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STANDPUNKT/591: Die populistische Herausforderung - Pure Vernunft darf niemals siegen (spw)


spw - Ausgabe 4/2016 - Heft 215
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Die populistische Herausforderung: Pure Vernunft darf niemals siegen

von Tobias Boos und Benjamin Opratko


Die Benennung einer politischen Partei, eines Politikers oder einer Politikerin als "populistisch" ist folgenschwer. Denn "Populismus" ist zunächst vor allem eines: politischer Kampfbegriff. Mit ihm verhielt es sich lange ähnlich wie mit der "Ideologie". Wie der britische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton einmal launig bemerkte, ist diese "wie Mundgeruch immer das, was die anderen haben" (Eagleton 2000: 8). Niemand wollte populistisch sein, das Attribut war, jedenfalls in Europa, nie Selbstbezeichnung sondern stets Fremdurteil. So eingesetzt vollzieht die Bezeichnung eine doppelte Operation. Zum einen disqualifiziert sie das Gegenüber als gefährlichen Demagogen, der mit den Hoffnungen und Emotionen seiner UnterstützerInnen spielt; als einen, der leere Versprechungen tätigt, um an die Macht zu gelangen oder sich an dieser zu halten. Zum anderen stellt der Adressant sich selber ins Recht. Er markiert seinen eigenen Standpunkt als vernunftgeleiteten, der sich gegen die Irrationalität errichtet. Anderen Positionen wird in dieser rationalistischen Geste die Legitimität abgesprochen.

Lange Zeit wurde diese Operation fast ausschließlich gegenüber der politischen Rechten vollzogen. Ja, der Begriff Begriff "Populismus" selbst wurde wie selbstverständlich der Rechten zugeschlagen. Als in den 1990er Jahren rechtsextreme Parteien wie der Front National oder die Freiheitliche Partei Österreichs europaweit Aufsehen erregende Wahlerfolge feierten, wurde dies meist sorgenvoll als "Aufstieg des Rechtspopulismus" diskutiert. In weiterer Folge wurde "Rechtspopulismus" fast zum Pleonasmus, das Attribut "rechts" konnte geflissentlich weggelassen werden. Dass populistische Parteien zugleich ausländerfeindlich und nationalistisch agierten, schien selbstverständlich.

Die gegenwärtige Hochkonjunktur des Populismus-Begriffs in Deutschland hat auch mit dem Aufstieg neuer rechter und rechtsextremer politischer Formationen zu tun. Die regionalen Wahlerfolge der AfD sowie die Straßenmobilisierungen von Pegida und Ablegern gelten als Beleg dafür, dass der Rechtspopulismus nun auch in der Bundesrepublik angekommen sei (vgl. Decker 2014; Häusler 2016). Sie findet allerdings unter veränderten Bedingungen statt - denn das Debattenfeld hat sich in den letzten Jahren merklich und in zweierlei Hinsicht verschoben. Erstens wird die Bezeichnung, und mit ihr das Urteil, von seiner exklusiven Verortung am rechten Rand des politischen Raums gelöst. Das Attribut "populistisch" ist seit kurzem auch schnell bei der Hand, um politische Kräfte von links zu disqualifizieren, die sich zum Beispiel gegen die Austeritätspolitik der Europäischen Union stellen. Wer etwa Jan Werner Müllers zuletzt viel diskutierten(1) Essayband zum Thema zur Hand nimmt, erblickt unter dem Titel "Was ist Populismus" nicht nur die Konterfeis von Rechtspolitikern wie Marine Le Pen, Geert Wilders und Viktor Orbán, sondern auch den verstorbenen Revolutionär und venezolanischen Staatspräsidenten Hugo Chávez (Müller 2016). Als populistisch gilt in der medialen und politischen Debatte Deutschlands zudem die junge Partei Podemos, die in Spanien die Opposition zur europäischen Austeritätspolitik organisiert; auch SYRIZA in Griechenland wurde so geheißen, bis das Linksbündnis sich dem Druck der Troika-Institutionen beugte und den Widerstand gegen die Politik neoliberaler Strukturanpassung aufgab. Indem die in der Abgrenzung von Rassismus und Nationalismus aufgeladene Vokabel nun jenen Kräften umgehängt wird, gerät die Populismus-Diskussion allzu leicht zum Abwehrmanöver, das gesellschaftliche Alternativen delegitimiert. Statt Politik als Konflikt zwischen unterschiedlichen Positionen und Auseinandersetzung um alternative gesellschaftliche Entwicklungsweisen zu verstehen, wird das Gegebene als vernünftig, seine Herausforderung als irrational und gefährlich markiert. Darin wird der postpolitische Charakter dieser Geste deutlich. Sie verteidigt vor allem den Status-quo.

Eine zweite Verschiebung in der Populismus-Diskussion der jüngsten Zeit, die mit der ersten einhergeht ist, dass zumindest einzelne linke Kräfte beginnen, sich selbst affirmierend auf den Begriff des Populismus zu beziehen. So etwa Podemos in Spanien: Íñigo Errejón, Wahlkampagnenleiter und sogenannte Nummer zwei von Podemos, nimmt für sich explizit die Position eines linken Populismus in Anspruch (vgl. Errejón/Mouffe 2015). Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt sind zudem die progressiven Linksregierungen in Lateinamerika, auf deren Erfahrungen das Projekt Podemos stark Bezug nimmt (vgl. Iglesias 2015). Auch in der deutschen Linken kommt diese Debatte langsam an (vgl. Solty/Werner 2016). Sie ist inspiriert von den Erfahrungen von Podemos, Syriza, aber auch von Bernie Sanders in den USA und Jeremy Corbyn in Großbritannien. Dazu kommen intellektuelle Interventionen wie jene der Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, die für eine europaweite "linkspopulistische Bewegung" wirbt (Mouffe 2015). Was darunter zu verstehen sei, bleibt jedoch recht vage. Positive Bezüge auf einen zu schaffenden Linkspopulismus versprechen sich von ihm eine echte Alternative zur neoliberalen Einheitsfront, die den rechten Populisten das Monopol auf Opposition gegen die Eliten streitig machen könnte (vgl. Bebnowsky/Goes 2015; Nachtwey 2016; Solty/Werner 2016). "Linkspopulismus" ist in diesem Sinne Code für eine politische Besinnung auf ein Programm "sozialer Demokratie mit aktiver Massenbeteiligung" in klarer Abgrenzung von "technokratischer Austeritätspolitik" (Solty/Werner 2016: 283). Demgegenüber mahnen andere Linke, wie der Herausgeber der "Blätter für deutsche und internationale Politik", Albrecht von Lucke, vor der linkspopulistischen "Versuchung und Gefahr" (Lucke 2015: 50): Die im Linkspopulismus enthaltene Dynamik der Polarisierung und Emotionalisierung der Politik würde verheerende Folgen für das demokratische Gemeinwohl zeitigen, die von der Linken nicht mehr eingefangen werden könnten. Thomasz Konicz (2016) bestreitet ebenfalls vehement, dass ein Linkspopulismus, zumal in Deutschland, politisch zum Positiven wirken könnte. Die damit aus seiner Sicht notwendig einhergehende Anbiederung an im Volk weit verbreitete rassistische Ressentiments verwandle linken "nahezu zwangsläufig in Rechtspopulismus".

Im deutschen Streit um den Linkspopulismus werden aktuell grundlegende strategische, weltanschauliche und gesellschaftstheoretische Differenzen auch und gerade innerhalb der Linken neu vermessen. Gelegentlich ermöglicht er produktive und notwendige politisch-strategische Auseinandersetzungen, in denen die verschiedenen Positionen zumindest sichtbar gemacht und gewogen werden können (vgl. Kaindl/Solty/Lucke 2016). Zugleich divergieren die zahlreichen Abhandlungen zum Thema jedoch stark in ihren theoretischen Bezügen und methodischen Herangehensweisen. Es dominiert vorwiegend eine vergleichende Perspektive, die versucht unterschiedliche Typologien des Populismus zu erstellen. Der Fokus liegt hier zumeist auf den politischen Institutionen sowie Formen der Kommunikation. Weil jedoch zumeist westliche liberal-repräsentative Demokratien ahistorisch als Abgrenzungsfolie firmieren, kippen diese nicht selten in eine Defizitperspektive: Populismus wird als deviante Politikform verstanden, anti-institutionell, anti-pluralistisch und letztlich eine Gefahr für die Demokratie.

Um sinnvoll über die Potenziale und Gefahren des Populismus für progressive Politik zu diskutieren ist also eine theoretische Klärung nötig. Nicht zuletzt um Missverständnissen wie jenem zu entgehen, dem Thomasz Konicz aufsitzt, wenn er meint, die zentrale These des linken Populismus sei "Das Volk weiß am besten, was es will. Man muss ihm nur gut zuhören und ihm dienen" (Konicz 2016). Tatsächlich bezieht sich die Politik des Linkspopulismus, wie sie derzeit am prominentesten von Podemos in Spanien verfolgt wird, auf ein durchaus komplexes Set an gesellschaftstheoretischen Überlegungen. Diese sind vor allem mit dem Namen Ernesto Laclau verbunden. Der 2014 verstorbene politische Theoretiker war in den Jahren vor seinem Tod zu einem der wichtigsten öffentlichen Intellektuellen der progressiven Linksregierungen in Lateinamerika aufgestiegen. Seine Thesen lieferten so etwas wie den polittheoretischen Unterbau für deren auf die popularen Klassen gerichtete Politik. Der laclausche Theoriebaukasten wurde häufig als eine Art Strategieanleitung gelesen (Boos/Schneider 2016). Auch die Führungsriege von Podemos und dort insbesondere Íñigo Errejón gründet weite Teile der linkspopulistischen Strategie auf Laclaus Überlegungen (vgl. Errejón/Mouffe 2015). Diese zu kennen ist nötig, um jene verstehen und einschätzen zu können.

Ernesto Laclaus Interesse am Populismus reicht weit zurück. Bereits in den 1970er Jahren beschäftigte sich der argentinische Theoretiker mit dem Phänomen des Populismus (vgl. Laclau 1981). Bevor er 2005 mit dem Buch "On Populist Reason" explizit zum Thema zurückkehrte, war er hauptsächlich durch sein gemeinsam mit Chantal Mouffe verfasstes, 1985 erschienenes Werk "Hegemony and Socialist Strategy" (dt. "Hegemonie und radikale Demokratie", Laclau/Mouffe 1991) zu einem der prägendsten Theoretiker der globalen Linken geworden. In Retrospektivewar die Frage des Populismus jedoch auch in diesem Werk stets präsent. Das brachte Laclau den Vorwurf ein, dass ihm bei der Ausarbeitung seiner Hegemonietheorie eigentlich stets eine populistische Hegemonie vorgeschwebt sei. Und tatsächlich wandeln sich seine Begriffe Hegemonie, Politik und Populismus in seiner letzten Schaffensphase zunehmend zu Synonymen. In "On Populist Reason", stellt der schließlich fest, dass die Logik des Populismus nichts Geringeres sei als "der Königsweg, um etwas über die ontologische Konstitution des Politischen als solches zu verstehen" (Laclau 2005: 67). Populismus ist ihm also nicht die Ausnahme, sondern die Regel der Politik im modernen Staat. Diese besteht maßgeblich im Ringen um Hegemonie, d.h. in der Auseinandersetzung darum, welche "Kollektivwillen" ausreichend gesellschaftliche Zustimmung organisieren können, um ihr jeweiliges politisch-moralisches Projekt zur Leitidee gesellschaftlicher Entwicklung zu machen. Dieser Prozess, so Laclau, folgt einer spezifischen Logik, die er anhand des Populismus meint besonders anschaulich illustrieren zu können. Letztlich fallen Populismus, Hegemonie und Politik schlechthin für ihn zusammen.

Was ist nun für Laclau der Populismus? Woraus besteht der "Theoriebaukasten", den er den lateinamerikanischen und spanischen Linken vermacht hat? Laclau wählt als Ausgangspunkt seiner Populismusanalyse die Ansammlung unerfüllter gesellschaftlicher Forderungen und Anliegen. Zentral ist dabei, dass es ein antagonistisches Gegenüber gibt, das als Grund für das Nichterfüllen dieser Forderungen ausgemacht wird. Gemein ist den Forderungen zunächst nur, dass sie unerfüllt bleiben und ihre Opposition zu diesem Gegenüber. Das Gegenüber ermöglicht also erst die Konstruktion eines Gemeinsamen - es fungiert als "konstitutives Außen". Die eigentlich heterogenen Forderungen können sich auf dieser Basis zu einer sogenannten Äquivalenzkette verbinden - eine Operation, die Laclau "Artikulation" nennt. Um jedoch nicht nur eine kurzzeitige gemeinsame Identifikation zu sein, sondern fortbestehen zu können, muss das Gemeinsame wiederum in irgendeiner Weise eine Repräsentation erfahren. Eines der Kettenglieder übernimmt diese symbolische Repräsentationsfunktion, indem sich die unterschiedlichen Anliegen in ihm konzentriert einschreiben. Laclau nennt dieses Glied, das immer mehr Bedeutungen und Forderungen in sich aufnimmt und nach außen repräsentiert, einen "leeren Signifikanten". Leer ist er, weil er durch das Einschreiben der anderen Forderungen und Anliegen selber tendenziell inhaltlich entleert wird.

Vor diesem Hintergrund erschließt sich die Hypothese von Podemos und ihr proklamiertes Ziel. eine soziale Mehrheit in eine politische Mehrheit umzuwandeln (Errejón 2014). "No nos representan" - "sie repräsentieren uns nicht" lautete der Slogan der Indignados, die sich ab dem 15. Mai 2011 auf der Puerta del Sol in Madrid versammelt hatten. Die Gründe und Anliegen der Protestierenden waren dabei überaus heterogen. Die Proteste im Zuge der politischen und ökonomischen Krise in Spanien hatten zunächst nur gemein, dass sie das Bestehende ablehnten. Podemos ist der Versuch, diese heterogene Ansammlung in einem gemeinsamen Projekt zu bündeln. Als antagonistisches Gegenüber fungiert dabei der Begriff der "Kaste" (la casta). Sie steht für die alte Ordnung und ihre RepräsentantInnen, ein Klüngel aus politischen und ökonomischen Eliten, die als strukturell korrupt und dem Volk (el pueblo) äußerlich dargestellt werden.

Dieser Aspekt der Podemos-Strategie sowie deren Bezüge auf Laclau, d.h. die Konstruktion eines politischen Projektes, das sich entlang eines klaren Antagonismus konstituiert, wird und wurde weltweit intensiv diskutiert. Nicht selten wird im "Modell Podemos" ein Ausweg aus der eigenen gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit und in der populistischen Erneuerung eine Möglichkeit für neue linke Projekte auch außerhalb Spaniens gesehen. Insbesondere für linke Intellektuelle übt die Theorie Laclaus und ihre Applikation durch Pablo Iglesias und Íñigo Errejón eine starke Anziehungskraft aus. Neben den spektakulären Mobilisierungen und Wahlerfolgen von Podemos sind die Gründe für diese Attraktivität auch in der laclauschen Theorie selbst zu suchen. Bereits 1986 hatte die in diesem Jahr verstorbene US-amerikanische Marxistin Ellen Meiksins Wood kritisch auf deren intellektuelle Verführungskraft hingewiesen: Statt mühevoller Maulwurfsarbeit versprächen Laclau und Mouffe dem linken Intellektuellen einen Platz in der Kommandozentrale der Geschichte. Falsch verstanden reduziere die Theorie den Aufbau eines linken Projekts auf die diskursive Konstruktion von Äquivalenzketten (Meiksins Wood 1986: 47-75). Das "Erdenken" des richtigen leeren Signifikanten unter dem sich alle versammeln können, wird dann zur prioritären Aufgabe linker Politik. Dies wurde zuletzt auch verstärkt der Führungsgruppe von Podemos vorgeworfen: Mit der Konzentration auf die Entwicklung immer neuer Kommunikationsstrategien hätte sie die praktische Organisierung an der Basis vernachlässigt und die politischen Inhalte der diskursiven Form untergeordnet. Einer der Mitgründer von Podemos formulierte diese Kritik nach den letzten Wahlen im Juni bildhaft:"Die brillante Idee, das Wahlprogramm in Form eines IKEA-Katalogs zu drucken ist nutzlos, wenn sie nicht dazu beiträgt deine Pläne für das Land offen zulegen. Die Leute sind begeistert von der Katalogidee, wollen aber sehen wie die aufgebauten Möbel aussehen. Zumindest aber wollen sie dich mit den Werkzeugen in der Hand schrauben sehen - auch wenn es nur die mitgelieferten Inbus-Schlüsselchen sind" (Monedero 2016).

Neben den strittigen Fragen nach dem Verhältnis von Form und Inhalt, Führung und Basis, lokaler Organisierung und nationaler Strategie - die allesamt sowohl in Spanien als auch in der globalen Linken teils hitzig diskutiert werden - wird ein spezifischer Aspekt der linkspopulistischen Strategie oft vernachlässigt. Wir wollen auf ihn gesondert eingehen, weil er aus unserer Sicht eine zentrale Schwachstelle linker Politik benennt und zu beheben versucht. Es handelt sich um die Rolle von Affekten und Emotionen in der Politik. Es ist ein häufiger Fehler, das Projekt Podemos auf eine rationale Diskursstrategie zu beschränken. Vielmehr sticht der Versuch ins Auge, neue Narrative und Politikformen zu schaffen, die eine emotionale Bindung breiter Bevölkerungsteile an progressive politische Inhalte ermöglichen (Boos 2015). Auch dies findet sich bereits im Werk von Laclau. Dieser verwendet immerhin das komplette erste Drittel seiner Schrift zur "populistischen Vernunft" darauf, einer liberalen Perspektive historisch-kritisch nachzuspüren, die in ihrer rationalistischen Politikkonzeption nichts als tiefes Misstrauen und Verachtung für die popularen Massen übrig hat. Getrieben von der Furcht vor Aufständen, Tumulten und Rebellionen begannen bürgerliche Intellektuelle des 19. Jahrhunderts Erklärungen für das Verhalten dieser aus ihrer Sicht amorphen Massen zu suchen. Dies war die Geburtsstunde der Massen- und Gruppenpsychologie, die in pathologisierender Perspektive die Suggestionsanfälligkeit des gemeinen Volkes als Ausdruck der Irrationalität und Affektsteuerung der Masse zu erkennen meinte. Ein rationales, vernunftbegabtes, stets männlich, weiß und europäisch gedachtes Individuum wurde der irrationalen, emotionsgeleiteten und devianten Masse gegenübergestellt. Dazu imstande und berechtigt Politik zu machen, war aus ihrer Sicht selbstverständlich nur Ersteres. Diesem Rationalismus hält Laclau seine eigene Populismuskonzeption entgegen. Auf Lacans Psychoanalyse zurückgreifend argumentiert er, dass es ohne das Aufbringen affektiver Energie keinen Populismus, ja eigentlich gar keine Politik geben kann (Laclau 2005: 116). Für ihn bleibt jegliche hegemoniale Formation unverständlich "bezieht man nicht die affektive Komponente mit ein." (ebd.: 111).

Man muss dem spezifisch Lacan'schen Twist in der Argumentation Laclaus nicht zwingend zustimmen, trotzdem erscheint uns seine Kritik an einer rein rationalistischen Politikkonzeption bedeutsam: Sowohl für ein tieferes Verständnis rechtspopulistischer Erfolge, als auch für strategische Überlegungen für linke, emanzipatorische Projekte. Gerade in der Auseinandersetzung mit der populistischen Rechten wenden deren GegnerInnen häufig jene rationalistischen und nicht selten elitistischen Haltungen an, die Laclau kritisiert. Hier offenbart sich die (häufig unreflektierte) Kontinuität zur liberalen Tradition in der viele Arbeiten zum Populismus bis heute stehen.

Ein anschauliches Beispiel dafür lieferte jüngst der Umgang linksliberaler KommentatorInnen mit Donald Trumps Wahlkampfstrategie. Auf dem Parteitag, auf dem die Republikaner, Trump zum Präsidentschaftskandidaten nominierten, waren fast alle Reden darauf angelegt, ein Gefühl der Furcht zu erzeugen. Amerika wurde als von allen Seiten bedroht dargestellt, die Gefahr für Leib und Leben als allgegenwärtig ausgerufen. Nur ein Präsident Donald Trump könnte Amerika wieder sicher machen. Ein zentrales Element dieses Narrativs war das Thema Kriminalität. In einem CNN-Interview am Rande des Parteitags wurde Newt Gingrich, republikanischer Routinier und Trump-Unterstützer, darauf angesprochen, dass entgegen seiner Behauptungen die Zahl der Gewaltverbrechen in den USA laut FBI-Statistiken kontinuierlich gesunken und auf dem tiefsten Stand seit Jahrzehnten sei. Gingrich reagierte unbeirrt: Der durchschnittliche Amerikaner sei nicht dieser Meinung und fühle sich nicht sicherer - und das sei es schließlich, was für ihn als Politiker zähle: "As a politician, I go with what people feel, and I let you go with the theoreticians". "Liberals" hätten vielleicht Statistiken, mit denen sie dies oder jenes theoretisch zeigen könnten, so Gingrich, "doch das ist nicht wo die Menschen sind".? Es ist allzu einfach, diese Episode als Illustration für die durchtriebene Strategie populistischer Führungsfiguren heranzuziehen, eine faktenblinde, emotionsgeleitete Gefolgschaft zu aufzuwiegeln. Genauso reagierten auch linksliberale KommentatorInnen in den USA, die Gingrich und Trump vorwarfen, so zu tun als wären subjektive "Gefühle" wichtiger als objektive "Fakten". Und doch hat Gingrich, bei aller offen zur Schau getragenen Demagogie, nicht nur Unrecht. Wenn Menschen massenhaft ihr Leben als unsicher erfahren, ist das ein soziales Faktum, dem mit dem Verweis auf aggregierte, statistisch aufbereitete Zahlen nicht beizukommen ist. Natürlich ist die spezifische Furcht vor Straßenkriminalität, die hochgradig rassistisch aufgeladen ist, auch Ergebnis einer von der politischen Rechten und ihren medialen Vorfeldorganisationen inszenierten "moral panic". Doch wenn die Antwort von links darauf ist, diese Erfahrungen als bloß subjektive Gefühle abzutun und ihnen die notwendige kollektive Einsicht in die objektive Wahrheit staatlich erhobener Datensätze entgegenzusetzen, wird sie ungehört verhallen.

Dies anzuerkennen, die notwendig affektive Dimension von Politik zu verstehen, ist ein entscheidender und häufig übersehener Beitrag der an Laclau orientierten Populismusdiskussion, der von Podemos auch zumindest versuchsweise in politische Praxis übersetzt wird. Statt die emotionalisierten Massen durch rationalistische Pädagogik darüber aufzuklären wie die Welt "wirklich" ist, sind die von Podemos angebotenen Narrative darauf angelegt, Gefühle der Wut und Empörung zu organisieren und artikulieren. Ihre Organisierungspraxen sollen helfen, Gefühle der Ohnmacht zu überwinden und in ein positives Gefühl der kollektiven Selbstermächtigung zu überführen. "Podemos!" heißt nicht umsonst "Wir können!".

Hieran ließe sich auch für die hiesige Debatte produktiv anschließen - und zwei verbreitete, wenig produktive Anschlüsse in der Diskussion um linken Populismus umgehen. Der erste davon läuft darauf hinaus, das "Modell Podemos" als PR-Strategie vom Reißbrett zu übernehmen. So beeindruckend die Kommunikationsstrategien, der Einsatz von Sprache und Ästhetik durch Podemos sind, sollte der Blick auf das Projekt des Linkspopulismus nicht darauf verengt werden. Die PodemosErfahrung wurde durch eine spezifische polit-ökonomische Situation und eine wohl einzigartige Kräftekonstellation ermöglicht (vgl. Zelik 2015). Der zweite wenig hilfreiche Standpunkt reproduziert die liberale Fiktion von der Politik als Sphäre purer Ratio, die vor den Verunreinigungen durch Emotionen und Affekte geschützt werden müsse. So warnt Albrecht von Lucke die Linke vor der populistischen Versuchung, da diese auf die "Freisetzung politischer Emotionen" setze und dadurch "mit dem Feuer spiel[e]" (Lucke 2015: 52). Das tut nachgerade so, als wären Emotionen nicht stets Teil von gesellschaftlichen Erfahrungen, die im politischen Raum von allen Kräften aufgerufen werden. Um den Refrain eines bekannten Popsongs zu zitieren: Pure Vernunft darf niemals siegen. Wer der Linken die Artikulation dieser Erfahrungen und damit verbundenen Gefühlslagen versagt, überlässt sie den Anderen: Der populistischen Rechten, aber auch den Parteien des "extremen Zentrums" (Ali 2015) - den konservativen und sozialdemokratischen Verwaltern des Austeritätsregimes in Europa - die keinerlei Skrupel haben, starke Emotionen zur Sicherung der alten Ordnung anzufachen. Dies ließ sich etwa rund um das von der SYRIZA-Regierung in Griechenland einberufene Referendum über das Austeritätsprogramm der Troika-Institutionen eindrucksvoll beobachten, aber auch im "Brexit"-Referendum.

Diese Erkenntnis alleine ist freilich noch kein Vorschlag für die aktuelle Auseinandersetzung um einen linken Populismus. Sie soll jedoch dazu einladen, eine Reihe von Fragen neu zu stellen. Etwa danach, welche gesellschaftlichen Erfahrungen von links wie artikuliert werden können und sollen. Nehmen wir etwa das oben am Beispiel der Trump-Kampagne aufgerufene Thema "Sicherheit". Wie Oliver Nachtwey zuletzt kompakt und überzeugend dargelegt hat, ist in Deutschland seit den Agenda 2010-Reformen eine sich stetig ausweitende gesellschaftliche Zone der Unsicherheit entstanden (Nachtwey 2016). Die Erfahrungen jener, die in der "Abstiegsgesellschaft" Sorge um den sozialen Statuserhalt haben müssen, werden zum großen Teil von der extremen Rechten artikuliert. Andernorts in Europa - etwa in Frankreich und Österreich - ist dieser Prozess schon deutlich weiter vorangeschritten. Dort gelingt es rechtsextremen Populisten ein Narrativ wirksam zu machen, das die Wiederherstellung von sozialer Sicherheit mit der Vision einer national verfassten, rassistisch-exklusiven Gemeinschaft der Produktiven und Nützlichen verbindet. Eine von der Populismus-Debatte lernende linke Politik sollte darauf nicht reagieren, indem sie sich Elemente der nationalistischen Position zu eigen macht. Jedes Zugeständnis, ob in der Grenz- und Asylpolitik oder in Scheindebatten wie jener um das "Burkaverbot", verstärkt nur die Äquivalenzketten der Rechten und deren Antagonismus. Ziel müsste vielmehr sein, die Frage der Sicherheit anders zu verknüpfen. Das setzt zunächst voraus zu begreifen, dass "Sicherheit" keine in Kennzahlen darzustellende objektive Größe ist, sondern ein subjektives Gefühl das, wenn es von vielen erfahren und in einem politisches Narrativ aufgehoben wird, eine mächtige - und keineswegs illegitime - politische Kraft darstellt. Dabei kann es nicht darum gehen, wie der rechte Populismus ein paranoides Weltbild zu fördern, das dann als Treibstoff zur Legitimation politischer Repression eingesetzt wird. Es reicht aber auch nicht, auf die berühmte "soziale Frage" zu setzen und darauf zu hoffen, dass die Menschen schon einsehen werden, dass diese für ihre "eigentlichen" Interessen deutlich relevanter ist als die drohende Abschaffung von Weihnachtsmärkten durch die Islamisierung des Abendlandes. Die subjektiven Verarbeitungsweisen des tatsächlichen oder befürchteten sozialen Abstiegs verbinden sich im Alltagsverstand massenhaft mit einem Gefühl des Kontrollverlustes und der Entfremdung von ehemals Orientierung stiftenden Institutionen: Politik, Kultur, Medien ("Lügenpresse"!). Was hier von rechts populistisch artikuliert wird ist letztlich eine Krise gesellschaftlicher Autoritäten. Antonio Gramsci nannte dies in den 1930er Jahren eine "Hegemoniekrise". Die Aufgabe wäre heute, Angst vor Unsicherheit und Wut über eine als gegen einen selbst gerichtet erfahrene Umwelt in einen Antagonismus zu überführen, der größere Freiheit verspricht. Das ist keine kleine Herausforderung. Sie kann nicht theoretisch bewältigt, nur in der politischen Praxis angegangen werden. Sie setzt jedoch voraus, den Standesdünkel des Linksliberalismus gegenüber jenen zu überwinden, die dort verächtlich das Volk genannt werden.


Benjamin Opratko ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der HU Berlin. Er forscht zu Rassismus in Deutschland und Österreich. Sein Buch "Hegemonie. Politische Theorie nach Antonio Gramsci" erschien 2014 in zweiter Auflage (Verlag Westfälisches Dampfboot). Er ist Redakteur des mosaik-blogs (www.mosaik-blog.at).

Tobias Boos ist Universitäts-Assistent am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Er forscht zu Populismus in Lateinamerika. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit Etienne Schneider den Beitrag "Lateinamerikanisiert Europa!? Einige vorläufige Schlussfolgerungen zur Frage eines linken Populismus in Europa" im Sammelband "Lateinamerikas Linke. Ende des progressiven Zyklus?" (hgg. v. Ulrich Brand, Verlag VSA).


Internet-Hinweise

(1) Vgl. u.a. das Buchforum auf
http://www.theorieblog.de/index.php/2016/05/buchforum-jan-werner-mueller-wie-populistische-opposition-den-demokratischen-pluralismus-gefaehrdet/

(2) https://www.youtube.com/watch?v=xnhJWusyj4I


Literatur

Ali, Tariq (2015): The Extreme Centre. A Warning, London: Verso.

Bebnowsky, David/Goes, Thomas (2015): Linker Aufwind? Warum es Zeit für mehr Populismus ist. In: Demokratie +,
http://demokratie-plus.de/david-bebnowski-und-thomas-goes-linker-aufwind-warum-es-zeit-fuer-mehr-populismus-ist/

Boos, Tobias (2015): Linker Populismus: Keine Antwort, aber eine ketzerische Frage. In: mosaik,
http://mosaik-blog.at/debatte-iii-linker-populismus-keine-antwort-aber-eine-ketzerische-frage/

Decker, Frank (2014): Alternative für Deutschland und Pepita: Die Ankunft des neuen Rechtspopulismus in Deutschland. In: Decker, Frank/Henningsen, Bernd/Jakobsen, Kjetil (Hg.): Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa. Die Herausforderung der Zivilgesellschaft durch alte Ideologien und neue Medien, Baden-Baden: Nomos, 75-90.

Eagleton, Terry (2000): Ideologie. Eine Einführung, Stuttgart: Metzler.

Errejón Galván, Íñigo (2014): Que es Podemos? In: Le monde diplomatique,
http://www.monde-diplomatique.es/?url=articulo/0000856412872168186811102294251000/?articulo=8c640f81-5ccc-4723-911e-71e45da1deca

Errejón Galván, Íñigo/Mouffe, Chantal (2015): Construir pueblo. Hegemonía y radicalización de la democracia, Barcelona: Icaria editorial.

Kaindl, Christina/Solty, Ingar/von Lucke, Albrecht (2016): "Wir sind das Volk - und ihr seid es nicht!" Im Gespräch über Linkspopulismus. In: pragerfrühling,
https://www.prager-fruehling-magazin.de/de/article/1311.wir-sind-das-volk-und-ihrseid-es-nicht.html

Konicz, Thomasz (2016): Die Sarrazin der Linkspartei, in: telepolis,
http://www.heise.de/tp/artikel/49/49110/1.html

Laclau, Ernesto (1981): Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus - Faschismus - Populismus, Berlin: Argument Verlag.

Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (1991): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Rekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen Verlag.

Laclau, Ernesto (2005): On Populist Reason, London: Verso.

Lucke, Albrecht von (2015): EU in Auflösung? Die Rückkehr der Grenzen und die populistische Gefahr. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2015, 45-54.

Meiksins Wood, Ellen (1986): The Retreat from Class. A New 'True' Socialism, London: Verso.

Monedero, Juan Carlos (2016): Spanien: Was läuft schief bei Podemos? In: mosaik,
http://mosaik-blog.at/spanien-podemos-wahlen-analyse-kritik/

Mouffe, Chantal (2015): Für einen linken Populismus. In: Internationale Politik und Gesellschaft,
http://www.ipg-journal.de/rubriken/soziale-demokratie/artikel/fuer-einen-linken-populismus-857/

Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin: Suhrkamp.

Münkler, Herfried (2012): Populismus in Deutschland. Eine Geschichte seiner Mentalitäten, Mythen und Symbole, London: Counterpoint.

Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin: Suhrkamp.

Solty, Ingar/Werner, Alban (2016): Der indiskrete Charme des Linkspopulismus. In: Das Argument 316, 273-285.

Zelik, Raul (2015): Mit PODEMOS zur demokratischen Revolution? Krise und Aufbruch in Spanien, Berlin: Bertz + Fischer

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2016, Heft 215, Seite 30-37
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2016

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