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STANDPUNKT/381: Die Wacht am Jordan (Uri Avnery)


Die Wacht am Jordan

von Uri Avnery, 5. Juli 2014



DIE ARABISCHE Welt ist in Aufruhr. Syrien und der Irak brechen auseinander. Der tausend Jahre alte Konflikt zwischen den muslimischen Sunniten und den muslimischen Schiiten erreicht einen neuen Höhepunkt. Ein historisches Drama entwickelt sich um uns herum.

Und wie reagiert unsere Regierung darauf?

Benjamin Netanjahu sagt es in knappen Worten. "Wir müssen Israel am Jordan verteidigen, bevor sie Tel Aviv erreichen."

Einfach, präzise und idiotisch.



ISRAEL VERTEIDIGEN gegen wen? Gegen ISIS natürlich.

ISIS ist der islamische Staat von Irak und Sham - eine neue Kraft in der arabischen Welt. Sham ist Groß-Syrien - der traditionelle arabische Name für das Gebiet, das die gegenwärtigen Länder Jordanien, Palästina und Israel umfasst. Zusammen mit dem Irak formt es das, was Historiker den "Fruchtbaren Halbmond" nennen, die grüne Region rund um das nördliche Ende der trostlosen arabischen Wüste.

Die längste Zeit in der Geschichte war der Fruchtbare Halbmond ein einziges Land und gehörte zu aufeinanderfolgenden Reichen. Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen, Römer, Byzantiner, Araber, Ottomanen und viele andere hielten es zusammen, bis zwei ausländische Herren, Sir Mark Sykes und M. Francois Georges-Picot, sich daran machten, es nach ihren eigenen imperialen Interessen zu teilen. Dies geschah während des 1. Weltkrieges, der nach einem Mord anfing, der letzte Woche vor 100 Jahren geschah.

Mit unglaublicher Missachtung der Völker, ethnischer Ursprünge und religiöser Identitäten schufen Sykes und Picot Nationalstaaten, wo keine Nationen existierten. Sie und ihre Nachfolger, insbesondere Gertrud Bell, T.E. Lawrence und Winston Churchill packten drei ganz verschiedene Gemeinschaften zusammen, schufen den "Irak" und importierten einen ausländischen König aus Mecca.

"Syrien" wurde Frankreich zugeteilt. Ein kaiserlicher Kommissar nahm eine Landkarte, einen Stift und zeichnete eine Grenze mitten durch die Wüste zwischen Damaskus und Bagdad. Die Franzosen schnitten Syrien damals in verschiedene kleine Staaten für die Sunniten, Alawiten, die Drusen, Maroniten etc. Später schufen sie noch Groß-Libanon und errichteten dort ein System, in dem sie maronitische Christen über die von ihnen verachteten Schiiten setzten.

Die Kurden, die wirkliche eine Nation waren, wurden in vier Teile aufgeteilt, von denen jeder einem anderen Land angeschlossen wurde. In Palästina wurde inmitten einer feindseligen arabischen Bevölkerung eine zionistische "nationale Heimstätte" geplant. Das Land jenseits des Jordan wurde abgetrennt, um ein Fürstentum für einen anderen Emir von Mekka zu errichten.

Das ist die Welt, in der wir aufwuchsen und die nun ins Wanken gerät.


WAS ISIS jetzt zu tun versucht, ist einfach, all diese Grenzen zu beseitigen. In dem Prozess legen sie die alte sunnitisch-schiitische Teilung bloß. Sie wollen ein vereinigtes sunnitisch-muslimisches Kalifat.

Sie stehen gegen riesige unbeugsame Interessen und werden wahrscheinlich versagen. Aber sie säen etwas, das viel länger anhält: eine Idee, die sich in vielen Millionen Köpfen festsetzen könnte. Es mag in 25, 50 oder hundert Jahren in Erfüllung gehen. Es könnte die Welle der Zukunft sein.

Was sollten wir tun, nachdem wir sehen, wie sich das Bild entwickelt?

Für mich ist die Antwort ganz klar: macht schnell Frieden, solange die arabische Welt noch so besteht, wie sie jetzt ist.

"Frieden" meint nicht nur Frieden mit dem palästinensischen Volk, sondern mit der ganzen arabischen Welt. Die Arabische Friedensinitiative - die sich auf die Initiative des damaligen Saudi-Arabischen Kronprinzen gründete - liegt noch immer auf dem Tisch. Sie bietet vollen und bedingungslosen Frieden mit dem Staat Israel im Gegenzug für das Ende der Besatzung und die Schaffung eines unabhängigen Staates Palästina. Hamas stimmte offiziell darin überein, vorausgesetzt es wird von einem palästinensischen Volksentscheid ratifiziert.

Es wird nicht einfach sein. Eine Menge Hindernisse müssen überwunden werden. Aber es ist möglich. Und es wäre reiner Wahnsinn, wenn man dies nicht versucht.

JETZT!



DIE ANTWORT unserer Führung ist genau das Gegenteil.

Die historischen Ereignisse und deren Hintergrund interessiert sie, "wie die Knoblauchschale", wie man im Hebräischen sagt - also überhaupt nicht.

Ihr ganzes Interesse ist auf die Bemühung konzentriert, die Westbank zu halten, was heißt, die Errichtung eines palästinensischen Staates zu verhindern, was heißt, Frieden zu verhindern.

Der sicherste Weg, dies zu tun, ist das Jordantal zu halten. Kein palästinensischer Unterhändler wird je mit dem Verlust des Jordantales einverstanden sein - weder durch direkte Annexion durch Israel noch durch eine "vorübergehende" Stationierung von israelischen Soldaten im Tal auf unbestimmte Zeit.

Dies würde nicht nur den Verlust von 25% der Westbank (die insgesamt 22% des historischen Palästina darstellt) und ihres fruchtbarsten Teils bedeuten, sondern auch das Abgeschnittensein des zukünftigen palästinensischen Staates vom Rest der Welt. Der Staat Palästina würde eine Enklave innerhalb Israels werden, von allen Seiten von israelischem Gebiet umgeben. So wie seinerzeit die südafrikanischen Bantustans.

Als Ehud Barak dies bei der Camp David-Konferenz vorschlug, brachen die Verhandlungen ab. Die meisten Palästinenser könnten mit der vorübergehenden Stationierung der UN oder amerikanischer Soldaten dort einverstanden sein.

In der vergangenen Woche tauchte plötzlich die Jordantal-Forderung wieder auf. Die Biild war einfach. ISIS stürmt von seiner syrisch-irakischen Basis nach Süden. Es will den ganzen Irak überrennen. Von dort will es in Jordanien einfallen und auf der andern Seite des Jordan erscheinen.

Netanjahu sagte: "Wenn sie dort nicht von der permanenten israelischen Garnison aufgehalten werden, werden sie an den Toren Tel Avivs erscheinen (nur dass Tel Aviv keine Tore hat).

Logisch? Selbstverständlich? Unvermeidlich? Glatter Unsinn!

Militärisch ist ISIS eine zu vernachlässigende Größe. Sie hat weder Luftwaffe, Panzer noch Artillerie. Der Iran und die USA sind gegen sie. Verglichen mit ihr ist sogar die irakische Armee noch eine starke Kraft. Und schließlich ist auch die jordanische Armee alles andere als schwach.

Falls außerdem ISIS auf die Idee käme, das jordanische Königreich zu bedrohen, würde die israelische Armee nicht am Jordanfluss warten. Sie würde von den Jordaniern zur Rettung gerufen werden - wie es während des Schwarzen Septembers 1970 geschah, als Golda Meir (auf Befehl Henry Kissingers) die sich nähernde syrische Armeekolonne warnte, Israel werde in Jordanien einmarschieren, um den Syrern zuvorzukommen. Das genügte.

Allein die Idee, israelische Soldaten würden den Schutzwall im Jordantal besetzen, um Israel vor ISIS (oder anderen) zu verteidigen, ist reine Idiotie. Sogar idiotischer als die berühmte Bar Lev-Linie, die dafür gedacht war, die Ägypter entlang des Suez-Kanals 1973 aufzuhalten. Sie fiel innerhalb von Stunden. Doch die Bar-Lev-"Linie" - die an die sinnlose französische Maginot-Linie und die sinnlose deutsche Siegfried-Linie des 2. Weltkrieges erinnerte - war weit vom Zentrum Israels entfernt.

Die israelische Armee hat Raketen, Drohnen und andere Waffen, die einen Feind auf der Stelle aufhalten würde, lange bevor er möglicherweise den Jordan erreichen könnte. Die Masse der israelischen Armee könnte sich innerhalb weniger Stunden von der Meeresküste zum Fluss bewegen und ihn überqueren.

Diese ganze Denkweise zeigt, dass unsere Politiker vom rechten Flügel - wie vermutlich der große Teil ihrer Gesinnungsgenossen in der Welt - noch im 19. Jahrhundert leben. Wenn ich weniger freundlich gestimmt wäre, würde ich sogar sagen: im Mittelalter. Sie könnten noch mit Pfeil und Bogen ausgerüstet sein.

(Das Ganze erinnert mich irgendwie an ein Militärlied des 19. Jahrhunderts: "Die Wacht am Rhein: Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein / Wer will des Stromes Hüter sein / lieb Vaterland magst ruhig sein / fest steht und treu die Wacht am Rhein. / Der deutsche Jüngling, fromm und stark, / beschützt die deutsche Landesmark".)



ZURÜCK ZUR Zukunft.

Die Kreuzfahrer errichteten ihr Königreich in Palästina, als die arabische Welt zerrissen war. Ihr großer Gegner, der Kurde Saladin (Salah al-Din al Ajubi) hatte der Einigung der arabischen Welt Jahrzehnte seines Lebens gewidmet, bevor er die Kreuzfahrer auf dem Schlachtfeld bei Hattin besiegte.

Heute scheint die arabische Welt noch zerrissener als jemals zuvor. Aber eine neue arabische Welt nimmt Gestalt an; seine Konturen können schon schwach erkannt werden.

Unser Platz ist mitten in der neuen Realität, nicht außerhalb zum Zuschauen.

Leider ist unsere Führung völlig unfähig, dies zu sehen. Sie lebt noch in der Welt von Sykes und Picot, einer Welt ausländischer Potentaten (jetzt die Amerikaner). Für sie ist das Chaos rund um uns - nun, nur ein Chaos. Der Gründer des modernen Zionismus schrieb vor 118 Jahren, wir sollten in Palästina als Pioniere der europäischen Kultur dienen und einen "Wall gegen die asiatische Barbarei sein."

Unsere Führer leben noch in dieser eingebildeten Realität, anders formuliert: "wie in einer Villa im Dschungel"

Was also tun, wenn die großen Raubtiere des Dschungels sich uns nähern und brüllen? Natürlich höhere Mauern bauen. Was sonst?



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 05.07.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2014