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KRIEG/1718: Paris - eine klare Sprache ... (SB)



Angesichts eines Russlands, das an unseren Grenzen steht und gezeigt hat, wie bedrohlich es sein kann, brauchen wir ein Europa, das sich besser und in souveräner Manier selbst verteidigen kann, ohne von den USA abhängig zu sein.
Emmanuel Macron im Interview mit dem Radiosender Europe 1 [1]

Der französische Präsident Emmanuel Macron hielt sich anläßlich der Gedenkfeierlichkeiten zum 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs gar nicht erst damit auf, scheinheilig die Friedenstaube zu geben und unter Krokodilstränen millionenfache Opfer zu beklagen. Zum Auftakt seiner einwöchigen Reise durch den Norden des Landes, wo er die Schauplätze der furchtbarsten Schlachten aufsucht, verkündete er im Pathos der Heldenverehrung, daß "einfache Soldaten, Offiziere, Freiwillige, Einberufene, Karrieremilitärs und Generale, aber auch Frauen im Dienste der Kämpfer, diese ganze Armee, die ein Volk war, dieses ganze Volk, das zu einer siegreichen Armee wurde, im Panthéon geehrt" würden.

Damit nicht genug, nahm der Präsident die Gelegenheit wahr, die Kriege von morgen ins Visier seines Feldherrnblicks zu nehmen. Er forderte abermals den Aufbau einer eigenständigen europäischen Armee, denn ohne eine "wahre europäische Armee" könnten sich die Europäer nicht verteidigen. Mit Blick auf "Russland, das an unseren Grenzen steht und das zur Bedrohung werden könnte", dürften sich die Europäer "nicht allein auf die USA verlassen". Macron begründete seine Forderung mit der Warnung vor "autoritären Mächten, die an den Grenzen Europas aufsteigen und die sich wieder bewaffnen". Europa müsse sich verteidigen "mit Blick auf China, auf Russland und sogar auf die USA", erweiterte er das Spektrum möglicher Aggressoren auf die Führungsmacht der NATO. Der von US-Präsident Donald Trump angekündigte Rückzug aus dem INF-Abrüstungsvertrag mit Rußland sei eine Gefahr für Europa, so der französische Staatschef: "Wer ist das Hauptopfer?", fragte Macron und gab selbst die Antwort: "Europa und seine Sicherheit." [2]

Am Freitag wird er in Nordfrankreich gemeinsam mit der britischen Premierministerin Theresa May an die Schlacht an der Somme von 1916 erinnern. Am Samstag will er dann in Compiègne nördlich von Paris mit Angela Merkel zusammentreffen, um des Waffenstillstandes vom 11. November 1918 zu gedenken. Höhepunkt der Gedenkveranstaltungen wird am Sonntag eine große Zeremonie am Pariser Triumphbogen mit Dutzenden Staats- und Regierungschefs aus aller Welt sein, zu der pikanterweise auch US-Präsident Donald Trump und der russische Staatschef Wladimir Putin erwartet werden, deren Länder Macron soeben als mögliche künftige Kriegsgegner klassifiziert hat.

Zweifellos versucht Frankreichs Präsident mit seinem aktuellen Vorstoß auch, von den wachsenden innenpolitischen Problemen abzulenken. Die umstrittenen Sozialreformen, Kürzungen der Familienleistungen, das Arbeitsrecht, die höhere Besteuerung von Diesel oder der ausbleibende wirtschaftliche Aufschwung lassen seinen Stern sinken, zuletzt war immer wieder von der Entzauberung Macrons zu lesen. Viele seiner großen Projekte verliefen im Sande, während er seine Landsleute mit sozialen Grausamkeiten überzieht. [3] Dessen ungeachtet griffe ein Abwinken viel zu kurz, das die "wahre europäische Armee" als bloßes Luftschloß eines Politstars in Absturznöten ohne substantiellen Gehalt mißdeutete.

Emmanuel Macron hatte bereits im vergangenen Jahr vorgeschlagen, bis 2020 eine gemeinsame europäische Interventionstruppe für Kriseneinsätze zu schaffen. Zudem regte er ein gemeinsames Verteidigungsbudget und eine gemeinsame Doktrin an. Damals gab sich Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen zurückhaltend und nahm Macron mit den Worten den Wind aus den Segeln, dessen Vorschläge seien "kein Projekt unmittelbar für morgen". Wie schnell das Übermorgen heranrücken kann, stellte nicht lange darauf die Kanzlerin unter Beweis, die sich im Juni offener für die Initiative des französischen Staatschefs zeigte: "Ich stehe Präsident Macrons Vorschlag einer Interventionsinitiative positiv gegenüber." Eine europäische Interventionstruppe müsse aber in die bestehende "Struktur der verteidigungspolitischen Zusammenarbeit" der EU eingefügt werden, sagte die Kanzlerin damals.

Daß Angela Merkel offensichtlich vor einem deutsch-französischen Alleingang bei der Aufrüstung Europas warnt, dürfte nicht zuletzt mit der wachsenden Bedeutung der Bundeswehr in der NATO zusammenhängen. Beim Großmanöver "Trident Juncture 2018" in Norwegen, wo vom 25. Oktober bis zum 23. November der Krieg gegen Rußland geübt wird, sind die deutschen Streitkräfte mit 10.000 Soldaten und umfangreichem Kriegsgerät der zweitgrößte Truppensteller. Das Bundesverteidigungsministerium läßt es die Steuerzahler 90 Millionen Euro kosten, bei dieser Übung eine Vorreiterrolle einzunehmen. Zum einen geht es um ein Signal an die US-Regierung, daß Deutschland bereit und fähig sei, mehr Verantwortung innerhalb des Militärbündnisses zu übernehmen. Vor allem aber übernimmt die Bundeswehr Anfang 2019 die Führung der schnellen Eingreiftruppe der NATO in Osteuropa. Die 2014 gegründete, auch als Speerspitze der NATO bezeichnete Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) mit bis zu 8.000 Soldaten trägt insbesondere den Befürchtungen unter den Mitgliedsländern Polen, Estland, Lettland und Litauen Rechnung, die im Falle eines Konflikts mit dem von den westlichen Mächten einkesselten Rußland zuallererst im Fokus militärischer Auseinandersetzungen stünden.

Ende Juli hatte die Bundesregierung eine neue "Konzeption der Bundeswehr" vorgelegt, der zufolge die Vorbereitung auf das gesamte Spektrum der Kriegsführung von kleineren Einsätzen bis hin zu umfassenden Operationen vorangetrieben werden soll. Wie es in dem Strategiepapier weiter heißt, müsse die Bundeswehr über "Kräfte und Mittel verfügen, die nach kurzer Vorbereitung an den Grenzen oder jenseits des Bündnisgebiets einsetzbar sind". Die Rede ist von einer "sehr großen, hoch intensiven Operation", die einen "massiven Ansatz von Kräften und Mitteln hoher Verfügbarkeit" erforderlich mache, womit zwangsläufig nur ein Krieg gegen Rußland gemeint sein kann.

Wie eng verwandt die längerfristigen militärischen Einschätzungen und Planungen in Paris und Berlin sind, unterstreicht ein Strategiepapier, in dem die Bundeswehr Szenarien für die gesellschaftliche Entwicklung in den kommenden Jahren entworfen hat. Wie aus der "Strategischen Vorausschau 2040" hervorgeht, die bereits Ende Februar von der Spitze des Verteidigungsministeriums verabschiedet wurde, hält die Bundeswehr ein Auseinanderbrechen der EU und eine Welt in zunehmendem Chaos in den nächsten Jahrzehnten für denkbar. In dem vertraulichen Dokument spielen die Streitkräfte zum ersten Mal in ihrer Geschichte durch, wie gesellschaftliche Trends und internationale Konflikte die deutsche Sicherheitspolitik in den nächsten Jahrzehnten beeinflussen könnten.

Die Studie geht in dem Szenario "Die EU im Zerfall und Deutschland im reaktiven Modus" von einer "multiplen Konfrontation" aus. Beschrieben wird eine Welt, in der die internationale Ordnung nach "Dekaden der Instabilität" erodiert, die Wertesysteme weltweit auseinanderdriften und die Globalisierung gestoppt ist: "Die EU-Erweiterung ist weitgehend aufgegeben, weitere Staaten haben die Gemeinschaft verlassen. Europa hat seine globale Wettbewerbsfähigkeit verloren." Und weiter: "Die zunehmend ungeordnete, zum Teil chaotische und konfliktträchtige Welt hat das sicherheitspolitische Umfeld Deutschlands und Europas dramatisch verändert." Die von Wissenschaftlern des Bundeswehrplanungamtes erstellten Simulationen stellen zwar ausdrücklich keine Prognosen dar, werden aber dennoch "mit dem Zeithorizont 2040" für "plausibel" erachtet. [4]

Die Bundesregierung ist einer eigenständigen Militärstrategie der europäischen Mächte keineswegs abgeneigt, will diese aber vorerst im Gleichschritt mit den Bündnisverpflichtungen im Rahmen der NATO entwickeln und ausbauen. Zum einen sind den finanziellen und militärischen Mitteln Deutschlands ungeachtet der massiven Aufstockung des Rüstungshaushalts Grenzen gesetzt. Zum anderen sind die USA unter Trump zwar ein höchst unsicherer Kantonist, doch vorerst als größte Militärmacht der Welt unverzichtbar im Kontext expansionistischer Ambitionen der Bundesrepublik. Daß der Aufstieg zu einer Hegemonialmacht ungeachtet aller Verwerfungen im europäischen Umfeld und in den globalen Bündnisstrukturen keineswegs ad acta gelegt wird, belegen die strategischen Sondierungen zu einem möglichen Szenario, in dem Deutschland auf sich allein gestellt seine Interessen durchzusetzen versucht.


Fußnoten:

[1] www.jungewelt.de/artikel/343057.frankreichs-präsident-will-eu-armee-macrons-kalter-krieg.html

[2] www.sueddeutsche.de/politik/militaer-europa-verteidigung-1.4198669

[3] www.heise.de/tp/features/Macron-will-eine-wahre-europaeische-Armee-4212963.html

[4] www.t-online.de/nachrichten/deutschland/militaer-verteidigung/id_82636304/geheime-studie-bundeswehr-spielt-zerfall-der-europaeischen-union-durch.html

7. November 2018


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