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KRIEG/1791: Teilabzug - US-Truppen nach Osteuropa verlegt ... (SB)



"Nehmen wir die Frage, wer im geopolitischen Ringen dieser Tage als vermeintlicher Sieger vom Platz geht. Die meisten Wetten lauten auf China. Aber ist es so einfach?" Manche sähen die "EU bereits im Überlebenskampf", aber im Zuge seiner EU-Präsidentschaft werde Deutschland ab dem 1. Juli "besondere Verantwortung dafür tragen, diesem Narrativ klar entgegenzutreten und zwar in Worten und Taten".
Außenminister Heiko Maas [1]

Die Ankündigung der Trump-Administration, sie plane den Abzug eines Teils ihrer in Deutschland stationierten Truppen, ändert de facto nicht das geringste an der Präsenz der US-Streitkräfte auf dem potentiellen europäischen Kriegsschauplatz. Die Maßnahme folgt dem sattsam bekannten Muster Washingtons, größere Anstrengungen der Verbündeten einzufordern und zu erzwingen, was von den Protagonisten deutschen Vormachtstrebens unter Krokodilstränen beklagt, doch im selben Atemzug als nunmehr unabweisliche Notwendigkeit, eigenständig aufzurüsten, wie eine Steilvorlage aufgenommen wird. Wie der eingangs zitierte Außenminister Heiko Maas in seiner Rede anläßlich der Eröffnung der 18. deutschen Botschafterkonferenz Ende Mai verlangt hatte, müsse Deutschland die Auswirkungen der Corona-Pandemie nutzen, um seine außenpolitische Offensive zu forcieren. Die Maxime hiesiger Regierungsführung, aus allen Krisen als Sieger hervorzugehen, schließt neben der ökonomischen Führungsposition längst auch wachsende militärische Stärke ein, die Zug um Zug ausgebaut wird.

Die aus zwei angefangenen und verlorenen Weltkriegen resultierende deutsche Sonderstellung erfordert bei der Vorbereitung des dritten ein besonderes Fingerspitzengefühl im Umgang mit den wirtschaftlich niederkonkurrierten Nachbarn in der EU und nicht zuletzt der eigenen Bevölkerung. Inmitten aufbrechender Widersprüche Konsens zu schmieden und Akzeptanz herzustellen bleibt denn auch die höchste Kunst deutscher Herrschaftssicherung. So brüchig das heimische Wohlstandsversprechen auch sein mag, reicht die Relation zu all jenen, die wesentlich schlechter abschneiden, doch allemal aus, sich regenden Widerstand im Keim zu ersticken. Ob Sozialpartnerschaft, Hartz-IV-Regime oder Friedenskriege - das deutsche Modell, den nationalen und weltweiten Raub an natürlichen Sourcen und menschlicher Arbeitskraft zu administrieren und zugleich die Gegenkräfte zu binden, sucht seinesgleichen.

So ist auch der Aufstieg zur militärischen Führungsmacht längst vorgedacht und in Angriff genommen, doch müssen die damit verbundenen wachsenden Unwuchten austariert werden. Der Militärhaushalt wird massiv aufgestockt, kann aber nicht so schnell wie von Washington gefordert an die NATO-Marge herangeführt werden, ohne Opposition auf den Plan zu rufen. Was in die Kriegskasse fließt, wird zwangsläufig aus anderen Posten wie insbesondere den Sozialleistungen abgezogen. Es gilt daher, die Brechstange so elegant anzusetzen, daß die damit verbundenen Schmerzen für wachsende Teile der Bevölkerung dosiert und gleichsam verträglich aufgelastet werden.

Auch darf der Spagat, die USA, die NATO und die EU zu brauchen, um sich unter deren Schutz nach oben zu arbeiten, die Abhängigkeit tendenziell umzukehren und sich letztendlich von ihnen zu emanzipieren, nicht überdehnt werden. Hier kommen ungleiche Geschwindigkeiten ins Spiel, da Deutschland noch geraume Zeit benötigt, um seinen sukzessiven militärischen Aufbau in verträglichen Etappen zu vollziehen. Auch war eine organische Ablösung der US-Streitkräfte im Nahen und Mittleren Osten durch die Bundeswehr geplant, um die Einkesselung Rußlands und Chinas mit verteilten Schwergewichten voranzutreiben. Unter Donald Trump haben die USA jedoch die Endschlacht vorverlegt und wollen mit Sanktionen, Handelskrieg und militärischem Aufmarsch ihr Armageddon erzwingen, ehe ihnen die Chinesen endgültig über den Kopf gewachsen sind. Im Rahmen einer Logik, die keine Koexistenz, sondern nur absolute Dominanz oder Untergang der auserwählten Nation kennt, ist das durchaus schlüssig und rational.

Die heftige Kontroverse beiderseits des Atlantiks in Reaktion auf Trumps Vorhaben, Truppenteile aus Deutschland abzuziehen, entspringt keinem Dissens, was die angestrebte Unterwerfung und Ausplünderung Rußlands und Chinas betrifft. Die kriegstreibenden Geister scheiden sich allenfalls an der Frage, wie schnell und mit welcher Rollenverteilung der große Feldzug vorangetrieben werden soll. Für den US-Präsidenten ist sofortiges und publikumswirksames Armdrücken die einzig relevante Option, weshalb er auch die Verbündeten vor den Kopf stößt, um sie in den Dienst der USA zu zwingen. Hier wie dort fehlt es folglich nicht an warnenden Stimmen, die ihm vorwerfen, er schwäche die gemeinsame Front in Europa und öffne dem Feind die Tür.

Eingefleischte Atlantiker in Politik und Medien klagen, die US-Regierung vernachlässige die elementare Führungsaufgabe, Bündnispartner in Entscheidungsprozesse einzubinden. Vom Zusammenhalt des Bündnisses profitierten alle, doch vom Zwist nur Rußland und China. Die europäische Sicherheitspolitik müsse sich darauf einstellen, daß die Verläßlichkeit der USA als Partner und Ordnungsmacht in Europa nicht mehr in traditioneller Weise gegeben sei. Die Rede ist sogar vom "transatlantischen Geisterfahrer", der sich am Ende nicht wundern müsse, wenn es international plötzlich sehr einsam für ihn werde. Dies sei ein "Wahnsinn ohne Methode", wettert Joseph Joffe, Herausgeber der Zeit. Die USA schnitten sich mit einem Abzug ihrer Truppen nicht nur ins eigene Fleisch, die Klinge dringe zugleich in die deutsche Flanke. Deutschland sei aktuell nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Wer die strittige Scheidung wolle, müsse belastbare Alternativen und nicht schöne, aber ferne Träume anbieten.

Wenngleich mit unterschiedlicher Betonung, fehlt doch zwischen trotzig aufstampfend, höhnisch triumphierend und befreit aufatmend nirgendwo die zentrale Schlußfolgerung, die US-Pläne seien ein weiterer Weckruf, auch sicherheitspolitisch das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Deutschland "müsste Risiken schultern und Opfer akzeptieren, von den Aufrüstungsmilliarden ganz zu schweigen", wie Joffe es formuliert. Wenn Trump die US-Streitkräfte in Deutschland verringern wolle, solle er das ruhig tun, schreibt Kurt Kister, früher Chefredakteur der SZ. Trumps Wiederwahl hin oder her - die USA würden sich ohnehin mehr und mehr von Europa distanzieren, worauf die europäischen NATO-Staaten eine gemeinsame Antwort finden müßten, sei es durch eine Neuausrichtung der NATO oder eine europäische Sicherheitsallianz, die eher nicht aus dem Konsensapparat der EU erwachsen könnte. "Deutschland und Europa sollten längst selbst in der Lage sein, die eigene Sicherheit zu gewährleisten", kommentiert der Spiegel forsch. Mit 75 Jahren könne man allmählich anfangen, für sich selbst zu sorgen. Insofern könne man Trump fast dankbar sein, wenn er seine Überlegungen tatsächlich umsetzen sollte. [2]

Warum die US-Streitkräfte allenfalls symbolisch, doch keinesfalls geschlossen aus Deutschland abziehen werden, zeigt ein Blick auf Ausmaß und Tiefe ihrer Präsenz. Am 31. März waren hierzulande 34.674 US-Soldaten stationiert, darunter 20.774 aus der Armee und 12.980 aus der Luftwaffe, so der öffentlich zugängliche Pentagon-Bericht. Etwa 19.000 zusätzliche zivile Mitarbeiter unterstützen die uniformierten Streitkräfte. Wenn überhaupt, sollen angeblich 9500 Soldaten abgezogen werden, aber 25.000 weiterhin stationiert bleiben. Diese amerikanische Truppenpräsenz in der Mitte Europas, im wirtschaftlich stärksten, bevölkerungsreichsten Land, ist nicht nur von hoher Symbolkraft, Deutschland ist auch ein wichtiges Drehkreuz für Auslandseinsätze. Es beherbergt unter anderem mehrere Regionalkommandos, den Luftwaffenstützpunkt Ramstein und das größte Militärkrankenhaus außerhalb der Vereinigten Staaten. [3] Deutschland ist eine Bastion US-amerikanischer Kriegspolitik in Europa, im Nahen und Mittleren Osten wie auch in Afrika. Von hier aus wird der Nachschub organisiert und der Drohnenkrieg in Pakistan, Afghanistan und Somalia geführt, Ramstein überwacht den Luftraum vom Nordkap bis zur Antarktis. Die US-Armee ist derzeit so präsent wie lange nicht mehr in Europa: von Norwegen bis Spanien und Rumänien bis zur Ostsee. [4]

Da es sich um keine Scheidung handelt, sind die wechselseitigen Vorhalte, wer mehr vom anderen profitiere, fern einer Generalabrechnung lediglich ein taktischer Beziehungsstreit. Richard Grenell, der bis zum 1. Juni US-Botschafter in Berlin war und bald in Trumps Wahlkampfteam einsteigen wird, wiederholte die Kritik an den Militärausgaben der NATO-Verbündeten: "Die amerikanischen Steuerzahler haben keine Lust mehr, zu viel für die Verteidigung anderer Länder zu zahlen." Demgegenüber brachte eine Kleine Anfrage der Linkspartei ans Licht der Öffentlichkeit, daß die Bundesrepublik zwischen 2012 und 2019 eine Viertelmilliarde Euro für die US-Truppen im Land bezahlt hat.

Gerne bezahlen würde die polnische Regierung, um die möglicherweise abziehenden US-Soldaten dorthin zu holen. Ganz so einfach ginge das nicht, da die NATO-Grundakte von 1997 eine dauerhafte Truppenstationierung in ehemaligen Ostblockstaaten ausschließt. Diese Einschränkung wurde bislang mit dem Trick turnusmäßig wechselnder Kontingente umgangen. Hundert Kilometer östlich von Stettin sind derzeit Tausende Soldaten der US-amerikanischen und polnischen Armee im Einsatz, die gemeinsam auf dem Truppenübungsplatz Drawsko Pomorskie üben. "Defender-Europe 20 Plus" heißt das Großmanöver, an dem neben 4000 amerikanischen auch 2000 polnische Soldaten teilnehmen. Als "Ausdruck des Vertrauens" lobte Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak die Präsenz der amerikanischen Streitkräfte in seinem Land, die trotz Corona-Pandemie gekommen sind. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nutzte die Gelegenheit, um Warschaus Erwartungen deutlich zu machen. Er habe die "große Hoffnung", daß ein Teil der US-Truppen nach Polen verlegt werde. "Die tatsächliche Gefahr lauert jenseits der östlichen Grenze. Eine Verlegung der amerikanischen Truppen an die östliche Flanke würde deshalb die Sicherheit ganz Europas stärken." Er denke, so der Premier, auch die Deutschen würden das verstehen. [5] Man kann wohl davon ausgehen, daß er damit die wahrscheinlichste Variante des Truppenumzugs zutreffend prognostiziert hat.

Da Deutschland bald den Vorsitz im Rat der EU-Mitgliedstaaten übernimmt, hat die Bundesregierung eine Schlüsselrolle inne. Kriegstreiber beiderseits des Atlantiks hoffen, daß Merkel und Macron dafür sorgen, daß die EU-Länder künftig noch mehr in die Aufrüstung investieren. Im nächsten mehrjährigen EU-Budget, das bis 2027 gilt, sollen laut Kommission acht Milliarden Euro in den neuen Verteidigungsfonds fließen, zudem soll mit 1,5 Milliarden Euro die militärische Mobilität verbessert werden. Sollten diese Zahlen erreicht werden oder gar steigen, wäre dies nicht zuletzt ein Ertrag der hochgekochten Kontroverse mit Washington. So wird aus dem Sturm im Wasserglas mit aller Macht Schaum geschlagen, bis wie Aphrodite aus den Fluten die Vision eines deutsch-europäischen Kriegsgotts Ares daraus hervorsteigt.


Fußnoten:

[1] www.wsws.org/de/articles/2020/06/12/mili-j12.html

[2] www.heise.de/tp/features/Leises-Lob-des-Abzugs-4781222.html

[3] www.deutschlandfunk.de/moeglicher-us-truppenrueckzug-wo-stehen-deutschland-und.720.de.html

[4] www.sueddeutsche.de/politik/eu-krise-usa-corona-china-1.4933471

[5] www.spiegel.de/politik/ausland/polen-profitiert-warschau-von-donald-trumps-abzugsplan-a-f771bc3e-68e2-469b-bbcc-15a7a22d364f

12. Juni 2020


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