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STANDPUNKT/536: Extrem, extremer, am Extremsten (Uri Avnery)


Extrem, extremer, am Extremsten

von Uri Avnery, 23. Januar 2016


ES IST wohlbekannt, dass Israel ein "jüdischer und demokratischer Staat" ist.

Das ist die offizielle Bezeichnung.

Nun gut ...


WAS DAS Jüdische betrifft, so ist es eine neue Art von Jüdischsein, eine Mutation.

Seit etwa 2000 Jahren sind Juden als weise, schlaue, friedliebende, humane, progressive, liberale, sogar sozialistische Menschen bekannt.

Wenn man heute diese Attribute hört, fällt einem der Staat Israel nicht als erstes ein. Weit entfernt.

Was "demokratisch" anbelangt, trifft das mehr oder weniger für die Zeit von der Staatsgründung 1948 bis zum Sechstagekrieg 1967 zu, dem Krieg, in dem Israel leider die Westbank, den Gazastreifen, Ost-Jerusalem und die Golanhöhen eroberte. Und natürlich die Sinai-Halbinsel, die später an Ägypten zurückgegeben wurde.

(Ich sage "mehr oder weniger" demokratisch, weil es nirgendwo auf der Welt einen vollkommen demokratischen Staat gibt.)

Seit 1967 ist Israel eine hybride Schöpfung - halb demokratisch, halb diktatorisch. Wie ein Ei, das zur Hälfte frisch, zur Hälfte verrottet ist.

Die besetzten Gebiete - daran sollten wir uns erinnern - bestehen mindestens aus vier verschiedenen Kategorien:

(a) Ost-Jerusalem, das 1967 von Israel annektiert wurde und jetzt offiziell Teil von Israels Hauptstadt ist. Seine palästinensischen Bewohner sind nicht als israelische Bürger akzeptiert worden. Sie sind nur "Einwohner", ohne jegliche Bürgerrechte.

(b) Die Golanhöhen, früher ein Teil Syriens, die von Israel annektiert wurden. Die wenigen arabisch-drusischen Bewohner, die dort geblieben sind, wurden widerstrebend zu israelischen Bürgern.

(c) Der Gazastreifen, der in Absprache zwischen Israel und Ägypten vollkommen von der Welt abgeschnitten ist. Die israelische Flotte schneidet es auf See ab. Das Minimum, das die Bewohner zum Überleben brauchen, darf durch Israel gebracht werden. Der verstorbene Ariel Sharon entfernte die wenigen jüdischen Siedlungen aus diesem Gebiet. Israel erhebt keinen Anspruch darauf. Dort leben zu viele Araber.

(d) Die Westbank (des Jordanflusses), die die israelische Regierung und Israelis vom rechten Flügel mit ihren biblischen Namen "Judäa und Samaria" nennen, ist die Heimat des größten Teils des palästinensischen Volkes, wahrscheinlich etwa 3,5 Millionen. Um dieses Gebiet wird die wichtigste Schlacht geführt.


SEIT DEN ersten Tagen der Besetzung von 1967 waren rechte Israelis darauf erpicht, die Westbank Israel anzuschließen. Mit dem Slogan "Das ganze Erez Israel" begannen sie eine Kampagne, um dieses ganze Gebiet zu annektieren, die palästinensische Bevölkerung zu vertreiben und dort so viel jüdische Siedlungen wie möglich aufzubauen.

Die Extremisten machten nie ein Hehl aus ihrer Absicht, das Land ganz und gar von allen Nichtjuden zu reinigen und ein Großisrael vom Mittelmeer bis zum Jordan zu errichten.

Dieses Ziel zu erreichen, ist sehr schwierig. 1948, während unseres sogenannten "Befreiungskrieges" eroberte Israel ein weit größeres Gebiet als ihm von den Vereinten Nationen zugestanden wurde, aber das vergab man ihm. Die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung des Landes wurde vertrieben oder floh. Die vollendete Tatsache wurde von der Welt mehr oder weniger akzeptiert, weil es mit militärischen Mitteln in einem Krieg erreicht wurde, der von arabischer Seite begonnen worden ist und weil das bald nach dem Holocaust geschehen war.

1967 war die Situation völlig anders. Die Ursachen des neuen Krieges waren umstritten: David verwandelte sich in Goliath, ein weltweiter kalter Krieg war im Gange. Israels Eroberungen wurden nicht anerkannt, nicht einmal von seinem Schutzherrn, den USA.

Trotz verschiedener neuer israelisch-arabischer Kriege, dem Ende des kalten Krieges und vielen anderen Veränderungen hat sich diese Situation nicht verändert.

Israel nennt sich selbst einen "jüdischen und demokratischen Staat". Die Bevölkerung in "Groß-Israel" ist jetzt halb jüdisch und halb arabisch, wobei sich die Araber schneller vermehren. Das eigentliche Israel ist mehr oder weniger demokratisch. In den besetzten palästinensischen Gebieten herrscht eine diktatorische "Militärregierung" und Hunderttausende jüdischer Siedler versuchen, die palästinensisch-arabische Bevölkerung mit allen erreichbaren Mitteln, einschließlich betrügerischem Landkauf und Terrorismus ("Vergeltung" genannt) zu vertreiben.

Im eigentlichen Israel gehört die Regierung der extremen Rechten an und hat einige Elementen, die woanders "faschistisch" genannt würden. Das Zentrum und die Linke sind ohnmächtig. Der einzige wirklich politische Kampf findet zwischen der radikalen Rechten und der noch radikaleren Rechten statt.


IN DIESER WOCHE brach ein wütendes Gefecht zwischen Benjamin Netanjahu, seinem Verteidigungsminister Bogi Yaalon - beide von der Arbeitpartei - und Naftali Bennett, dem Führer der "Jüdisches Heim"-Partei, aus. Bennett, ein ehrgeiziger Rechter macht kein Hehl aus seiner Absicht, Netanjahu so bald wie möglich zu ersetzen.

Die Sprache, die die beiden Parteien benutzen, würde man sogar zwischen Regierungskoalition und Opposition als extrem bezeichnen. Zwischen Partnern der Regierungskoalition ist sie sogar in Israel, milde gesagt, ungewöhnlich.

Im Vergleich damit ist die Sprache des Oppositionsführers Yitzhak Herzog geradezu höflich.

Bennett sagte, dass Netanjahu und Ya'alon alte und überholte Ideen propagieren und an "geistiger Lähmung" leiden. Er behauptete, dass sie Israels angeschlagenen Ruf in der Welt nur noch mehr verschlechtern. Netanjahu und Ya'alon, ein früheres Kibbuzmitglied und Stabschef der Armee, bezichtigte Bennet des Diebstahls. Ihnen zufolge würde Bennet, immer wenn eine gute Idee im Kabinett erwogen wird, aus dem Raum rennen und behaupten, es wäre seine gewesen. Ya'alon nannte Bennet "kindisch" und "verantwortunglos".

Wer hat recht? Leider alle.

Dazwischen steht bzw. sitzt der gegenwärtige Armeechef Gadi Eisenkot, trotz seines deutsch klingenden Namens Sohn marokkanischer Immigranten. In Israel sind die Armee-Chefs seltsamerweise im Allgemeinen gemäßigter als die Politiker.

Der General schlug vor, die Lage der arabischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten zu verbessern, unter anderem sollte den Menschen in Gaza gestattet werden, einen Hafen zu bauen und mit der Welt im Allgemeinen in Kontakt zu treten. Erstaunlich.


ALL DIES ereignete sich bei einer Konferenz der sogenannten Sicherheitsexperten, bei der jeder sich zu Wort melden kann.

Die Führer der Oppositionspartei nahmen auch daran teil. Yitzhak Herzog von der Labor-Partei, Yair Lapid von der Zentrum-Partei "Es gibt eine Zukunft" und andere hatten das Sagen, aber sie waren so langweilig, dass über ihre Reden nur aus Fairness berichtet wurde. Sie griffen von hier und dort einige Ideen auf und nannten dies "mein Plan" - Frieden, wenn er überhaupt erwähnt wurde, wurde auf die sehr, sehr ferne Zukunft verschoben.

Frieden ist - soviel man weiß - etwas Angenehmes, etwas, von dem man träumt. Nichts für ernsthafte Politiker.

Was bleibt, ist ein wütender Kampf zwischen der extremen Rechten und dem noch extremeren rechten Flügel.

Bennett, ein früherer High-Tech-Unternehmer, trägt eine Kippa auf seinem kahlen Kopf (offen gesagt, wundere ich mich immer, was sie dort hält, vielleicht der reine Willen). Er verhehlt seine Überzeugung nicht, dass er den festgefahrenen Netanjahu um der Nation willen so bald wie möglich ersetzen muss.

Bennett beschuldigt die inkompetente, politische Führung, dass sie unsere tapferen Soldaten und ihre Kommandeure in Stich lässt - eine Beschuldigung, die geradewegs aus Mein Kampf stammt, der gerade auf Hebräisch erscheint.

Netanjahus einzig möglicher Nachfolger innerhalb seiner Likud-Partei ist Ya'alon, ein Mann ohne irgendwelches Charisma oder politisches Talent. Doch damit Bennett und seine Jüdische Heimat-Partei ans Ruder kommt, müssen sie die Likud-Partei bei der Wahl überholen - eine sehr schwierige Sache. Göttliche Intervention mag nötig sein.

Wenn wir schon von göttlicher Intervention sprechen: letzte Woche kritisierte die schwedische Außenministerin Margot Wallström Israels Rechtssystem, das verschiedene Rechte für Juden und Araber hätte. Netanjahu reagierte scharf - und siehe da: einige Tage später war die schwedische Presse rein zufällig voller Geschichten über die Korruption von Wallström, die für ihre Regierungswohnung weniger Miete zahlen würde, als sie sollte.


ALL DIES könnte amüsierend sein, wenn es nicht die Zukunft Israels beträfe.

Friede ist ein schmutziges Wort. Das Ende der Besatzung ist nicht in Sicht. Die Vereinigte (arabische) Partei ist nicht im Rennen. (Fast) dasselbe gilt für Meretz.

Bei den Linken ist Verzweiflung das Synonym für Faulheit. Dort gibt es eine sanfte Debatte über die Idee, dass nur die Welt außerhalb Israels uns von uns selbst retten kann. Dies wird jetzt von dem geachteten früheren Generaldirektor unseres Außenministeriums, Alon Lyel, propagiert. Ich glaube nicht daran. Die Idee sich an Nichtjuden zu wenden, um die Juden vor sich selbst zu retten, ist keine Idee, die große Popularität gewinnen wird.

Bennett hat in einem Punkt recht: Sowohl geistige als auch praktische Stagnation ist keine Lösung. Die Dinge müssen wieder in Bewegung kommen. Ich hoffe inbrünstig, dass die junge Generation neue Kräfte und neue Ideen hervorbringen wird, die Netanjahu, Bennett und ihresgleichen beiseiteschieben werden.

Was unsere hoch-gelobte Demokratie betrifft, so scheint es, dass seit Jahren eine von der Regierung finanzierte Organisation einen privaten Detektiv bezahlt hat, dessen Job es war, die Papierkörbe von Friedensaktivisten zu durchstöbern, um Informationen über Menschenrechts- und Friedensgruppen und -Persönlichkeiten zu erhalten.

Zum Glück zerschredder ich alles.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 23.01.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2016

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