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STANDPUNKT/516: Die Herrschaft der Absurdiotie (Uri Avnery)


Die Herrschaft der Absurdiotie

Uri Avnery, 28. November 2015


SO ETWAS wie "Internationalen Terrorismus" gibt es nicht.

Einen Krieg gegen den "Internationalen Terrorismus" zu erklären, ist Unsinn. Politiker, die das tun, sind entweder Dummköpfe oder Zyniker und wahrscheinlich beides.

Terrorismus ist eine Waffe. Wie eine Kanone. Wir würden denjenigen auslachen, der einer "internationalen Artillerie" den Krieg erklärt. Eine Kanone gehört einer Armee und dient den Zielen dieser Armee. Die Kanone der einen Seite schießt auf die Kanone der andern Seite.

Terrorismus ist eine Methode, die oft von einem unterdrückten Volk angewendet wird, wie der französische Widerstand gegenüber den Nazis im Zweiten Weltkrieg. Wir würden jeden auslachen, der dem "internationalen Widerstand" den Krieg erklärt.

Carl von Clausewitz, der preußische Militärdenker, sagte den berühmten Satz, dass "Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist". Wenn er heute unter uns leben würde, hätte er gesagt: "Terrorismus ist eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.

Terrorismus bedeutet buchstäblich, den Opfern Angst einflößen, damit sie sich dem Willen des Terroristen unterwerfen.

Terrorismus ist eine Waffe. Üblicherweise ist es die Waffe der Schwachen. Derer, die keine Atombomben haben wie die, die auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, die die Japaner mit Terror zur Aufgabe zwangen. Oder die Flugzeuge, die Dresden im (vergeblichen) Versuch bombardierten, den Deutschen Angst einzuflößen, damit sie aufgäben.

Da die meisten Gruppen und Länder, die Terrorismus anwenden, verschiedene Ziele verfolgen, die einander oft widersprechen, ist daran nichts "Internationales". Jede terroristische Kampagne hat einen eigenen Charakter - ganz zu schweigen davon, dass sich keiner als Terrorist betrachtet, sondern eher als ein Kämpfer für Gott, Freiheit oder für sonst etwas.

(Ich kann nicht umhin, damit zu prahlen, dass ich vor langer Zeit die Formel erfand: "Der Terrorist des einen, ist der Freiheitskämpfer des anderen")


VIELE EINFACHE Israelis fühlen nach den Vorfällen in Paris tiefe Befriedigung. "Jetzt fühlen diese verdammten Europäer selbst einmal, was wir die ganze Zeit fühlen!"

Benjamin Netanjahu, ein kleiner Denker, aber ein brillanter Verkäufer, ist auf die Idee gekommen, eine direkte Verbindung zwischen dem jihadistischen Terrorismus in Europa und dem palästinensischen Terrorismus in Israel und den besetzten Gebieten herzustellen.

Es ist ein Geniestreich: Wenn die messerschwingenden palästinensischen Teenager und die belgischen Anhänger von ISIS ein und dieselben sind, dann gibt es kein israelisch-palästinensisches Problem, keine Besatzung, keine Siedlungen. Nur muslimischen Fanatismus. (Dabei werden übrigens die vielen christlichen Araber in den säkularen palästinensischen "Terroristen"-Organisationen ignoriert.)

Das hat nichts mit Realität zu tun. Palästinenser, die kämpfen und für Allah sterben wollen, gehen nach Syrien. Palästinenser - die religiösen wie die säkularen - die in diesen Tagen schießen, auf jemanden mit einem Messer einstechen oder israelische Soldaten und Zivilisten überfahren, wollen Freiheit von der Besatzung und einen eigenen Staat.

Dies ist eine so offensichtliche Tatsache, dass selbst eine Person mit dem begrenztem IQ unserer gegenwärtigen Kabinett-Minister dies begreifen können. Aber falls sie dies tun, dann ständen sie sehr unangenehmen Entscheidungen im israelisch-palästinensischen Konflikt gegenüber.

Halten wir uns also an die bequeme Schlussfolgerung: Sie töten uns, weil sie als Terroristen geboren wurden, weil sie im Paradies den versprochenen 70 Jungfrauen begegnen wollen, weil sie Antisemiten sind. So wie Netanjahu glücklich voraussagt: "Wir werden immer und ewig durch das Schwert leben."


SO TRAGISCH die Folgen jedes terroristischen Ereignisses auch sein mögen, so ist da etwas Absurdes an der europäischen Reaktion auf die kürzlichen Ereignisse.

Der Gipfel der Absurdität wurde in Brüssel erreicht, als ein einziger Terrorist auf der Flucht eine ganze Hauptstadt tagelang lähmte, ohne dass ein einziger Schuss abgegeben wurde. Es war der ultimative Erfolg des Terrorismus im wahrsten Sinne des Wortes: Angst als Waffe einsetzen.

Aber die Reaktion in Paris war nicht viel besser. Die Zahl der Opfer der Gräueltat war hoch, sie war etwa gleich hoch wie die Anzahl der Menschen, die innerhalb von ein paar Wochen auf den Straßen Frankreichs sterben. Sie war sicherlich weit niedriger als die Zahl der Opfer einer einzigen Stunde des Zweiten Weltkriegs. Aber rationales Denken zählt hier nicht. Der Terrorismus arbeitet mit den Empfindungen der Opfer.

Es scheint unglaublich, dass zehn mittelmäßige Individuen mit ein paar primitiven Waffen eine weltweite Panik verursachen konnten. Doch es ist eine Tatsache. Unterstützt von den Massenmedien, die genau aus solchen Ereignissen Gewinn ziehen, werden örtlich begrenzte Terrorakte heutzutage zu weltweiten Bedrohungen. Die modernen Medien sind einfach durch ihr Wesen die besten Freunde des Terroristen. Ohne die Medien kann der Terror nicht blühen.

Der nächstbeste Freund der Terroristen ist der Politiker. Es ist für einen Politiker fast unmöglich, der Versuchung zu widerstehen, auf der Panikwelle mit zu reiten. Panik schafft "nationale Einheit", der Traum jedes Herrschers. Panik schafft das Verlangen nach einem "stärkeren Führer". Das ist ein menschlicher Urtrieb.

Francois Hollande ist ein typisches Beispiel. Ein mittelmäßiger, doch schlauer Politiker ergriff die Gelegenheit, sich als ein Führer hinzustellen. "Das ist der Krieg!" erklärte er und schuf eine nationale Stimmung. Natürlich ist es kein "Krieg". Natürlich ist es kein Dritter Weltkrieg. Nur ein terroristischer Angriff durch einen verborgenen Feind.

Diese Ereignisse decken die unglaubliche Dummheit der politischen Führer rund herum auf. Sie verstehen die Herausforderung nicht. Sie reagieren auf phantasierte Drohungen und ignorieren die wirklichen. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Sie halten Reden, berufen Konferenzen ein und bombardieren jemanden (egal wen und weshalb).

Da sie die Krankheit nicht verstehen, ist ihre Medizin schlimmer als die Krankheit selbst. Bombardements verursachen Zerstörung, Zerstörung schafft neue Feinde, die nach Rache dürsten. Es ist eine direkte Kollaboration mit den Terroristen.

Es war ein trauriges Schauspiel, all diese Weltführer, die Kommandeure mächtiger Nationen wie Mäuse in einem Labyrinth herumlaufen zu sehen, sich begegnen, Reden halten, sinnlose Erklärungen von sich zu geben, vollkommen unfähig, sich mit der Krise auseinanderzusetzen.


DAS PROBLEM ist tatsächlich weit komplizierter als schlichte Gemüter meinen: Der Feind ist diesmal keine Nation, kein Staat, nicht einmal ein reales Territorium, sondern eine undefinierbare Entität: eine Idee, ein Geisteszustand, eine Bewegung, die zwar irgendeine territoriale Basis hat, aber kein realer Staat ist.

Dies ist kein Phänomen, das es so noch nie gegeben hat: vor mehr als hundert Jahren beging die Anarchisten-Bewegung überall terroristische Aktionen ohne überhaupt eine territoriale Basis zu haben. Und vor 900 Jahren terrorisierte eine religiöse Sekte ohne Land, die Assassins (ein entstelltes arabisches Wort für "Haschischkonsumenten") die muslimische Welt.

Ich weiß nicht, wie man den Islamischen Staat (oder eher Nicht-Staat) wirksam bekämpft. Ich fürchte, dass dies niemand weiß. Gewiss nicht die Einfaltspinsel (Mann oder Frau) der verschiedenen Regierungen. Ich bin mir nicht sicher, ob selbst eine territoriale Invasion dieses Phänomen zerstören würde. Aber selbst solch eine Invasion scheint unwahrscheinlich. Die Koalition der Unwilligen, die die USA zusammengebracht haben, scheint nicht geneigt, Bodentruppen zu schicken. Die einzigen Mächte, die das versuchen könnten - die Iraner und die syrische Regierungsarmee - werden von den USA und ihren Verbündeten in der Region gehasst.

Wenn man nach einem Beispiel für vollkommene Desorientierung, die an Schwachsinn grenzt, sucht, dann ist das tatsächlich die Unfähigkeit der USA und der europäischen Mächte, sich zwischen der Assad-Iran-Russland-Achse und dem IS-Saudi-Sunni-Lager zu entscheiden. Selbst wenn wir das türkisch-kurdische Problem, die russisch-türkische Feindlichkeit und den israelisch-palästinensischen Konflikt hinzufügen, ist das Bild noch lange nicht vollständig.

(Geschichtsliebhaber können sich vom in dieser neuen Situation erneut auflebenden jahrhundertealten Kampf zwischen Russland und der Türkei faszinieren lassen. Schließlich übertrumpft die Geografie alles andere.)

Es ist gesagt worden, dass Krieg viel zu wichtig sei, um ihn den Generälen zu überlassen. Die augenblickliche Situation ist viel zu kompliziert, um sie den Politikern zu überlassen. Aber wer ist noch da?


DIE ISRAELIS GLAUBEN (wie üblich), dass wir die Welt belehren könnten. Wir kennen Terrorismus. Wir wissen, was zu tun ist.

Aber tun wir es?

Seit Wochen lebt Israel jetzt in Panik. Aus Mangel eines besseren Namens wird sie die "Terrorwelle" genannt. Jeden Tag greifen zwei, drei, vier Jugendliche - 13-Jährige eingeschlossen - Israelis mit Messern an oder überfahren sie mit Autos und werden für gewöhnlich auf der Stelle erschossen. Unsere renommierte Armee versucht alles, einschließlich drakonischer Vergeltungsschläge gegen die Familien und kollektiver Bestrafung der Dörfer - doch vergeblich.

Dies sind individuelle Akte, oft ganz spontan und deshalb ist es nahezu unmöglich, sie zu verhindern. Es ist kein militärisches Problem, das Problem ist politisch und psychologisch.

Netanjahu versucht wie Hollande & Co auf dieser Welle zu reiten. Er zitiert den Holocaust und redet endlos über Antisemitismus.

Alles, um eine offenkundige Tatsache zu vertuschen: die Besatzung mit ihrer täglichen, in der Tat stündlichen und minütlichen Schikane der palästinensischen Bevölkerung. Einige Regierungsminister verbergen nicht einmal, dass es ihr Ziel ist, die Westbank zu annektieren und irgendwann das palästinensische Volk aus ihrer Heimat ganz zu vertreiben.

Es gibt keine direkte Verbindung zwischen dem IS-Terrorismus in aller Welt und dem palästinensischen nationalen Kampf um einen Staat. Aber wenn dies nicht gelöst wird, werden sich die Probleme vermischen - und eine viel mächtigere IS wird die muslimische Welt vereinigen, so wie es Saladin einst tat, um uns - den neuen Kreuzfahrern - die Stirn zu bieten.

Wenn ich gläubig wäre, würde ich flüstern: Gott bewahre.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 28.11.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2015

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