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STANDPUNKT/156: Ein Jahr der Revolutionen und Manipulationen - 2011 im Rückblick (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 6. Januar 2012

Menschenrechte:
Ein Jahr der Revolutionen und Manipulationen - 2011 im Rückblick

Ein Meinungsbeitrag von Kalinga Seneviratne *


Singapur, 6. Januar (IPS/IDN **) - Als das Jahr 2011 zu Ende ging, priesen die westlichen Medien die jungen Leute, die den sogenannten Arabischen Frühling eingeläutet haben, als diejenigen Kräfte, durch die "alle" Diktatoren auf der Welt aufgeschreckt wurden. Doch im Rückblick fällt auf, dass die gleichen Medienorganisationen lieber über Jugendrevolten in Libyen und Syrien berichteten als über die Vorgänge in Bahrain und Saudi-Arabien. Damit drängt sich die Frage auf, ob 2011 nicht das Jahr der manipulierten Revolutionen gewesen ist.

Als die Jugendrevolten Tunesien und Ägypten von langjährigen pro-westlichen Diktatoren befreiten, hatte es den Anschein, als ob sich die Jugend in der arabischen Welt gegen die Diktatoren erhob, die dem westlichen Kapitalismus und nicht dem eigenen Volk gedient hatten.

Doch als der Funke der Revolution dann nach Libyen übersprang und EU und USA sich unter dem Vorwand, die Zivilgesellschaft in Bengasi vor den Übergriffen Gaddafi-treuer Truppen zu schützen, der von der 'International Crisis Group' unter Leitung des australischen Ex-Außenministers Gareth Evans propagierten 'Schutzverantwortungsformel' ('Responsibility To Protect' - R2P) zunutze machten und ein Flugverbot für Libyen durchsetzten, wurde offensichtlich, dass die Aufstände des Arabischen Frühlings durch die westlichen Mächte manipuliert worden waren.


Schutzverantwortungsdoktrin missbraucht

China und Russland wurden ausgebuht, weil sie sich ihrer Stimme enthielten, als es darum ging, im UN-Sicherheitsrat über die Flugverbotsresolution abzustimmen, die schließlich den Weg für einen Regimewechsel, nicht aber für den Schutz der Zivilbevölkerung freimachte. Die Bombardierung Gaddafi-treuer Dörfer durch die NATO machte aus der R2P-Formel eine Farce. Viele Kritiker außerhalb der westlichen Welt haben moniert, dass die NATO-Anschläge und die Art und Weise, wie Gaddafi und sein Sohn getötet wurden, als Kriegsverbrechen zu betrachten sind.

Dazu meinte Tim Andersen von der Universität Sydney: "Möglicherweise durch die schnellen Ereignisse verführt sind viele, die sich in der westlich-imperialen Kultur als 'links' oder progressiv betrachten, in den Chor der Großmächte gegen 'Diktator' Gaddafi eingefallen. Damit trugen sie zur Legitimierung des Sturzes eines der unabhängigeren Regime im Nahen Osten und einer Ausweitung der Kontrolle über die Region durch die Großmächte bei."

Am 1. November 2011 erklärte der Chefankläger des UN-Strafgerichtshofs, Luis Moreno-Ocampo, dass man nicht nur die Kriegsverbrechen der Rebellen und Gaddafi-Truppen, sondern auch der NATO untersuchen werde. Doch in diesem Punkt halten sich westliche Medien und Menschenrechtsorganisationen zurück. Dabei sind sie in der Regel schnell dabei, Kriegsverbrechen der Regierungen in Entwicklungsländern anzuprangern wie im Fall Sri Lanka geschehen. Damals wurde die srilankische Führung Zielscheibe einer regelrechten Hexenjagd, nachdem sie mit ihrem Sieg über die Tamilen-Rebellen einen 30-jährigen Krieg beendet hatte.

Wo bleiben die "unabhängigen" investigativen Berichte, die anonymen Quellen und Videoaufnahmen (über die Kriegsverbrechen der NATO)?


Zweierlei Maß

Inzwischen scheint Syrien zum neuen Kriegsschauplatz geworden zu sein, glaubt man den westlichen Medien. Sie haben praktischerweise vergessen, dass es in Saudi-Arabien, Katar, Kuwait oder den arabischen Golfstaaten - allesamt pro-westliche Regime - keine Demokratie gibt. Als ich kürzlich einen britischen Journalisten in Singapur fragte, warum die westlichen Medien nicht über die Unzufriedenheit junger Menschen in den pro-westlichen Diktaturen in Nahost berichten, antwortete er, dass diese Diktatoren mit ihrem Volk gut umgehen würden. Aber hatte das Gaddafi nicht auch getan?

In dem Bemühen, Gaddafi mit Hilfe einer trivialen Berichterstattung zu dämonisieren, sind den westlichen Medien Fakten entgangen, die dokumentieren, dass Gaddafi gut für sein Volk gesorgt hat, auch wenn er Kritik an seiner Person nicht duldete, was in den meisten pro-westlichen arabischen Staaten nicht anders ist.

Zu Recht stellte die srilankische Sozialkommentatorin Shenali Waduge fest: "Die Welt muss wissen, dass Gaddafi Libyern Bildung gegeben hat. Bildung - von der Grundschule bis zur Universität und zum Postgraduiertenstudium im In- und Ausland - ist in Libyen gratis. Libyer genießen eine kostenlose Gesundheitsversorgung, und auf 673 Bürger kommt ein Arzt. Libyer haben Zugang zu zinsfreien Eigenheimkrediten. Bauern erhalten Farmland, ohne dafür zahlen zu müssen. 2010 stand Libyen auf dem Index für menschliche Entwicklung auf dem 53. Platz von 170 Staaten und zeichnete sich somit als Land mit einer hohen menschlichen Entwicklung aus. Libyen hat keine Auslandsschulden. Die Währungsreserven belaufen sich auf 150 Milliarden US-Dollar."

Die westlichen Medien brüsten sich gern damit, für Freiheit einzutreten und Menschenrechtsverletzungen aufzuzeigen. Doch dass einige führende westliche Nachrichtenorganisationen als Cheerleader der NATO- und US-Kampagnen gegen den Irak (seit dem Golfkrieg von 1991), Serbien, Afghanistan und Libyen auftreten, wirft die Frage auf, ob diese Organisationen nicht Teil der westlichen Kriegsmaschinerie gegen die Menschen auf der Welt geworden sind, die sich nicht den westlichen Mächten beugen wollen.

Dan Glazebrook schrieb gegen Ende des Gaddafi-Regimes in der Wochenzeitung 'Al-Ahram': "Derzeit bombardiert die NATO den Sitz der größten libyschen Volksgruppe. Darüber wird nur wenig bekannt, doch aus Rot-Kreuz-Berichten geht hervor, wie entsetzlich die humanitäre Krise in der unter Attacke stehenden Stadt ist - mit kollabierenden Krankenhäusern ohne Medikamente, Menschen, die zu Fuß in die Wüste fliehen und so fort. Das geschieht unter dem NATO-Mandat, Zivilisten zu schützen."

Glazebrook ist ein bekannter Blogger, der sich für einen sozialen Wandel einsetzt. Er schreibt für die britische Zeitung 'Morning Star' und ist einer der Koordinatoren der britischen Sektion der Internationalen Union der Parlamentarier für Palästina.


Neue Werte für die Medien

Auf der Versammlung der regionalen Rundfunkorganisation 'Asia-Pacific Broadcasting Union' in Neu-Delhi im November, erklärte der Vizepräsident von 'Radio China International', Xia Jixuan, dass zwar die Hardware vorhanden sei, um über jedes weltweite Ereignis zu berichten, diese aber nicht dazu beigetragen habe, Konflikte zu verhindern. Er machte die westlichen Medienorganisationen aufgrund ihrer Monopolstellung dafür verantwortlich, in dieser Angelegenheit den Kurs vorzugeben.

"Gute Nachrichten sind demnach keine Nachrichten, und Nachrichten drehen sich um das Ungewöhnliche", betonte er und forderte ein neues Set von Werten für die Berichterstattung über grenz- und kulturübergreifende Themen. Er unterstrich ferner, dass der heftige Handelswettbewerb oberflächliche Beiträge über andere Länder generiert, die Stereotypen bedienen und Vorurteile verfestigen.

Auf regionaler Ebene sollten die Medien Jixuan zufolge "zusammenarbeiten und über eine Win-Win-Situation im Sinne eines gemeinsamen Wohlstands und einer gegenseitigen Anerkennung berichten und lernen, Unterschiede zu schätzen und zu respektieren".

Durch die rasch expandierenden staatlichen Mediennetzwerke wie 'China Radio International' und 'Central China Television' (CCTV) und ihre englischsprachigen Programme könnten die Chinesen in der Lage sein, ein besseres internationales Kommunikationsmodell anzubieten, das Begriffe wie Demokratie und R2P nicht missbraucht, um die Hoffnungen der Menschen zu manipulieren. (Ende/IPS/kb/2012)


* Kalinga Seneviratne ist Leiter der Forschungsabteilung des 'Asian Media Information and Communication Centre' (AMIC) in Singapur. In seinem Meinungsbeitrag gibt er seine persönlichen Ansichten wider, die nicht dem AMIC oder anderen Institutionen zuzuordnen sind.

** Der von 'Global Cooperation Council' und 'Globalom Media' erstellte IDN-InDepthNews ist Partner von IPS-Deutschland unter dem Dach von GlobalNewsHub.Net


Links:
http://www.responsibilitytoprotect.org/
http://www.crisisgroup.org/
http://www.abu.org.my/
http://www.amic.org.sg/

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Januar 2012