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STANDPUNKT/547: Mein Terrorist, Dein Terrorist (Uri Avnery)


Mein Terrorist, Dein Terrorist

von Uri Avnery, 16. März 2016


IST DIE HISBOLLAH nun also eine terroristische Organisation?

Nein, natürlich nicht.

Warum hat dann die Arabische Liga entschieden, dass sie eine ist?

Weil die meisten Liga-Mitgliederstaaten sunnitische Muslime sind, während die Hisbollah eine schiitische Organisation ist, die den schiitischen Iran und den alawitischen (fast schiitischen) Bashar al-Assad in Syrien unterstützt.

Haben Israels arabische Parteien dann also recht, wenn sie die Resolution der Liga verurteilen?

Sie haben recht, aber es ist nicht weise.


BEGINNEN WIR also mit der Hisbollah. Erstaunlicherweise ist sie gewissermaßen eine israelische Schöpfung.

Der Libanon ist ein künstlicher Staat. Seit Jahrhunderten wird er als ein Teil Syriens betrachtet. Weil es so gebirgig ist, war es ein idealer Rückzugsort für kleine verfolgte Sekten, die sich dort verteidigen konnten. Zu ihnen gehört die maronitisch-christliche Gemeinschaft, die nach dem Mönch Maron benannt wurde.

Als die siegreichen Großmächte nach dem ersten Weltkrieg das Osmanische Reich unter sich aufteilten, bestand Frankreich auf der Schaffung eines christlichen, libanesischen Staates unter seiner Verwaltung. Solch ein Staat wäre sehr klein gewesen und hätte keinen größeren Hafen gehabt. So wurden unklugerweise die Gebiete von verschiedenen anderen Sekten hinzugefügt, um einen größeren Staat zu schaffen, der aus verschiedenen sich feindlich gesinnten Gemeinschaften bestand.

Da gab es (a) die Maroniten in ihrer Bergfestung, (b) verschiedene andere christliche Sekten, (c) die sunnitischen Muslime, die dort vom sunnitisch Osmanischen Reich in den größeren Hafenstädten angesiedelt wurden, (d) die Drusen, die sich vor vielen Jahrhunderten vom Islam abgespalten haben und (e) die schiitischen Muslime.

Die Schiiten sind die Bewohner des südlichen Libanon. Sie sind die ärmste und schwächste Sekte und wurden von allen anderen verachtet und ausgebeutet.

In diesem Zusammenschluss von Sekten, der den Libanon ausmacht, gewährte die Verfassung jeder der Sekten einen hohen Posten. Der Präsident des Staates ist immer ein Maronit, der Ministerpräsident ein Sunnit, der Befehlshaber der Armee ein Druse. Da blieb für die armen Schiiten nichts anderes übrig, als der Posten des Parlaments-Vorsitzenden - ein Titel ohne Macht.

Länger als eine Generation war die israelisch-libanesische Grenze, die praktisch die israelisch-schiitische Grenze ist, Israels einzige friedliche Grenze. Die Bauern auf beiden Seiten arbeiteten in enger Nachbarschaft, ohne Zäune, ohne Zwischenfälle. Man sprach davon, dass der Libanon der zweite Staat sein würde, der mit Israel Frieden schließen wird - er wagte es nicht, der erste zu sein.

In den frühen 40iger-Jahren, überquerte ich einmal versehentlich die nicht markierte Grenze. Ein netter libanesischer Polizist fing mich ab und zeigte mir höflich den Weg zurück.


NACH DEM "Schwarzen September" in Jordanien (1970), als König Hussein die palästinensischen Streitkräfte besiegte, wurde der Süd-Libanon zur neuen palästinensischen Basis. Die bis dahin ruhigste Grenze wurde sehr unruhig.

Die Schiiten mochten die Palästinenser und die Unruhe, die sie verursachten, gar nicht. Als die israelische Armee 1982 mit dem unausgesprochenen Ziel, die Palästinenser zu vertreiben und eine maronitische Diktatur einzusetzen, in den Libanon einfiel, waren die Schiiten froh. Die Bilder von schiitischen Dorfbewohnern, die die israelischen Soldaten mit Brot und Salz empfingen, waren echt.

Ich überquerte die Grenze am vierten Tag des Kampfes, um es selbst zu sehen. Ein jemenitischer Soldat, der sich dunkel daran erinnerte, mein Gesicht schon einmal im Fernsehen gesehen zu haben und vermutete, ich wäre jemand Hohes in der Regierung, öffnete mir das Tor. Ich war mit zwei Kolleginnen in meinem privaten Auto - mit gelbem israelischem Nummernschild - durch die schiitischen Dörfer unterwegs und wurde überall mit großer Freude empfangen.

Der Grund für diese spontane Freundschaft war offensichtlich. Die Schiiten nahmen an, dass die Israelis sie von den arroganten Palästinensern befreien würden, dass sie sich verabschieden und bald wieder gehen würden. Aber die Israelis gingen nicht. Nach einigen Monaten wurde den Schiiten klar, dass an Stelle einer palästinensischen Besatzung, sie nun eine israelische Besatzung hatten. Also begannen sie einen klassischen Guerilla-Krieg. Der gutmütige, unterdrückte schiitische Bauer wurde über Nacht ein erbitterter Kämpfer.

Die moderate schiitische Partei, die die Schiiten so lange vertreten hat, wurde durch die sehr militante neue Hisbollah - die Partei Gottes - ersetzt. Die israelischen Truppen wurden aus dem Hinterhalt von einem unsichtbaren Feind angegriffen. Die Soldaten fuhren schließlich in Wagenkolonnen. Einmal fuhr ich in einer solchen Armeekolonne mit. Die Soldaten zitterten buchstäblich vor Angst.

Nach 18 Jahren verließen die israelischen Truppen endgültig - fast in Panik - den Libanon. Sie ließen einen Ministaat hinter sich, der jetzt von der Hisbollah beherrscht wurde. Ihr Führer wurde von Israel ermordet und der weit fähigere Hassan Nasrallah nahm seinen Platz ein.

Heute sind die Schiiten bei weitem die stärkste Gemeinschaft im Libanon. Sie sind ein bedeutender Teil des mächtigen "schiitischen Bogens": Iran, Irak, Baschar al-Assads Syrien und Hisbollah.

Benjamin Netanjahu glaubt, dass dieser Bogen eine tödliche Bedrohung für Israel sei. Er hat sich im Geheimen mit Saudi Arabien verbündet, das eine sunnitische Gegenkraft mit Ägypten und den Golfmonarchien geschaffen hat und lose mit Daesh, dem islamischen "Kalifat" (IS), verbunden ist.

Die Hisbollah unser gefährlichster Feind? Ich bitte darum, zu unterscheiden. Ich glaube, dass unser gefährlichster Feind der Daesh ist - nicht wegen seiner militärischen Macht, sondern wegen seiner mächtigen Idee. Sie entflammt Hundert Millionen Muslime in aller Welt. Ideen können nämlich gefährlicher sein als Kanonen - eine Tatsache, die dem israelischen Denken fremd ist.

Die Hisbollah hat nun reguläre Truppen und kämpft nun in Syrien gegen Daesh und andere.

Sei dem, wie ihm wolle, eines ist die Hisbollah auf jeden Fall nicht: sie ist keine terroristische Organisation.


WAS IST "Terrorismus"? Dieser Begriff ist jetzt zum Schimpfwort ohne wirklichen Inhalt geworden.

Ursprünglich meinte Terrorismus nur eine Strategie, Furcht zu verbreiten, um politische Ziele zu erreichen. In diesem Sinn ist jeder Krieg Terrorismus. Genauer aber wird der Terminus bei Gewaltakten Einzelner angewandt, die das Ziel haben, Schrecken in den Herzen der feindlichen Bevölkerung zu verbreiten.

Jetzt nennt jedes Land und jede Partei seine Feinde "Terroristen". Es ist ein moderner Kraftausdruck ohne reale Bedeutung.

Wenn überhaupt, dann ist jede Armee ein Instrument des Terrorismus. In Kriegszeiten versuchen Armeen dem Feind immer Angst einzujagen, damit er ihre Forderungen akzeptiert. Das Abwerfen der Atombombe auf Hiroshima war ein terroristischer Akt, auch das Verbrennen von Dresden war es.

In der Vergangenheit wurde der Terminus Terrorismus gebraucht, um die Taten der russischen Revolutionäre zu beschreiben, die die russischen Minister töteten (Taten, die von Lenin verurteilt wurden) oder den österreichischen Kronprinzen (die Tat, die den 1. Weltkrieg auslöste, der selbst nicht Terrorismus genannt wurde, weil er Millionen und nicht nur einige tötete.)

Terroristen erreichen ihre Ziele nicht aufgrund des Ausmaßes ihrer Taten, sondern eher durch deren psychologische Wirkung. Das Töten von hundert Menschen kann am nächsten Tag vergessen sein, doch das Töten einer Person mag noch Jahrhunderte später in Erinnerung bleiben.

Der Erz-Terrorist Samson wurde in der Bibel als großer Held Israels unsterblich gemacht.

(Weil die psychologische Wirkung so bedeutsam ist, dienen die meisten Reaktionen auf terroristische Akte allein den Terroristen.)

Moderne Terroristen - wirkliche Terroristen - legen Bomben in Märkten, schießen wahllos auf Zivilisten oder überfahren sie. Hisbollah tut nichts dergleichen. Man kann die Hisbollah hassen und Nasrallah verachten. Sie aber "Terroristen" zu nennen, ist nur dumm.


ALL DAS wurde durch eine Kette von Ereignissen, die vor Kurzem Israel erschütterten, zum Thema.

Die von Saudi-Arabien dominierte Arabische Liga hat erklärt, dass die Hisbollah eine "terroristische" Organisation sei. Dies hat fast keine Bedeutung, es ist eine kleine Geste in der Schlacht zwischen der Saudischen Monarchie und dem Iran. Oder zwischen dem "schiitischen Bogen" und dem "sunnitischen Block".

Zwei kleine arabische Parteien in Israel, beide Mitglieder der arabischen 4-Parteien-Liste, haben die Erklärung der Liga verurteilt und sich auf die Seite der Hisbollah gestellt.

Es sind die arabisch nationale Balad-(Mutterland) Partei und die kommunistische (pro Assad) Partei.

Die Knesset war außer sich. Wie können sie es wagen?! Unsere Feinde verteidigen? Leugnen, dass diese Erz-Terroristen Erz-Terroristen sind?

Die jüdischen Mitglieder, praktisch alle, forderten, dass beide Parteien geächtet und ihre Mitglieder aus der Knesset vertrieben werden. Da es in Israel keine Todesstrafe gibt, können sie leider nicht gehenkt werden. Schade.


HATTEN DIESE arabischen Mitglieder der Knesset Recht mit ihrer Äußerung? Natürlich hatten sie Recht.

War ihre Äußerung logisch? Tatsächlich war sie logisch.

Aber Logik kann in der Politik Gift sein.

Für gewöhnliche jüdische Israelis ist die Hisbollah ein Todfeind. Nasrallah mit seinem spöttischen, überheblichen Stil wird von jedem gehasst. Durch ihre Äußerung, die tatsächlich nichts mit Israel zu tun hat, provozierten die arabischen Knesset-Mitglieder und erschütterten die ganze jüdische Öffentlichkeit.

Natürlich sind diese Araber Teil der arabischen Welt. Sie haben das Recht, ihre Meinung zu allem, was in der arabischen Welt geschieht, zu äußern. Das Recht, nicht die Pflicht.

Die arabischen Mitglieder der israelischen Knesset werden von zwei scheinbar gegensätzlichen Pflichten zerrissen: den Interessen ihrer Wähler zu dienen und Stellung zu Problemen ihrer palästinensischen Nation und der arabischen Welt im Allgemeinen zu beziehen.

Indem sie die Verurteilung der Hisbollah durch die Arabische Liga kritisieren, erfüllen sie ihre zweite Pflicht. Aber indem sie die Kluft zwischen Israels Arabern und den jüdischen Bürgern ohne dringenden Grund vergrößern, schaden sie ersteren. Damit untergraben sie auch die Chance auf Frieden.

Ich verstehe sie, aber ich glaube, dass dies nicht klug war.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 16.03.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. März 2016

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