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STANDPUNKT/087: Wachsam sein (ZLV)


Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek - 24. Mai 2011

Wachsam sein

Von Uli Brockmeyer


Nun beginnt genau das einzutreten, was die Herrschenden im westlichen Abendland befürchtet haben: Die Revolte ist von Nordafrika nach Europa übergeschwappt. Was als Hunger-Revolte in tunesischen Marktvierteln begann und als veritabler Volksaufstand auf dem Tahrir-Platz in Kairo und in anderen Städten Ägyptens seinen bisher machtvollsten Ausdruck fand, entwickelte sich in den vergangenen Tagen in ähnlicher Form in Spanien, Tschechien und auch im kaukasischen Georgien.

In Spanien gingen junge Menschen auf die Straßen, um gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit zu protestieren. Dem Aufstand der Jugend schlossen sich Spanier aller Altersgruppen an, die einfach nicht mehr bereit sind, mit den Verhältnissen in ihrem Land zufrieden zu sein. Sie besetzten Straßen und Plätze in 60 Städten des Landes, und die Puerta del Sol - der Platz mit dem Kilometerstein Null, an dem alle Straßen des Landes ihren Beginn haben - ist zum Zentrum des Protestes geworden. Dort haben tausende Menschen basisdemokratisch beschlossen, den Protest gegen die Politik der Regierung fortzusetzen.

Sie haben keine konkreten Forderungen gestellt, nicht erklärt, wofür sie auf dem Platz ausharren. Zunächst ging es darum, den beiden großen Parteien am Sonntag ein schlechtes Wahlergebnis zu bescheren. Das ist nur insofern gelungen, als die regierenden Sozis eine schallende Ohrfeige verpaßt bekamen, die erzkonservative »Volkspartei« jedoch einen leichten Stimmenzuwachs feiert. Die Demonstranten wollen »Gleichheit, Fortschritt, Solidarität, kulturelle Freiheit, Nachhaltigkeit und Entwicklung, sowie das Wohl und Glück der Menschen«. Ihrer Meinung nach sollte die Gesellschaft Grundrechte gewähren: »das Recht auf Wohnung, Arbeit, Kultur, Gesundheit, Bildung, politische Teilhabe, freie persönliche Entwicklung und das Recht auf Konsum von Gütern, die notwendig sind, um ein gesundes und glückliches Leben zu führen«. Das sind allgemeindemokratische Werte, die nach dem Selbstverständnis der westlichen Gesellschaftssysteme nicht nur existieren, sondern fleißig in alle Welt exportiert werden. Die Tatsache, daß die Menschen in Spanien diese Forderungen stellen, sollte zu denken geben.

Wohlgemerkt, die Protestierer in Spanien fordern nicht das Abschaffen der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, nicht die Enteignung der Banken, des Großkapitals und der Großindustrie. Sie wollen einfach nur Gerechtigkeit, ohne bisher erkannt zu haben, daß es unter kapitalistischen Besitzverhältnissen keine Gerechtigkeit geben kann. Das gilt auch für die Demonstranten in Prag, Berlin, Paris, Tbilissi, auch für die in London und in Wisconsin vor einigen Wochen. Dennoch haben die Herrschenden Angst vor diesen Manifestationen, denn sie wissen, daß der Weg zur Erkenntnis über den Kampf auf der Straße oft kürzer ist als der über das Studium der Bücher von Marx, Engels und Lenin.

Demonstranten in Prag trugen ein Transparent mit der Aufschrift »Menschen, seid wachsam«. Das ist ein Zitat aus der »Reportage unter dem Strang geschrieben«, die der tschechische Kommunist und Journalist Julius Fucik in der Haft schrieb und aus dem Gefängnis der deutschen Faschisten schmuggelte, bevor sie ihn im September 1943 ermordeten.

Wachsam sein im Sinne Julius Fuciks bedeutet auch, die Realitäten zu erkennen und richtige Schlußfolgerungen daraus zu ziehen.


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Quelle:
Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Mai 2011