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STANDPUNKT/458: Der Krieg der Toren (Uri Avnery)


Der Krieg der Toren

von Uri Avnery, 16. Mai 2015


VOR EIN paar Tagen brachte der israelische TV-Kanal 10 eine investigative Reportage über den israelischen Angriff auf den Libanon 2006, bekannt als "2. Libanon-Krieg".

Auch wenn sie nicht gerade tiefschürfend war, gab sie ein gutes Bild ab von dem, was sich tatsächlich ereignete. Die drei israelischen Hauptprotagonisten redeten frei darüber.

Das Bild war, gelinde gesagt, sehr beunruhigend. Man könnte auch sagen, es war alarmierend.

Die wichtigste Schlussfolgerung ist, dass all unsere Führer sich zu jener Zeit mit eklatanter Unverantwortlichkeit verhalten haben, gepaart mit Dummheit.


REKAPITULIEREN WIR: der 2. Libanonkrieg dauerte 34 Tage vom 7. Juli bis 14. August 2006.

Er wurde durch einen Grenzzwischenfall provoziert: Hisbollah-Kräfte im südlichen Libanon überquerten die Grenze und griffen eine israelische Routine-Patrouille an. Das Ziel war, israelische Soldaten gefangen zu nehmen, um sie gegen eigene Gefangene auszutauschen - die einzige Methode, die israelische Regierung dazu zu bringen, arabische Gefangene freizulassen.

Bei diesem Angriff wurden zwei israelische Soldaten auf libanesisches Gebiet verschleppt. Alle anderen wurden getötet. Uns wurde erzählt, dass die Gefangenen vermutlich noch am Leben seien. Der Film zeigt, dass das Armeekommando sofort wusste, dass wenigstens einer der beiden Gefangenen tot, und der zweite vermutlich auch gestorben war. Tatsächlich sind beide schon während der Aktion getötet worden.

Die übliche Reaktion bei solch einem Vorfall ist ein Vergeltungsschlag, wie das Bombardement oder der Beschuss einer Hisbollah-Basis oder eines libanesischen Dorfes, um die "Abschreckung wieder herzustellen". Doch diesmal nicht. Das israelische Kabinett begann einen Krieg.

Warum?

Die TV-Reportage liefert keine überzeugende Antwort. Der Beschluss wurde sofort nach einem Minimum an Beratungen gefasst. Man hat das Gefühl, dass Emotionen und persönliche Ambitionen eine große Rolle spielten.


DIE TV-Untersuchung bestand fast nur aus den Zeugenaussagen der drei Personen, die tatsächlich die Entscheidung trafen und den Krieg führten.

Der erste war der Ministerpräsident. Ehud Olmert hatte erst wenige Monate vorher sein Amt angetreten, fast durch Zufall. Er war der stellvertretende Ministerpräsident unter Ariel Scharon gewesen, der ihm diesen leeren Titel als Kompensation vermacht hatte, weil er ihm kein ernsthaftes Ministerium anvertraut hatte. Als Sharon plötzlich in ein Dauerkoma fiel, managte es Olmert geschickt, sein Nachfolger zu werden.

Während seines Erwachsenenlebens war Olmert ein politischer Funktionär gewesen, gegenüber niemandem loyal, er sprang von einer Partei zur anderen, von einem Förderer zum nächsten, von der Knesset in die Jerusalemer Stadtverwaltung und zurück, bis er sein Lebensziel erreichte: das Amt des Ministerpräsidenten.

Bis dahin hatte er überhaupt keine militärischen Erfahrungen gesammelt. Um den wirklichen Militärdienst hat er sich gedrückt, und am Ende tat er verkürzten Dienst in der juristischen Abteilung der Armee.

Der Verteidigungsminister Amir Peretz hatte sogar noch weniger Erfahrung. Er war von Berufs wegen Aktivist der Arbeiterschaft und so wurde er Generalsekretär der riesigen Histadrut-Gewerkschaft und zum Führer der Labor-Partei. Als die Partei sich Olmerts neuer Regierung anschloss, konnte Peretz ein Ministerium wählen und nahm das prestigeträchtige Verteidigungsministerium.

Diese Verbindung von zwei Regierungsführern ohne jede militärische Qualifikation ist in Israel ungewöhnlich, in einem Land, das ständig im Krieg ist. Das ganze Land lachte, als Peretz während einer Armeeübung von einem Fotografen ertappt wurde, wie er versuchte, die Aktion mit einem Fernglas zu verfolgen, dessen Schutzkappen noch auf dem Glas saßen.

Die dritte Person des so schicksalhaften Trios, der Stabschef Dan Halutz, sollte vermutlich die militärische Unzulänglichkeit seiner beiden zivilen Vorgesetzten ausgleichen. Er war angesehener Berufssoldat. Aber leider war er ein Luftwaffengeneral, ein früherer Kampfpilot, der niemals mit Bodentruppen umgegangen war.

In Israel waren alle früheren Stabschefs von Bodentruppen gekommen und erfahrene Infanteristen. Die Armee hatte nie einen Stabschef, der kein erfahrener Infanterie- oder Panzeroffizier war. Die Ernennung von Halutz auf diesen Posten war äußerst ungewöhnlich. Böse Zungen spielten darauf an, dass der frühere Verteidigungsminister, eine Person mit jüdisch-iranischem Ursprung, Halutz bevorzugte, weil dessen Vater auch ein Immigrant aus dem Iran war.

Wie dem auch sei: der Stabschef, der weniger als ein Jahr im Amt war, war völlig unerfahren und hatte keine Qualifikation, um eine Bodentruppe zu führen.

So geschah es, dass die drei Führer des 2. Libanon-Krieges neu im Amt waren und völlig unerfahren, einen Bodenkrieg zu führen. Zwei der drei hatten keinerlei Erfahrung in militärischen Angelegenheiten.

Dem Stabschef widerfuhr ein weiteres Missgeschick. Später kam ans Licht, dass er ein paar Stunden nach der Entscheidung zum Krieg und noch bevor der erste Schuss abgefeuert wurde, seinen Börsenmakler angewiesen hatte, seine Aktien zu verkaufen. In der TV-Reportage behauptete er, er habe die Instruktion schon ein paar Tage vorher gegeben wollen, als noch keiner an einen Krieg dachte, und dass es aus einigen technischen Gründen eine Verzögerung gegeben habe. Aber wie Peretz' Foto mit dem geschlossenen Fernglas auf den einen, so hat die Halutz Affäre mit den Aktien einen Schatten auf den anderen geworfen.

Olmert war danach für schuldig befunden worden, Bestechungsgelder angenommen zu haben. Er wurde noch verschiedener anderer Verbrechen überführt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Das Berufungsverfahren läuft noch.


DEM 2. LIBANON-Krieg war 24 Jahre früher der 1. Libanonkrieg voraus gegangen, der von Verteidigungsminister Ariel Scharon geführt worden war und unter der Schirmherrschaft von Menachem Begin gestanden hatte.

Damals war die Zerstörung der palästinensischen Basen im Südlibanon das Ziel gewesen. Es gab ein definiertes Kriegsziel, einen klaren operativer Plan und eine effiziente militärische und politische Führung. Es endete natürlich in einer Katastrophe, nachdem das Sabra-Shatila-Massaker stattgefunden und die Welt schockiert hatte.

Zur Aufklärung der Gräueltat wurde eine Untersuchungskommission eingerichtet und Sharon als Verteidigungsminister abgesetzt (aber nicht aus der Regierung entlassen). Militärkommandeure wurden bestraft.

Trotzdem wurde die Kampagne in Israel als brillanter militärischer Erfolg angesehen. Nur wenige realisierten, dass es ein militärisches Chaos war: An der Ostfront, Syrien gegenüber, erreichte keine israelische Einheit das vorgegebene Ziel und die israelischen Truppen an der Westfront erreichten Beirut erst nach der vorgegebenen Zeit und nur dadurch, dass sie den von den UN auferlegten Waffenstillstand brachen. (Damals besuchte ich Yasser Arafat im belagerten Westteil der Stadt.)

Der 1. Libanon-Krieg hatte eine unvorhergesehene und dauerhafte Wirkung. Die palästinensischen Truppen wurden tatsächlich aus dem Land abgezogen und nach Tunis befördert (wo Arafat den Kampf bis zum Oslo-Abkommen fortführte). Aber anstelle der palästinensischen Bedrohung wuchs im Libanon eine schlimmere Bedrohung. Die schiitische Bevölkerung, bis dahin ein Verbündeter Israels, wurde ein tödlicher und sehr effizienter Feind. Die Hisbollah (Partei von Allah) wurde zu einer kraftvollen politischen und militärischen Kraft, was schließlich zum 2. Libanonkrieg führte.


DOCH DER 1. Libanonkrieg war - verglichen mit dem 2. Libanonkrieg ein strategisches Meisterstück. Im 2. Libanonkrieg gab es überhaupt keinen operativen Plan. Noch gab es ein klares Kriegsziel - ein Muss für jede erfolgreiche militärische Operation.

Der Krieg begann mit einem massiven Bombenangriff auf zivile als auch auf militärische Ziele, Elektrizitätswerke, Straßen und Dörfer - die Erfüllung des Traumes eines jeden Luftwaffengenerals. Entscheidungen wurden getroffen und zurückgenommen, die Operation begonnen und abgeblasen. Ziele wurden bombardiert und zerstört ohne irgendeinen Zweck, abgesehen davon die zivilen Bevölkerung zu terrorisieren und ihr die Lektion "ins Bewusstsein einzubrennen", dass es sich nicht lohnt, Israel zu provozieren.

Hisbollah reagierte durch Terrorisierung israelischer Städte mit Raketen. Auf beiden Seiten wuchs die Zahl der Todesfälle und der Zerstörung. Der Süden des Libanon und seine Mitte litten natürlich am meisten.

Als die Hisbollah nicht kapitulierte, wuchs der Druck in Israel, eine Bodenoffensive zu starten. Sie führte beinahe nirgendwohin. Nachdem die UN eine Feuerpause verordnet hatte, entschied die israelische Führung, eine letzte Anstrengung zu unternehmen und setzte nach dem Stichtag einen Bodenangriff in Gang. 34 israelische Soldaten starben für nichts und wieder nichts.

Ein großer Teil der Operation wurde von Reservesoldaten durchgeführt, die eilig zusammen gerufen worden waren. Als die Reservisten an ihren Basen ankamen, fanden sie die Notlager leer - viel wesentliches Kriegsmaterial fehlte. Da sie uniformierte Zivilisten waren, beklagten sie sich lautstark. Klar war, dass das Armeekommando diese Lager jahrelang vernachlässigt hatte. Auch das Training. Viele Reservisten hatten jahrelang ihre Trainingskurse nicht besucht.

Als das Feuer endlich eingestellt wurde, hatte die israelische Armee so gut wie nichts erreicht. Ein paar libanesische Dörfer direkt neben der Grenze waren erobert worden und mussten wieder aufgegeben werden.


DIESES MAL konnten die Fehler nicht vertuscht werden. Eine zivile Untersuchungskommission wurde gebildet. Sie verurteilte die Führung. Peretz und Halutz mussten zurücktreten, Olmert wurde bald danach der Korruption angeklagt und musste auch zurücktreten.

Vom Standpunkt der israelischen Regierung aus hatte der 2. Libanonkrieg jedoch einige Errungenschaften gebracht.

Von damals bis heute ist die libanesisch-israelische Grenze verhältnismäßig ruhig gewesen. Falls es überhaupt ein erkennbares Kriegsziel gegeben haben sollte, wäre es das Terrorisieren der libanesischen Zivilbevölkerung durch ausgedehnte Zerstörungen und Tötungen. Dies wurde tatsächlich erreicht. Hassan Nasrallah, der herausragende Hisbollah-Führer (der ernannt worden war, nachdem sein viel weniger fähiger Vorgänger von der israelischen Armee durch eine "gezielte Tötung" "eliminiert" worden war) gab mit ungewöhnlicher Aufrichtigkeit öffentlich zu, dass er nicht die Aktion der Gefangennahme befohlen hätte, hätte er vorausgesehen, dass dies in einen Krieg ausarten würde.

Allerdings ist man, wenn man den drei israelischen Führern bei der TV-Reportage zuhört, von der offenkundigen Inkompetenz aller drei geschockt.

Sie begannen ohne wirklichen Grund einen Krieg, in dem Hunderte von Israelis und Libanesen getötet und Häuser zerstört worden waren. Sie haben einen Krieg ohne klaren Plan geführt, Entscheidungen ohne notwendiges Wissen getroffen. Als sie im TV sprachen, zeigten sie sehr wenig Respekt für einander.

Ein Israeli, der diesen Zeugen zuhörte, ist gezwungen, sich selbst zu fragen: ist das so mit all unseren Kriegen - in der Vergangenheit und Zukunft? Ist das bis jetzt nur durch Zensur und stilles Übereinkommen vertuscht worden?

Und die viel größere Frage: Traf dies auf die meisten Kriege in der Geschichte zu - vom alten Ägypten und Griechenland bis heute? Wir wissen inzwischen schon, dass der Erste Weltkrieg mit seinen Millionen Opfern von politischen Dummköpfen entfacht und von militärisch inkompetenten Leuten geführt wurde.

Ist die Menschheit bis in alle Ewigkeit zu solchem Leiden verurteilt? Ist das alles, was wir Israelis zu erwarten haben: einige weitere Kriege, die von derselben Art von Politikern und Generälen geführt werden?



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 16.05.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2015

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