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STANDPUNKT/443: Der Messias ist nicht gekommen (Uri Avnery)


Der Messias ist nicht gekommen

von Uri Avnery, 21. März 2015


DER MESSIAS ist nicht gekommen, und Bibi ist nicht gegangen.

Das ist das traurige Ergebnis.

Traurig, aber nicht das Ende der Welt.

Wie eine amerikanische Redewendung es ausdrückt: "Heute ist der erste Tag vom Rest unseres Lebens."

Ich würde sagen: "Heute ist der erste Tag der Schlacht um die nächsten Wahlen."

Die Schlacht um die Rettung Israels muss genau jetzt beginnen.


EINIGE LEUTE sagen, dass jetzt die beste Möglichkeit für eine sogenannte Nationale Einheitsregierung sei.

Das sieht wie eine nette Idee aus. Einheit klingt immer gut.

Ich kann ein paar triftige Argumente dafür geben. Die Kombination der beiden großen Parteien schaffen einen Block mit 54 (von 120) Sitzen. Solch eine Koalition benötigt nur eine andere Partei, um eine Mehrheit zu bilden. Da gibt es mehrere Möglichkeiten, angeführt von Moshe Kachlons 10 Sitzen.

Die Befürworter dieser Wahl haben ein gutes Argument: es ist das kleinere Übel. Die einzige andere Möglichkeit ist eine extreme Regierung der Religiösen und Extremisten vom rechten Flügel, die nicht nur jeden Schritt in Richtung Frieden verhindern wird, sondern auch die Siedlungen erweitern, mehr Gesetze zur Unterdrückung der Demokratie erlassen und reaktionäre religiöse Gesetze einführen wird.

Es ist ein gutes Argument, aber es sollte sofort zurückgewiesen werden.

Die Einheitsregierung würde von der Rechten beherrscht werden. Bestenfalls wäre sie eine Regierung der vollkommenen Unbeweglichkeit. Sie würde unfähig und unwillig sein, selbst die geringste Bewegung zu tun, um den historischen Konflikt und die Besatzung zu beenden und Palästina anzuerkennen. Die Siedlungen würden sich in rasender Geschwindigkeit ausdehnen. Die Chancen für einen eventuellen Frieden würden in noch weitere Ferne rücken.

Die Einheitsregierung würde eine Menge Leid verursachen. Die Labor-Partei wäre verpflichtet, diesen verheerenden Kurs zu rechtfertigen und zu beschönigen. Eine Einheitsregierung würde auch die Obama-Regierung und progressive jüdische Kräfte in der ganzen Welt entwaffnen. Sie wäre ein ungeheuer großes Feigenblatt für das Unheil, das die Regierung anrichtet.

Sie würde auch bewirken, dass es in Israel keine effektive Opposition gäbe. Wenn die Regierungs-Koalition irgendwann auseinanderbräche, wäre die Labor-Partei zu sehr besudelt, als dass sie eine glaubhafte Alternative darstellen könnte. Der anfängliche Erfolg von Itzhak Herzog, die alte Partei aus ihrem Komazustand herauszuholen, kann kein zweites Mal wiederholt werden. Labor würde eine erschöpfte Kraft sein, würde nur noch dahin vegetieren.

Glücklicherweise starb diese Möglichkeit für die Labor-Partei unmittelbar nach den Wahlen. Netanjahu erschlug sie mit einem Streich.


ÜBRIGENS ein seltsamer Nebeneffekt einer Nationalen Einheitsregierung wäre, dass der Führer der (arabischen) Gemeinsamen Liste, Ayman Odeh, der Führer der Opposition werden würde.

Nach dem Gesetz wird dieser Titel automatisch dem Führer der größten Oppositionspartei verliehen. Er gewährt seinem Inhaber viele der Privilegien eines Kabinett-Ministers. Der Ministerpräsident ist verpflichtet, sich mit ihm regelmäßig zu beraten und Regierungsgeheimnisse mit ihm zu teilen.

Aber selbst, wenn es keine Einheitsregierung geben sollte und Herzog der Führer der Opposition würde, ist die veränderte Situation der Araber in der Knesset ein außerordentliches Ergebnis der Wahl.

Darin liegt eine gewisse Komik: es war Avigdor Lieberman, der fast pathologische Araberhasser, der die Knesset dazu verleitete die Prozenthürde auf 3,25% zu erhöhen. Die Absicht war, die drei kleinen arabischen Parteien (einschließlich der kommunistischen, die auch ein paar jüdische Wähler hatte) zu eliminieren. Diese reagierten darauf, indem sie ihre gegenseitigen Unstimmigkeiten und Feindseligkeiten überwanden und die Gemeinsame Liste bildeten. Liebermann hatte große Schwierigkeiten, die von ihm selbst aufgestellte Hürde zu überwinden, und Ely Yishais Partei, zu der auch die Erben des Faschisten Meir Kachane gehören, schaffte es Gott sei danke nicht in die Knesset.

Es ist zu hoffen, dass die Gemeinsame Liste nicht auseinanderbricht. Odeh repräsentiert eine neue Generation arabischer Bürger, die sehr viel bereiter ist, sich in die israelische Gesellschaft zu integrieren. Vielleicht werden das nächste Mal die alten Tabus endlich verschwinden und die arabischen Bürger ein wirklicher Teil des israelischen politischen Lebens werden. Dieses Mal wagte die Labor-Partei noch nicht, sie als vollwertiges Mitglied einer linken Koalition anzuerkennen.


ICH SAGE nicht gerne: "Ich hab's euch ja gesagt". Das macht einen nicht gerade beliebter. Dieses Mal kann ich es aber nicht vermeiden, weil hier eine Lektion gelernt werden muss.

Zu Beginn des Wahlkampfes schrieb ich zwei Artikel in Haaretz, in denen ich vorschlug, dass der anfängliche Schwung, der durch die Herzog-Livni-Vereinigung entstanden war, durch eine viel größere Einheitsliste, die auch das "Zionistische Lager" (Labor), Meretz, Lapids Yesh Atid ('Es gibt eine Zukunft') und, wenn möglich, sogar Moshe Kachlons neue Partei einschloss, fortgesetzt und intensiviert werden sollte.

Die Reaktion darauf? Es gab überhaupt keine. Keine der Parteien nahm offiziell auch nur Notiz davon.

Die Idee war, dass solch eine vereinigte Front eine unaufhaltsame Eigendynamik entwickeln und Wähler anziehen würde, die keine dieser Parteien einzeln wählen würden (oder überhaupt nicht wählen würden). Zusammen mit der "Gemeinsamen arabischen Liste", hätte sie eine Kraft dargestellt, die den Likud blockiert und sein Comeback unmöglich gemacht hätte.

Ich fügte hinzu, dass alle beteiligten Parteien es bereuen würden, wenn der Vorschlag nicht akzeptiert würde. Es tut mir sehr leid, dass ich anscheinend recht hatte.


AM MORGEN nach der Wahl trat die Meretz-Führerin Sehava Galon zurück. Es war ehrenhaft, dies zu tun.

Meretz kam knapp über die Prozenthürde und schrumpfte auf vier Sitze zusammen, obwohl viele Wähler (einschließlich meiner selbst) ihr im letzten Augenblick zu Hilfe eilten.

Die Partei hat an einer langen Reihe von glanzlosen Führern gelitten. Doch ihre Misere geht viel tiefer. Sie ist existentiell.

Von Anfang an war Meretz eine Partei der ashkenasischen intellektuellen Elite. Sie sagt das Richtige. Aber die Masse der orientalischen Juden grollt ihr, die Religiösen hassen sie und die russischen Einwanderer stoßen sie zurück. Sie lebt auf einer einsamen Insel und ihre Mitglieder vermitteln den Eindruck, sie seien recht glücklich, dass sie unter sich sind und ohne all den Pöbel.

Sehava Galon ist eine gute Person, ehrlich und wohlmeinend, und ihr Verzicht nach den ersten Wahlergebnissen ehrt sie. Es scheint, dass Meretz auf 4 Sitze geschrumpft ist. Aber die Partei ist langweilig geworden. Nichts Neues seit langer, langer Zeit. Ihre Botschaft ist richtig, aber uninteressant.

Meretz braucht einen Führer - eine inspirierende Persönlichkeit, die Begeisterung weckt. Aber vor allem benötigt sie eine neue Einstellung - eine, die erlaubt, aus ihrem Panzer herauszukommen und die ihre Wähler, die ihr jetzt aus dem Weg gehen, aktiv anzieht. Sie muss hart arbeiten, um die Orientalen, Russen, Araber und selbst die moderaten Religiösen anzusprechen.


ABER IST es fair, dies nur von Meretz zu verlangen? Es gilt für den ganzen sozialen und liberalen Teil Israels, für das Friedenslager und das Lager für soziale Gerechtigkeit.

Die Wahlergebnisse haben gezeigt, dass die düsteren Prophezeiungen über eine eindeutige, unumkehrbare Verschiebung in Richtung rechts unbegründet sind. Die Trennlinie geht durch die Mitte und kann verschoben werden.

(Das allgemeine Bild hat sich nicht verändert. Der rechte Flügel (Likud, Bennet, Lieberman) hat nur einen einzigen Sitz gewonnen: von 43 auf 44. Das Mitte-Links-Lager (Zionist, Meretz, Lapid) hat 8 Sitze verloren: von 48 auf 40, aber die meisten von ihnen gingen zu Kachlon, der 10 Sitze gewann. Die Orthodoxen kamen von 17 auf 14 Sitze. Die arabische Liste gewann 2 - von 11 auf 13. Der falsche Eindruck, es habe einen riesigen Wandel gegeben, wurde durch die Meinungsumfragen mit ihrem künstlichen Drama geschaffen.

Aber um dies zu bewirken, muss die Bereitschaft vorhanden sein, wieder von vorne anzufangen.

Der gegenwärtige Aufbau der israelischen Linken kann das nicht schaffen. Das ist die simple Wahrheit.

Die auffallende Tatsache dieser Wahl ist, dass das Ergebnis genau die demografische Zusammensetzung der israelischen Gesellschaft wiederspiegelt. Der Likud bezieht seine Stimmen vor allem aus der orientalisch-jüdischen Gemeinschaft, die mit den unteren sozio-ökonomischen Schichten identisch ist. Außerdem blieb ein Teil der aschkenasischen Gesellschaft dem Likud treu.

Das Zionistische Lager und Meretz bezogen ihre Stimmen aus der wohlsituierten aschkenasischen Schicht - und zwar nur daher und sonst nirgendwoher.

Die Einstellung der Likudleute gegenüber ihrer Partei ähnelt der Einstellung von Fußballfans zu ihrem Team. Es ist sehr emotional.

Ich war immer davon überzeugt, dass Wahlpropaganda und der ganze Medienklamauk des Wahlkarnevals wenig, wenn überhaupt etwas mit dem Ergebnis zu tun hat. Die demographischen Fakten sind entscheidend.

Die Linke muss sich entsprechend der Realität selbst neu erfinden. Sonst hat sie keine Zukunft.

Falls eine der bestehenden Parteien dies tun kann, wäre es schön. Falls nicht, muss eine neue politische Kraft gebildet werden. Und zwar jetzt.

Nicht-parteigebundene Organisationen, mit denen Israel überreich ausgestattet ist, können diesen Job nicht tun. Sie können versuchen - und tun es -, viele bestehende Fehler zu beseitigen. Ihre Aktivisten kämpfen für die Menschenrechte, propagieren gute Ideen, verhindern Missbrauch der Gewalt. Aber sie können nicht die Hauptarbeit tun: die Politik des Staates verändern. Dafür brauchen wir eine politische Partei, eine die die Wahlen gewinnen und eine Regierung bilden kann. Das ist die wichtigste Aufgabe. Ohne ihre Erfüllung steuern wir auf eine Katastrophe zu.

Als Erstes müssen unsre Misserfolge klar analysiert und eingestanden werden. Dazu gehört der verhängnisvolle Misserfolg, einen großen Teil der orientalisch-jüdischen Gemeinde zu überzeugen, sogar die zweite und dritte Generation. Dies ist keine gottgewollte Tatsache. Sie muss anerkannt, analysiert und studiert werden. Das kann getan werden.

Dasselbe gilt sogar noch mehr für die Immigranten aus der früheren Sowjetunion. Sie sind der Linken weitgehend entfremdet. Dafür gibt es im heutigen Israel keinen Grund. Die zweite und dritte Generation muss überzeugt werden.

Das Tabu, das die jüdische Linke daran hindert, sich mit arabischen politischen Kräften zu vereinigen, muss gebrochen werden. Es ist ein Akt der Selbst-Kastration (auf beiden Seiten) und verurteilt die Linke zur Impotenz.

Ebenso wenig gibt es einen Grund für einen vollkommenen Bruch zwischen der säkularen Linken und gemäßigten religiösen Kräften. Die provokante anti-religiöse Haltung, die einige Teile der Mitte und der Linken einnehmen, ist einfach dumm.



WAS IST also zu tun?

Vor allem muss eine neue Führung ermutigt werden, hervorzutreten. Sehava Galons erstes lobenswertes Beispiel sollte von anderen und von ihr selbst befolgt werden. Wirklich neue Führer müssen kommen, solche, die nicht eine Kopie der alten sind.

Die größte Gefahr ist, dass sich nach dem ersten Schock alles in alter Weise einpendelt, als ob nichts geschehen wäre.

Ein entschlossener Versuch muss gemacht werden, um die Reibungspunkte zwischen der Linken und den entfremdeten Teilen genau festzustellen. Testgruppen müssen aufgebaut werden, um an die Wurzeln der Entfremdung - bewusst und unbewusst, konkret und emotional - zu gelangen.

Überhebliche Haltungen müssen abgebaut werden. Kein Sektor hat ein exklusives Recht auf den Staat. Jeder hat ein Recht, gehört zu werden und seine tieferen Gefühle und Hoffnungen auszudrücken. Exklusivität, oft unbewusst, muss durch Einbeziehung ersetzt werden.

Meiner Meinung nach ist es ein Fehler, zu versuchen, unsere Überzeugungen zu verstecken. Im Gegenteil, die Tatsache, dass die Wörter "Frieden" und "Palästina" im Wahlkampf überhaupt nicht erwähnt wurden, half der Linken nicht. Ehrlichkeit ist die erste Voraussetzung, um Leute zu überzeugen.

Kurz gesagt, falls die Linke das nächste Mal gewinnen möchte - was viel früher, als erwartet, kommen kann - muss sie damit beginnen, sich selbst zu reformieren und die Gründe für ihren derzeitigen Misserfolg überwinden.

Das ist möglich. Der Zeitpunkt, damit zu beginnen, ist genau jetzt.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 21.03.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2015

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