen riefen Charles de Gaulle zurück an die Macht. Dieser sah ein, dass er dem sinnlosen Krieg ein Ende setzen musste. Peres fuhr jedoch fort, die Allianz zu loben, die, wie er verkündete, nicht auf reinen Interessen sondern auf tiefen gemeinsamen Werten basierte. Ich veröffentlichte diese Rede, Satz für Satz, indem ich jeden einzelnen Satz widerlegte. Ich prognostizierte, dass Frankreich, sobald der Algerienkrieg vorüber sei, Israel wie ein heißes Eisen fallen lassen und seine Beziehungen zur arabischen Welt erneuern würde. Und das ist natürlich genau das, was geschah. (Israel wählte stattdessen die USA).

Bevor Frankreich Algerien verließ, gründeten die französischen Siedler dort die Untergrundbewegung OAS gegen die Freiheitskämpfer und gegen de Gaulle. Zu jener Zeit wurde ein Schiff voller Waffen mitten im Mittelmeer entdeckt. Man fand heraus, dass das Schiff auf dem Weg zu den algerischen Siedlern war. Jeder verdächtigte Peres. Außenministerin Golda Meir, die Peres sowieso hasste, war wütend. In jener Zeit lieferte Peres' Verteidigungsministerium Waffen an viele der schmutzigsten Diktaturen auf der Erde.

Eine der Früchte des Suez-Abenteuers war der Atomreaktor in Dimona. In Israel hält sich die unaustilgbare Legende, dass Peres "der Vater der Bombe" sei.

In Wirklichkeit gehörte der Reaktor zum Preis Frankreichs für den unschätzbar wertvollen Dienst, den Israel Frankreich im Suez-Krieg erwiesen hatte. Er gab auch der französischen Industrie Aufschwung. Einige der notwendigen Materialien wurden durch Diebstahl und Betrug von vielen Orten zusammengeholt.

Alles in Allem hatte seine Verwicklung mit Frankreich Israel geschadet. Die Kluft zwischen ihm und der arabischen Welt wurde zu einem Abgrund.

(Anders als die meisten meiner Freunde im israelischen Friedenslager, habe ich mich nie gegen Israels nukleare Bewaffnung ausgesprochen. Die Bombe konnte den Israelis ein Gefühl der Sicherheit geben, das als Dach für die Friedenbemühungen dienen konnte. Ich habe Peres nie für seinen Anteil an dieser Sache angegriffen.)


DIE KARRIERE von Peres ähnelt der Legende von Sisyphus, dem Held des altgriechischen Mythos, der von den Göttern verurteilt wurde, einen schweren Felsblock auf die Spitze eines Berges zu rollen, aber jedesmal, wenn er sich seinem Ziel näherte, entglitt der Felsblock seinen Händen und rollte wieder hinunter.

Nach dem Sinai-Krieg bekam Peres' Glückssträhne neuen Auftrieb. Der Architekt der Beziehungen mit Frankreich, der Mann, der den Atomreaktor erhalten hatte, wurde zum Stellvertretenden Verteidigungsminister ernannt und war auf dem Weg, ein angesehenes Kabinettsmitglied zu werden, als alles zusammenbrach. Ben-Gurion bestand darauf, eine scheußliche Sabotageaffaire in Ägypten zu veröffentlichen und wurde von seinen Kollegen abgesetzt. Er bestand auf der Gründung einer neuen Partei, die Rafi genannt wurde. Peres war, ebenso wie Moshe Dayan, sehr zu ihrer beider Missvergnügen gezwungen, Ben Gurion zu begleiten. Ben Gurion beherrschte ihr Leben.

Ben-Gurion war nicht aktiv, Dayan tat wie üblich nichts, und so oblag es Peres, den Wahlkampf zu betreiben. Mit seiner üblichen unermüdlichen Energie beackerte er das Land. Aber bei den Wahlen gewann die Partei trotz all ihrer glänzenden Stars nur 10 Sitze in der Knesset, die aus 120 Mitgliedern besteht, und ging in eine machtlose Opposition über. Peres Felsblock rollte hinunter.

Und dann kam die Rettung - fast. Abd-al-Nasser sandte seine Armee in den Sinai, in Israel brach Panik aus. Die Rafi-Partei beteiligte sich an der Regierung. Peres erwartete seine Ernennung zum Verteidigungsminister, aber im letzten Augenblick erhielt der charismatische Dayan die begehrte Position. Israel errang in sechs Tagen einen haushohen Sieg, und der Mann mit der schwarzen Augenklappe wurde eine weltweite Berühmtheit. Der arme Peres musste sich mit einem weniger wichtigen Amt begnügen. Der Felsblock rollte wieder hinunter.

Rafi schloss sich der Labor-Partei an. Als ich Peres in der Knesset traf, fragte ich ihn, wie er sich fühle. "Ich will mit einem Scherz antworten", antwortete er. "Ein Mann heiratet, und seine Kollegen fragen ihn nach seiner Frau. 'Es ist eine Geschmacksfrage', antwortete der Mann, 'sie ist nicht nach meinem Geschmack.'"

Sechs Jahre lang schmachtete Peres, wohingegen Dayan sich in der weltweiten Bewunderung von Männern und insbesondere von Frauen sonnte. Und dann hat sich das Blatt wieder gewendet. Am Jom Kippur überquerten die Ägypter den Suez-Kanal und errangen einen unglaublichen Anfangssieg. Dayan zerbröckelte wie ein tönernes Götzenbild. Nach einiger Zeit waren sowohl Golda Meir, als auch Dayan zum Rücktritt gezwungen.

Und wer folgte Golda als Ministerpräsident? Peres war der offensichtliche Kandidat. Er war nicht in die Fehler verwickelt, die zum Krieg führten. Er war ein Verteidigungs-Experte. Er war jung und vielversprechend. Der Fels näherte sich der Bergspitze, als wieder etwas Unglaubliches passierte.

Wie aus dem Nichts erschien Yitzhak Rabin, der im Land geborene Junge, der Sieger des Sechs-Tage-Kriegs. Er schnappte Peres die Krone genau vor der Nase weg. Aber er war gezwungen, Peres, den er nicht mochte, zum Verteidigungminister zu ernennen. Der Fels war wieder auf halbem Weg nach oben.

Die folgenden Jahre wurden für Rabin zur Hölle. Der Verteidigungsminister hatte nur ein Ziel in seinem Leben: den Premierminister zu demütigen und zu schwächen. Das wurde zu einer Vollzeitbeschäftigung.

Die Feindschaft zwischen den beiden, die im Krieg von 1948 ihren Anfang genommen hatte, verwandelte sich in regelrechten Hass.

Rabin hatte seine Freude an Peres' Misserfolgen. Zum Beispiel: Als Verteidigungsminister war Peres für die besetzten Gebiete zuständig. Eines Tages ordnete er Wahlen für die Stadtgemeinden an. Er war sicher, dass harmlose alte Honoratioren gewählt würden. Aber stattdessen wählten die Palästinenser junge Pro-PLO-Aktivisten. Als ich Rabin zufällig am folgenden Tag besuchte, feierte er das.

Um Rabin zu ärgern tat Peres etwas von historischer Bedeutung: Er schuf die ersten Siedlungen mitten in der besetzten Westbank und begann mit einem Prozess, der nun Israels Zukunft bedroht. Bis dahin wurden Siedlungen nur an den Rändern der Westbank gebaut. Kein Wunder, dass die Siedler bei der Beerdigung ein Loblied auf ihn sangen.

Das geschah nicht zufällig. Schon am Tag nach der Besetzung, als ich dazu aufrief, sofort einen palästinensischen Staat zu gründen, stand Peres einer neuen Organisation mit dem Namen "Das ganze Eretz-Israel" nahe. Diese befürwortete die Annektierung aller besetzten Gebiete durch Israel.

Wütend, wie er war, gab Rabin ihm den Spitznamen, der ihm seitdem anhaftet: "Der unermüdliche Intrigant".

1976 wurde beschlossen, eine sehr gefährliche Operation auf dem Entebber Flughafenfeld in Uganda zu unternehmen, um eine Anzahl von Geißeln, zu denen viele Israelis gehörten, zu befreien. Sofort begann in Israel ein Kampf um die Lorbeeren. Peres beanspruchte den Erfolg für sich, da der gewagte Plan in seinem Ministerium ausgearbeitet worden sei. Rabins Bewunderer bestanden darauf, dass er die Entscheidung getroffen und offen die Verantwortung übernommen habe.

Dies wirft übrigens ein Licht auf eine andere bedeutende Tatsache: Peres funktionierte am Besten, wenn er die Nummer 2 war. Bei Ben-Gurion war er die Nummer 2 in der französischen Affäre. Er war die Nummer 2 im Entebbe und später in Oslo.

Ein Jahr später musste Rabin vorgezogene Neuwahlen abhalten. Ein paar Kampfflugzeuge, die Israel von den USA bekommen hatte, kamen am Freitag in Israel an und es wurde für die Ehrengäste zu spät, nach Hause zu kommen, ohne den Sabbat zu entweihen. Die religiösen Parteien rebellierten. Rabin führte natürlich die Parteiliste an.

Dann geschah etwas. Es kam heraus, dass Rabin, nachdem er den Posten des Botschafters in den USA verlassen hatte, ein Bankkonto in Amerika zurückgelassen hatte - etwas, das damals verboten war. Rabins Ehefrau wurde beschuldigt. Rabin nahm die Schuld auf sich und trat zurück. So wurde Peres die Nummer 1 auf der Liste und letztendlich näherte sich der Felsblock der Bergspitze.

Am Abend nach der Wahl feierte Peres schon seinen Sieg, als etwas Unglaubliches geschah. Menachem Begin, von vielen als Faschist angesehen, hatte gewonnen. Der Fels rollte wieder abwärts.


AM ABEND des Libanonkrieges von 1982 (bei dem ich Yasser Arafat traf) gingen die Oppositionsführer Peres und Rabin zu Begin und forderten ihn auf, in den Libanon einzudringen.

Der Krieg endete mit dem Massaker von Sabra und Shatila und Begin fiel in eine tiefe Depression. Er trat ab und sein Amtsnachfolger wurde ein weiterer ehemaliger Terrorist, Yitzhak Shamir. Eine Art Übergangsregierung folgte, da keine der beiden großen Parteien alleine herrschen konnte. Ein zweiköpfiges Rotationssystem entwickelte sich. In einer seiner Perioden als Premierminister erntete Peres unumstrittene Lorbeeren als der Mann, der Israels Inflation in dreistelliger Höhe überwand und den Neuen Schekel einführte, der immer noch unsere Währung ist.

Der Fels rollte wieder nach unten, als etwas sehr Hässliches geschah. Vier arabische Jugendliche kidnappten einen Bus voller Leute und fuhren ihn nach Süden. Der Bus wurde gestürmt. Die Regierung behauptete, dass alle vier im Kampf getötet wurden; aber dann veröffentlichte ich ein Foto, auf dem zwei von ihnen nach der Gefangennahme noch lebend zu sehen waren. Daraus wurde ersichtlich, dass sie kaltblütig vom Sicherheitsdienst exekutiert worden waren.

Inmitten dieser Angelegenheit wurde Peres der Nachfolger von Shamir, wie zuvor vereinbart worden war. Peres verschaffte allen Mördern eine Begnadigung, einschließlich des Chefs des Shin Bets.


RABIN KEHRTE an die Macht zurück, mit Peres als Außenminister. Eines Tages verlangte Peres, mich zu sehen - ein ungewöhnliches Ereignis, da die Feindschaft zwischen uns bereits sprichwörtlich geworden war.

Peres belehrte mich über die Notwendigkeit, Frieden mit der PLO zu schließen. Da dies seit vielen Jahren mein Hauptlebensziel war, konnte ich mein Lachen kaum verkneifen. Er berichtete mir dann streng vertraulich von den Oslo-Verhandlungen und bat mich, meinen Einfluss geltend zu machen, um Rabin zu überzeugen.

Peres hatte sicherlich seinen Teil zu dem Abkommen beigetragen, aber Rabin war derjenige, der die folgenschwere Entscheidung traf - und der sie mit seinem Leben bezahlte. In meiner Vorstellung sehe ich den Mörder, der mit der geladenen Pistole am Fuß der Treppe wartet, Peres ein paar Zentimeter entfernt an sich vorbeigehen lässt und auf Rabin wartet, der ein paar Minuten später hinunterkommt.

Das Nobelpreiskomitee entschied zunächst, den Friedenspreis an Arafat und Rabin zu verleihen. Peres Anhänger in der ganzen Welt setzten Himmel und Hölle in Bewegung, bis das Komitee Peres mit auf die Liste setzte. Die Gerechtigkeit verlangte, den Preis auch an Mahmoud Abbas zu verleihen, der mit Peres unterzeichnet hatte. Aber die Statuten erlauben nur drei Nobelpreisträger. Deshalb wurde Abbas kein Nobelpreisträger. Er protestierte nicht.

Nach Rabins Tod wurde Peres vorübergehend Premierminister. Hätte er sofortige Wahlen angeordnet, so hätte er einen Erdrutschsieg errungen. Aber Peres wollte nicht auf der Erfolgswelle des Toten mitschwimmen. Er wollte aufgrund seiner eigenen Verdienste gewinnen. Er verschob die Wahlen um ein paar Monate.

Das war die große Gelegenheit seines Lebens. Endlich war er Ministerpräsident und konnte selbst Entscheidungen treffen. Es war eine Katastrophe.

Zuerst gab er Befehl, den "Ingenieur", einen gefeierten palästinensischen Kämpfer ("Terroristen") zu töten. Als Konsequenz wurden im ganzen Land Busse in die Luft gejagt. Dann überfiel er den Libanon, eine Operation, die mit einem schrecklichen (versehentlichen) Massaker in Kafr Kana endete.

Die darauf folgenden Wahlen verlor er an Benjamin Netanjahu.

(Das veranlasste mich zu dem Scherz: "Wenn eine Wahl verloren werden kann, wird Peres sie verlieren. Wenn eine Wahl nicht verloren werden kann, wird Peres sie trotzdem verlieren.")


ICH HABE Peres nie gehasst. Ich glaube, dass auch er mich nicht hasste. Die Feindschaft zwischen uns war rein politisch.

Von Zeit zu Zeit begegneten wir uns. Einmal luden der berühmte Dirigent Zubin Mehta und seine Frau meine Frau und mich zum Abendessen in sein Haus ein. Als wir dort ankamen, überraschte uns die Entdeckung, dass außer uns nur noch Schimon Peres und seine Frau Sonja dort waren. Es war ein interessanter Abend. Peres erwies sich als amüsanter Unterhalter voller sardonischem Humor. Er beschrieb lang und breit ein Treffen des Kabinetts mit Henry Kissinger. Dabei stellte er nacheinander das Verhalten eines und des anderen Ministers dar: Ein Minister verbrachte das Treffen damit, sich die Fingernägel sauberzumachen, ein anderer aß die ganze Zeit über und so weiter.

Eine der Legenden, die keine Mühe hatte, sich zu verbreiten, war, dass er ein eifriger Leser war: er las alle bedeutenden Bücher, sobald sie erschienen sind. Die New York Times lobte ihn nach seinem Tod als den "politischen Philosophen". Die Wahrheit ist, dass er überhaupt keine Bücher las.

Sein enger Assistant Boas Appelboim teilte mit, dass es seine Aufgabe gewesen sei, Bücher zu lesen und eine kurze Zusammenfassung für Peres herzustellen. Er sollte ein oder zwei Zitate hinzufügen, die es Peres ermöglichen würden, in einem Gespräch eine kenntnisreiche Bemerkung fallenzulassen. Das machte dann tiefen Eindruck.

Dies wird von einer einfachen Beobachtung bestätigt. Wenn eine Person Bücher liest, so äußert sich das auf die eine oder andere Weise. Nichts davon konnte in den unzähligen Reden von Peres entdeckt werden. Alle seine Reden waren politisch, flach und trocken.

(Tatsächlich hat kein aktiver Politiker Zeit zum Lesen. Ben Gurion gab auch vor, ein Mann des Buches zu sein, ein Bibel-Kommentator und ein Erneuerer der hebräischen Sprache. Er erzählte uns, dass er Spanisch gelernt habe, zu dem einzigen Zweck, Don Quixote im Original lesen zu können. Aber Ben Gurion war auch ein Politiker - ein politisches Genie, aber nichts außer Politiker.)

Eine der wirklichen Talente von Peres war seine Fähigkeit, kluge Phrasen zu kreieren. Es gibt Hunderte von ihnen, von "der Neue Nahe Osten", eine Phrase, die keinerlei Substanz hat, bis zum "schweinischen Kapitalismus", was ihn nicht daran hinderte, sich mit den Reichen der Welt zu verbrüdern.


IN ALLEN Wahlkampagnen wurde Peres verflucht und beleidigt. Leute bewarfen ihn mit faulen Tomaten. Einmal beschwerte er sich über "ein Meer von (obszönen) Gesten der Orientalen", was bewirkte, dass er noch mehr von den Bürgern orientalischer Abstammung abgelehnt wurde.

Während dieser Zeit tat Peres etwas Kluges: er unterzog sich einer plastischen Operation. Sein Aussehen verbesserte sich auffallend.

Die endgültige Blamage kam, als Peres für die Wahl zum Staatspräsidenten antrat. Der Präsident, ein Repräsentant ohne wirkliche Macht, wird von der Knesset gewählt. Peres jedoch verlor gegen eine Person ohne jegliche Bedeutung, einen Likud-Partei-Mitläufer namens Moshe Katzav. Das schien eine endgültige Beleidigung zu sein.

Aber dann geschah wieder das Unglaubliche. Katzav wurde inhaftiert und der Vergewaltigung schuldig befunden. In der darauffolgenden Wahl wählte die Knesset Peres in einer Art Anfall kollektiven schlechten Gewissens.

Der Felsblock hatte die Bergspitze endlich doch erreicht. Aufgrund seiner unermüdlichen Energie hatte Sisyphus am Ende gewonnen. Der lebenslange Politiker, der nie eine Wahl gewonnen hatte, war nun Präsident - und wurde über Nacht sehr populär, der Liebling der Massen. Es war wie ein Wunder.

Er nutzte seine neue weltweite Berühmtheit dazu, Netanjahus Regierung und dessen Politik der Besetzung und Unterdrückung als Feigenblatt zu dienen. Währenddessen wurde er im Ausland als Mann des Friedens verehrt.

Peres waren einige Jahre vergönnt, die neu gewonnene Liebe des Volkes zu genießen, die zu gewinnen sein ganzes Leben hindurch sein Ziel gewesen war. Und dann kam der Schlaganfall.

Sein Begräbnis wurde zu einer nationalen und internationalen Veranstaltung erster Klasse. Peres wurde zu einem der großen Männer der Welt gekrönt, zum ultimativen Mann des Friedens, zum Gründer des Staates Israel und zum großen Denker. Er hätte eine Figur in einem Shakespeare-Drama sein können.

Sisyphus wurde beerdigt. Und der Fels bleibt auf der Bergspitze.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 08.10.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Oktober 2016

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