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STANDPUNKT/408: Das Plebiszit - die Volksabstimmung (Uri Avnery)


Das Plebiszit - die Volksabstimmung

von Uri Avnery, 6. Dezember 2014



DIE ISRAELIS haben genug von Benjamin Netanjahu. Sie haben genug von dieser Regierung. Sie haben genug von diesen politischen Parteien. Sie haben von sich selbst genug. Sie haben einfach genug.

Das ist der Grund für die Auflösung der Regierung in dieser Woche. Sie hat sich nicht wegen eines besonderen Grundes aufgelöst. Sicherlich nicht wegen belangloser Angelegenheiten wie Frieden oder Krieg, Besatzung, Rassismus, Demokratie und ähnlichem Unsinn.

Seltsamerweise geschah dies Netanjahu schon früher einmal. Seine erste Regierungszeit löste sich im Jahr 2000 auf, und das ganze Land atmete hörbar erleichtert auf. Tatsächlich war das allgemeine Gefühl das der Befreiung, als ob ein fremder Eroberer endlich vertrieben worden wäre. Wie im Paris 1944.

Als im Jahr 2000 am Abend nach der Wahl verkündet wurde, Netanjahu sei besiegt worden, brach Begeisterung aus. Zehntausende Bürger waren außer sich und strömten spontan auf den Hauptplatz von Tel Aviv, den Rabinplatz, und jubelten dem Retter zu: Ehud Barak, dem Führer der Labor-Partei. Er verkündete das Morgenrot eines neuen Tages.

Leider stellte sich heraus, dass Barak ein Soziopath und ein Egomane, wenn nicht gar ein Größenwahnsinniger war. Er verpasste bei der Camp-David-Konferenz die Chance des Friedens, und während des Prozesses zerstörte er die israelische Friedensbewegung fast vollkommen. Die Rechte kam zurück - diesmal unter Ariel Sharon. Dann unter Ehud Olmert. Schließlich dann noch einmal.

Und jetzt wieder? Gott bewahre uns!



WARUM BRACH die Regierung in dieser Woche zusammen?

Es gab keinen besonderen Grund. Die Minister hatten einfach von einander genug, und alle hatten von "Bibi" die Nase voll.

Die Minister begannen einander und Netanjahu schlecht zu machen. Der Ministerpräsident selbst beschuldigte seine Minister - einen nach dem anderen - der Inkompetenz und böser Verschwörungstheorien gegen ihn. In seiner Schlussrede klagte er seinen Finanzminister Yair Lapid des Versagens an - als ob er selbst, der Ministerpräsident, nichts damit zu tun hätte.

Die Öffentlichkeit schaute wie amüsierte oder irritierte Zuschauer zu, als ob sie dieses ganze Durcheinander nichts anginge.

Nun stehen uns neue Wahlen bevor.

In diesem Augenblick sieht es so aus, als wären wir verurteilt, danach eine vierte Netanjahu-Regierung zu haben, noch schlimmer als die dritte, noch rassistischer, noch anti-demokratischer, noch friedensfeindlicher.

Es sei denn...


VOR DREI WOCHEN, als noch niemand den drohenden Zusammenbruch erwartete, schrieb ich für Haaretz einen Artikel mit dem Titel "Eine nationale Notregierung."

Mein Argument war, dass die Netanjahu-Regierung das Land in die Katastrophe führen würde. Sie zerstört systematisch alle Chancen für einen Frieden, vergrößert die Siedlungen in der Westbank und besonders in Ost-Jerusalem, schürt das Feuer eines Religionskrieges auf dem Tempelberg, klagte gleichzeitig Mahmoud Abbas und Hamas an. All dies nach dem überflüssigen Gaza-Krieg, der militärisch unentschieden und in einer menschlichen Katastrophe endete, die unvermindert bis heute weitergeht.

Gleichzeitig bombardiert die Regierung die Knesset mit einem nicht endenden Strom rassistischer und anti-demokratischer Gesetzesentwürfe, der eine schlimmer als der vorherige, der in der Gesetzesvorlage gipfelte: "Israel: der Nationalstaat des jüdischen Volkes". Ausgelöscht wurde der Terminus: "Jüdischer und demokratischer Staat" wie auch das Wort "Gleichheit".

Zur selben Zeit streitet sich Netanjahu mit der US-Regierung und beschädigt ernsthaft eine Beziehung, die die Rettungsleine Israels in allen Angelegenheiten ist, und Europa nähert sich langsam aber sicher dem Erlassen von Sanktionen gegen Israel.

Gleichzeitig vergrößert sich in Israel die soziale Ungleichheit, die schon enorm ist und sich immer mehr verbreitet; die Preise sind höher als in Europa, das Wohnen fast unbezahlbar.

Mit dieser Regierung galoppieren wir in Israel selbst und in den besetzten Gebieten auf einen rassistischen Apartheidstaat zu und eilen in Richtung einer Katastrophe.


IN DIESER Notlage, schrieb ich, können wir uns die übliche Kabbelei zwischen den kleinen linken Parteien und den Parteien der Mitte nicht leisten; keine gefährdet die rechte Koalition, die an der Macht ist.

In einer nationalen Notlage benötigen wir Notmaßnahmen.

Wir müssen einen vereinigten Wahlblock aller Parteien der Mitte und des linken Flügels schaffen und dürfen dabei niemanden außer Acht lassen, auch nicht die arabischen Parteien.


ICH WEISS, dies ist eine Herkules-Aufgabe. Es gibt sehr große ideologische Unterschiede zwischen diesen Parteien, ganz zu schweigen von Partei-Interessen und dem Egoismus der Führer, die in gewöhnlichen Zeiten schon eine sehr große Rolle spielen. Aber wir leben in außergewöhnlichen Zeiten.

Ich schlug nicht vor, dass sich die Parteien auflösen und sich in einer großen Partei vereinigen sollten. Ich fürchte, dies ist zu diesem Zeitpunkt unmöglich. Es wäre zumindest verfrüht. Stattdessen schlage ich ein vorläufiges Bündnis aller Parteien vor, die die Herstellung von Frieden, Demokratie, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit anstreben.

Wenn die arabischen, politischen Kräfte sich dieser Verbindung anschließen könnten, wäre das wunderbar. Wenn die Zeit noch nicht reif dazu ist, sollten die arabischen Bürger parallel einen vereinigten Block schaffen, der mit dem jüdischen verbunden wird.

Der erklärte Zweck des Blocks sollte sein, der katastrophalen Tendenz des Landes, sich dem Abgrund zu nähern, ein Ende zu setzen und nicht nur Netanjahu zu vertreiben, sondern die ganze Bande von Siedlern, nationalistischen und rassistischen Demagogen, Kriegstreibern und religiösen Zeloten. Er sollte alle Sektoren der israelischen Gesellschaft, Frauen und Männer, Juden und Araber, Orientalen und Aschkenasim, Säkulare und Religiöse, russische und äthiopische Immigranten ansprechen. All jene, die um die Zukunft Israels Sorge tragen und entschlossen sind, sie zu retten.

Der Aufruf sollte sich zu allererst an die bestehenden Parteien wenden: an die Arbeitspartei und an Meretz, an Jair Lapids "Es gibt eine Zukunft" und an Zipi Livinis "Die Bewegung", ebenso wie an die neue, im Entstehen begriffene Partei Mosche Kachlons, die kommunistische Chadasch und die arabischen Parteien. Der Block sollte auch alle Friedens- und Menschenrechts-Organisationen zur Unterstützung auffordern.

In den politischen Annalen Israels gibt es ein Beispiel. Als Ariel Sharon 1973 die Armee verließ (nachdem seine Kollegen beschlossen hatten, ihm nie zu gestatten, Stabschef zu werden), schuf er den Likud, indem er sich mit Menachem Begins Freiheitspartei, mit den Liberalen und zwei Splitterparteien vereinigte.

Ich fragte ihn, welchen Sinn dies hat. Die Freiheitspartei und die Liberalen waren schon in einer Knessetfraktion verbunden, und die zwei winzigen Parteien waren zum Scheitern verurteilt.

"Du verstehst nichts", antwortete er. "Das Wichtige ist, die Wähler zu überzeugen, dass der ganze rechte Flügel jetzt vereinigt und keiner draußen gelassen worden ist."

Begin war keineswegs begeistert. Aber starker öffentlicher Druck war auf ihn ausgeübt worden, und so wurde er der Führer. Nach acht Wahlniederlagen wurde er 1977 Ministerpräsident.


HAT JETZT ein Mitte-Links-Bündnis eine Chance auf Erfolg? Ich bin fest davon überzeugt, dass es sie hat.

Eine große Anzahl von Israelis, jüdische und arabische, sind wegen der politischen Situation verzweifelt. Sie verachten alle Politiker und Parteien; sie sehen nur noch Korruption, Zynismus und Eigeninteressen. Andere sind davon überzeugt, der Sieg des rechten Flügels sei unvermeidbar. Das herrschende Gefühl ist Fatalismus, Apathie und Können-wir-noch-etwas-tun?

Eine große neue Verbindung trägt die Botschaft: Ja, wir können. Alle zusammen können wir den Karren anhalten und umdrehen, bevor er den Abgrund erreicht. Wir können die Danebenstehenden in Aktivisten verwandeln. Wir können Nichtwähler zu Wählern machen. Massen von ihnen.


ES BLEIBT nun noch die Frage, wer wird die Nummer 1 auf der vereinten Wählerliste sein? Dies ist ein riesiges Problem. Politiker haben ein starkes Ichgefühl. Keiner von ihnen wird seinen Ehrgeiz aufgeben. Ich weiß es. Ich bin dreimal in meinem Leben da durch gegangen und musste mit meinem eigenen Ego kämpfen.

Die Persönlichkeit der Nummer 1 hat einen unverhältnismäßigen Einfluss auf die wählende Öffentlichkeit.

Sehen wir die Dinge, wie sie sind: im Augenblick gibt es keine hervorragende Persönlichkeit, die sich als naheliegende Wahl anbieten würde.

Eine einfache und demokratische Art und Weise wäre, einer offiziellen Meinungsumfrage den Vorrang zu geben. Lasst den Populärsten gewinnen.

Eine andere Methode wäre, eine allgemeine Vorwahl abzuhalten. Jeder, der erklärt, für die Liste zu stimmen, gibt einen Stimmzettel ab. Es gibt auch andere Möglichkeiten.

Es wäre eine Tragödie von historischen Ausmaßen, wenn kleinkarierter Ehrgeiz zum Misslingen führen würde.


IN DEN letzten paar Tagen sind gleichlautende und ähnliche Aufrufe veröffentlicht worden. Es gibt ein wachsendes Verlangen nach einer vereinigten Nationalen Rettungsfront.

Damit diese Vision wahr wird, ist öffentlicher Druck nötig. Wir müssen das Zögern und Zaudern der Politiker überwinden. Wir brauchen einen ständigen Strom öffentlicher Forderungen, Petitionen von wohl bekannten und respektierten kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Persönlichkeiten als auch von Bürgern aus allen Schichten. Hunderte, Tausende.

Diese kommenden Wahlen müssen in eine nationale Volksabstimmung verwandelt werden, eine klare Wahl zwischen zwei sehr verschiedenen israelischen Staaten:

Ein rassistisches Israel der Ungleichheit, das in einen endlosen Krieg verwickelt ist und das zunehmend von orthodoxen Rabbinern beherrscht wird.

Oder ein demokratisches Israel, das Frieden mit Palästina und der ganzen arabischen und muslimischen Welt und Gleichheit zwischen allen Bürgern sucht, unabhängig von Geschlecht, Nation, Sprache und Gemeinschaft.

Bei solch einem Wettbewerb - davon bin ich überzeugt - werden wir gewinnen.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 06.12.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2014