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STANDPUNKT/470: Isratin oder Palestrael? (Uri Avnery)


Isratin oder Palestrael?

von Uri Avnery, 20. Juni 2015


Da gab es diesen jungen Mann, der eine welterschütternde Erfindung gemacht hat: ein Flugzeug, das mit Wasser flog.

Kein Benzin. Keine Verschmutzung. Keine astronomischen Preise. Fülle die Tanks nur mit Wasser und es fliegt bis ans Ende der Welt.

"Wunderbar!" riefen die Leute aus. "Zeige uns die Pläne!"

"Pläne?" fragte der Mann. "Ich hatte diese tolle Idee. Ich überlasse es den Ingenieuren, die technischen Details auszuarbeiten."

Die Erfinder der Ein-Staat-Lösung erinnern mich an dieses Genie. Sie haben eine wunderbare Idee. Aber es bleiben einige Fragen offen.


DIE ERSTE FRAGE: Wie kann dies erreicht werden? Die offensichtliche Antwort heißt: durch Krieg.

Die arabische Welt wird ihre Armeen mobilisieren. Israel wird erobert werden. Die Sieger werden ihren Willen durchsetzen.

Das ist vielleicht innerhalb einiger Generationen möglich. Ich bezweifle es. In einer Welt der Nuklearwaffen können Kriege mit gegenseitiger Vernichtung enden.

Und wenn nicht Krieg, dann "Druck von außen".

Auch dies bezweifle ich. Die internationale Boykottbewegung ist auf ihre Weise ziemlich wirksam. Aber dies ist weit, weit davon entfernt, Israelis dazu zu bringen, etwas zu tun, das gegen jede Faser ihres Seins geht: ihren Staat aufzugeben. Dasselbe gilt für politischen Druck. Er kann Israel verletzen oder auch isolieren - obwohl ich nicht glaube, dass dies in dieser oder der nächsten Generation möglich sein würde - aber auch dies wird nicht genug sein, Israel in die Knie zu zwingen.

Die Mehrheit in Israel überzeugen? Man muss schon weit weg von der Realität Israels sein, um zu glauben, dass dies in absehbarer Zukunft geschehen kann. Seit mehr als 130 Jahren ist jetzt das Wesentliche der zionistischen und israelischen Raison d'etre israelische (oder "jüdische") Staatlichkeit gewesen. Viele Menschen sind schon deswegen gestorben. Jedes Kind in Israel wird vom Kindergarten an indoktriniert, durch die Schule und die Armee, um den Staat als höchstes aller Ideale zu sehen. Dass es dies freiwillig aufgibt? Unwahrscheinlich.

Aber um der Argumente willen lasst uns vermuten, dass auf die eine oder andere Weise die Ein-Staat-Lösung möglich wird. Vielleicht durch göttliche Intervention.

Wie würde das funktionieren?

In Dutzenden meiner Debatten mit Einstaatlern aller Art habe ich niemals, auch nicht ein einziges Mal, auf diese simple Frage eine Antwort bekommen. Nicht eine. Wie der Erfinder des wasserbetriebenen Flugzeugs überlassen sie die Ausführung den Ingenieuren.

Laßt es uns versuchen.


WIE SOLL der Staat genannt werden? Auch keine leichte Frage.

Der selige Muammar Gaddafi schlug "Isratin" vor (Warum nicht Palestrael"?) Ich könnte an "Heiliges Land" denken, "Der Staat von Jerusalem" oder andere Namen. Vielleicht "Der Vereinigte Staat von Israel und Palästina" (Nennen wir es VSIP).

Verschiedene Flaggen und Nationalhymnen sind schon vorgeschlagen worden - einige davon wirklich originell. Wird irgendjemand für sie sein Leben opfern?

Aber auch dies ist nicht das wirkliche Problem. Wenn wir uns den Realitäten des Staates nähern, werden sich die Fragen vervielfachen.

Wie wird der Staat in Alltags-Angelegenheiten funktionieren?

Wie schwierig das sein mag, kann durch eine einfache historische Tatsache illustriert werden: seit dem 2. Weltkrieg gibt es kein einziges Beispiel dafür, dass sich zwei Staaten oder zwei Völker freiwillig zu einem einzigen Staat zusammengetan haben. Aber es gibt eine Menge Beispiele dafür, dass Vielvölkerstaaten auseinandergebrochen sind.

Beginnen wir mit der Sowjetunion, einer mächtigen Weltmacht. Dann Jugoslawien, dann Serbien, die Tschechoslowakei, der Sudan.

Andere Länder drohen auseinander zu brechen. Wer hätte je gedacht, dass das altehrwürdige Vereinigte britische Königreich einmal nicht vereinigt sein könnte? Die Schotten, die Katalonier, die Basken, die Quebecker, die Ost-Ukrainer, alle stehen sie Schlange. Nur die Schweiz, historisch seit Hunderten von Jahren vereinigt, scheint immun zu sein. Auch Bosnien und Herzegovina.

Wie dem auch sei, schauen wir uns die Sache näher an!


DER STAAT muss eine vereinigte Armee haben. Wie wird sie funktionieren? Werden Juden und Araber in derselben Truppe dienen? Oder wird es getrennte Bataillone geben, getrennte Brigaden oder getrennte Divisionen? Wenn es Unruhe in jüdischen Nachbarschaften gibt, werden jüdische Einheiten Befehlen gegen ihre Brüder gehorchen? In einem Krieg gegen einen arabischen Staat - wie wird eine arabische Einheit agieren?

Wird der Stabschef ein Jude oder ein Araber sein? Vielleicht abwechselnd? Und der Generalstab - halb und halb?

Das ist noch einfach im Vergleich zur Polizei. Werden Juden und Araber Seite an Seite dienen, wie sie es während des britischen Mandats taten, als praktisch alle ortsansässigen Polizisten zu geheimen nationalistischen Organisationen gehörten?

Wie wird diese Polizeitruppe nationalistische Verbrechen untersuchen? Wer wird der Generalinspekteur sein?

Dann gibt es da noch die Frage der Steuern. Wie es jetzt aussieht, ist das durchschnittliche Einkommen der Juden in Israel 25 mal höher als das der Araber im besetzten Palästina. Nein, das ist kein Tippfehler. Nicht 25 Prozent höher, sondern 25 mal höher.

Werden sie dieselben Steuern zahlen? Sehr bald würden sich jüdische Bürger beschweren, dass sie für die ganze Fürsorge und Bildung der palästinensischen Bürger zahlen. Schwierigkeiten.


DANN GIBT es da noch die Probleme der politischen Struktur.

Natürlich wird es allgemeine und freie Wahlen geben. Wie werden die Bürger wählen - nach ihren Klasseninteressen oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit entsprechend?

Erfahrungen in vielen Ländern deuten darauf hin, dass die ethnische Identität Vorrang haben wird. Im heutigen Israel ist dies die Regel. Während des britischen Mandats gab es nur eine einzige gemeinsame jüdisch-arabische Partei: die Moskau-treue kommunistische. Am Vorabend des Krieges von 1948 teilte sie sich in Juden und Araber. Im neuen Staat Israel vereinigte sie sich wieder (wie von Moskau befohlen wurde), um sich dann wieder zu teilen. Nun ist es praktisch eine arabische Partei mit ein paar jüdischen Anhängern.

1984 beteiligte ich mich an der Gründung einer neuen Partei, der Progressiven Liste für Frieden, die sich auf strenge Parität gründete: unsere Knesset Liste war arabisch, jüdisch, arabisch, jüdisch bis Nummer 120.

In zwei auf einander folgenden Wahlkampagnen kamen wir in die Knesset. Es geschah eine seltsame Sache: all unsere Wähler waren Araber. Bald darauf verschwand die Partei.

Ich habe den starken Verdacht, dass bei VSIP das Gleiche geschehen wird. Im Parlament werden sich zwei Blöcke gegenüberstehen und ein Klima ständiger gegenseitiger Feindseligkeit schaffen. Es wird außerordentlich schwierig sein, eine arbeitsfähige Regierungskoalition zu bilden, die aus Elementen beider Seiten zusammengesetzt ist. Man schaue sich nur Belgien an, ein anderer problematischer, bi-nationaler Staat.

Einige Einstaatler geben zu, dass das Projekt nur durchführbar ist, wenn beide Völker ihre Grundhaltung vollkommen ändern und ein Geist gegenseitiger Sympathie und Respekt den gegenwärtigen nationalistischen Hass und Verachtung ersetzt.

Vor etwa 50 Jahren hatte ich ein Gespräch mit dem damaligen indischen Botschafter in Paris Kavalam Madhava Panikkar, einem sehr geachteten Staatsmann und Gelehrten. Wir sprachen natürlich über den israelisch-palästinensischen Frieden, und er sagte: "Das wird 51 Jahre dauern!"

Warum genau 51 Jahre, fragte ich überrascht. "Weil wir eine neue Generation von Lehrern brauchen", sagte er. "Das wird 25 Jahre dauern. Diese neuen Lehrer werden eine neue Generation von Schülern erziehen. Das dauert weitere 25 Jahre. Und um Frieden zu schaffen, braucht es ein weiteres Jahr."

Nun, 51 Jahre sind vergangen, und Frieden ist weiter weg als damals. Ehestifter pflegen zu sagen: Sie lieben sich noch nicht, aber wenn sie erst mal verheiratet sind und Kinder haben, werden sie einander lieben.

Vielleicht. Wie lange wird es dauern? Einhundert Jahre? Zweihundert Jahre. Bis dahin sind wir alle längst tot.

Das Hauptargument gegen die Vision vom einen Staat ist, dass dieser wie der Libanon bald zum Schlachtfeld unaufhörlicher Konflikte wird. Es wird keinen einzigen Tag inneren Frieden geben.

Die größte Gefahr ist, dass wohlhabende und hochgebildete jüdische Bürger einen Staat, in dem die Mehrheit der Araber immer größer wird, nach und nach verlassen werden (wie einige es schon jetzt tun). Am Ende werden nur die Armen und Ungebildeten übrig bleiben - eine kleine jüdische Gemeinde in einem weiteren arabischen Staat.

Ich habe den heimlichen Verdacht, dass einige der arabischen Einstaatler einzig und allein aus diesem Grund diese Idee bereitwillig aufgreifen: um Israel ein Ende zu machen.

Israelische Juden und palästinensische Araber sind zwei der nationalistischsten Nationen auf der Welt. Man muss ein extremer Optimist sein - noch extremer als ich - um zu glauben, dass dies funktionieren könnte.

Ich gestehe es ehrlich: Ich habe einmal an die "Ein-Staat-Lösung" geglaubt, lange bevor dieser Terminus erfunden war. Als ich 1945 gerade 22 Jahre alt war, gründete ich eine Gruppe, die sich dem Gedanken widmete, dass die neue hebräische Nation in Palästina und die arabische Nation in Palästina beide durch gemeinsame Liebe ans Land gebunden, eine gemeinsame Nation werden und in einem gemeinsamen Staat leben könnten.

Unsere Ideologie verursachte einen Aufschrei in der zionistischen Gemeinschaft im Land. Wir wurden allgemein verurteilt. Aber während des Krieges von 1948, als ich in unmittelbaren Kontakt mit der palästinensischen Realität kam, gab ich diese wunderbare Idee für immer auf, und von 1949 an war ich einer der Schöpfer des Konzepts der Zwei-Staaten-Lösung.

Ich habe großen Respekt vor den Anhängern der Ein-Staat-Lösung. Ihre Motive sind bewundernswert. Ihre Vision hochfliegend. Aber das hat keine Verbindung zur Realität.


ICH WÜRDE gerne eines deutlich machen: Für mich ist die Zwei-Staaten-Lösung kein Rezept, das Trennung und Scheidung verschreibt, sondern im Gegenteil einer Art Hochzeit.

Vom ersten Tag an als wir, eine winzige Gruppe, vor 66 Jahren das Banner der Zwei-Staaten-Lösung hochhielten, war uns klar, dass die zwei Staaten, die in einem so kleinen Land so eng bei einander leben, in enger Kooperation leben müssen. Die Grenzen müssen für Menschen und Waren offen sein, die Wirtschaft eng mit einander verknüpft. Eine Art Föderation ist unvermeidbar. Die Haltungen werden sich langsam auf beiden Seiten ändern.

Verbindungen werden geknüpft. Freundschaften werden gegründet. Geschäftsnteressen werden die Leute überzeugen. Die Leute werden zusammen arbeiten und einander respektieren. Wie die Araber sagen: Inshallah!

Wenn ich gefragt werden würde, ob dies die beste Lösung sei, lautet meine Antwort: "Es ist die einzige Lösung."

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 20.06.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juni 2015

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