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KRIEG/1603: Wem nützen die Bombenanschläge in Reyhanli? (SB)




Die naheliegendste Maxime, bei Anschlägen unbekannter oder umstrittener Täterschaft zuallererst die Frage zu stellen, wem dieser Zwischenfall nützt, scheint dem deutschen Journalismus größtenteils abhanden gekommen zu sein. Anders ist kaum zu erklären, daß nach den Bombenexplosionen in der türkischen Grenzstadt Reyhanli, bei denen am Samstag mindestens 46 Menschen getötet und etwa 140 verletzt wurden, fast unisono eine maßgebliche Beteiligung des syrischen Geheimdienstes kolportiert wird. Welches Interesse ausgerechnet die Regierung in Damaskus haben sollte, das NATO-Mitglied Türkei in den Krieg hineinzuziehen und damit die eigene Lage erheblich zu schwächen, entzieht sich jeder nachvollziehbaren Erklärung. Dies auszublenden und die Bezichtigung Präsident Baschar Al-Assads ohne Rücksicht auf Plausibilität und Beweislage zu forcieren, zeugt von der ausschließlichen Absicht, den Regimewechsel mit militärischen Mitteln propagandistisch zu befeuern - von einem Journalismus, der sich investigativem Spürsinn, fundierter Recherche und unabhängiger Berichterstattung verpflichtet fühlt, kann dabei keine Rede sein.

Seitens der syrischen Regierung wurde jede Beteiligung an den Anschlägen entschieden zurückgewiesen. So erklärte Informationsminister Omran Al-Zohbi, Syrien habe solche Akte nicht begangen und würde sie niemals begehen. Die türkische Regierung habe das Grenzgebiet in ein Zentrum des internationalen Terrorismus verwandelt, beklagte er eine Destabilisierung der Grenzregion. [1] Der Abgeordnete Sherif Schehata sagte dem arabischen Nachrichtensender Al-Dschasira, die Grenzen zwischen Syrien und der Türkei seien immer noch offen für Terroristen, die von Erdogans Seite kämen und nicht etwa von der "Schabiha"-Miliz oder den Regierungstruppen. Wolle die türkische Regierung den Terror tatsächlich beenden, müsse sie den Strom von Waffen und arabischen Extremisten über die Türkei nach Syrien unterbinden. [2] Die nahe der Grenze gelegene rund 60.000 Einwohner zählende Stadt Reyhanli ist bekanntermaßen ein Waffenumschlagplatz für die Söldner der von Ankara unterstützten "Freien Syrischen Armee".

Obgleich sich niemand zu den Anschlägen bekannt hat, bezeichnete Vizeministerpräsident Bülent Arinc umgehend Baschar Al-Assad und den syrischen Geheimdienst Mukhabarat als "die üblichen Verdächtigen". Entgegen der Behauptung Arincs, die Autobomben hätten den über 20.000 in und um Reyhanli lebenden syrischen Kriegsflüchtlingen gegolten, handelt es sich bei den Toten nach Behördenangaben fast ausschließlich um türkische Staatsbürger. In der Region leben viele arabische Alawiten, die mit Assad sympathisieren. Das Kriminalgericht von Reyhanli gab einem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft statt und verhängte eine umfassende Nachrichtensperre zu den Ereignissen. In der Begründung beruft man sich auf den Strafgesetz-Paragraphen 153. Demnach gilt sämtliches Film-, Ton- und Bildmaterial als Beweismaterial und muß zuerst von den Ermittlern gesichtet werden. Da es angeblich "Staatsgeheimnisse" zu schützen gilt, wurde de facto die Berichterstattung der türkischen Medien massiv eingeschränkt.

Bei neun festgenommenen Beschuldigten handelt es sich nach Version der türkischen Regierung um Mitglieder der "Revolutionären Volksbefreiungspartei/-front" (DHKP-C) sowie einer Splittergruppe der "Türkischen Volksbefreiungspartei-Front" (THKP-C). Man wirft ihnen vor, die Tat in Abstimmung mit dem syrischen Geheimdienst verübt zu haben. Auch der Sprengstoff soll aus Syrien gekommen sein. Alle Festgenommen seien türkische Staatsbürger und hätten die Tat "teilweise" gestanden, so Vizeregierungschef Besir Atalay. Innenminister Muammer Güler erklärte, unter den Festgenommenen befinde sich auch ein Kopf der Gruppe. Nach weiteren Verdächtigen werde gesucht.

Auch was diese angebliche Aufklärung der unmittelbaren Täterschaft betrifft, ist Skepsis geboten. Weder gibt es bislang Beweise außer den offiziellen Angaben der türkischen Regierung, noch erschließt sich ein plausibles Interesse der bezichtigten Organisationen, einen Anschlag in einem vorwiegend von Alawiten bewohnten Gebiet zu verüben. Hingegen drängt sich der Verdacht auf, daß Ankara wie schon beim Granatenbeschuß und dem Flugzeugabschuß einen Vorwand für eine militärische Intervention der NATO zu fabrizieren versucht.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan macht sich gegenwärtig bei den NATO-Verbündeten für die Ausrufung einer Flugverbotszone über Syrien stark. In einem Interview auf NBC News wiederholte er die unbewiesene Behauptung, die Assad-Regierung habe Chemiewaffen eingesetzt, obgleich diese bereits von UN-Ermittlerin Carla del Ponte widerlegt worden war. Berichte, laut denen die Chemiewaffen in Syrien von der Opposition eingesetzt wurden, lehnte Erdogan rundheraus ab. Es sei klar, daß das Regime Chemiewaffen und Raketen eingesetzt habe, womit "eine rote Linie" überschritten sei: "Wir wollen, dass die Vereinigten Staaten mehr Verantwortung übernehmen und weitere Schritte ergreifen. Wir werden darüber reden, was für Schritte das sein werden." Seine Regierung werde die Einrichtung einer Flugverbotszone in Syrien unterstützen, wozu die Anlagen der syrischen Luftverteidigung zerstört und alle startenden syrischen Flugzeuge abgeschossen werden müßten. [3]

Dieser Forderung, die großen Anklang in den US-amerikanischen Medien fand, waren Berichte vorausgegangen, wonach die islamistischen Kräfte, die von den USA unterstützt werden, schwere Rückschläge erlitten hätten. Als Gründe für diese Entwicklung wurden die geringe Größe dieser oppositionellen Kräfte, ihr fehlender Rückhalt in der Bevölkerung und die zunehmende Unterstützung für das Assad-Regime aus Rußland, dem Iran und dem Libanon genannt. So haben Regierungstruppen die strategisch wichtige Stadt Khirbet Ghazaleh zurückerobert und die Transportrouten nach Deraa wieder in Betrieb genommen, wo der erste Widerstand vor zwei Jahren begann. Wie der Chef des Nahostbüros der BBC, Paul Danahar, schreibt, sei die "Freie Syrische Armee" (FSA) "keine zusammenhängende Kraft" und habe "keine Befehlsstruktur." Zudem haben Regierungstruppen kürzlich die Stadt Otaiba eingenommen, und Kräfte der Hisbollah den oppositionellen Milizen rund um Qusayr eine Niederlage bereitet.

Dies deutet darauf hin, daß der von den westlichen Mächten favorisierte Stellvertreterkrieg in Syrien ins Stocken geraten ist. Diplomatische Bestrebungen, eine prowestliche Nachfolgeregierung an die Macht zu bringen, kommen im Versuch von US-Außenminister John Kerry zum Ausdruck, eine Einigung mit Rußland herbeizuführen, die den Weg für ein Abkommen zur Teilung der Macht freimachen würde. Die jüngsten israelischen Luftangriffe auf militärische Einrichtungen nahe Damaskus und die Initiative der türkischen Regierung lassen jedoch erkennen, daß die Bereitschaft zur direkten Intervention erheblich gewachsen ist.

Zu Zehntausenden Toten, die dieser Krieg bereits gefordert hat, kommen Flüchtlinge, deren Zahl allein in den letzten Monaten von zwei Millionen auf 4,25 Millionen gestiegen ist. Von der Behörde für die Koordination Humanitärer Angelegenheiten der UN werden insgesamt 6,8 Millionen Syrer, darunter 3,1 Millionen Kinder, als "schwer hilfsbedürftig" eingeschätzt. Es steht zu befürchten, daß diese Leiden der syrischen Bevölkerung trotz ihres katastrophalen Ausmaßes nur der Anfang der Geißel sind, die die hegemonialen Interessen der westlichen Mächte über dieses Land bringen werden.

Fußnoten:

[1] http://www.jungewelt.de/2013/05-13/056.php

[2] http://www.handelsblatt.com/politik/international/doppelanschlag-in-reyhanli-linksextremisten-provozieren-die-tuerkei/8196620.html

[3] http://www.wsws.org/de/articles/2013/05/11/syri-m11.html

13. Mai 2013