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KRIEG/1580: "Woher kommt die Wut?" - Unschuldig tun und Öl ins Feuer gießen (SB)




"Woher kommt die Wut?" - so oder ähnlich wird dieser Tage in deutschen Medien angesichts der unter Muslimen in aller Welt ausgebrochenen Empörung über den Schmähfilm, in dem ihr Glaube lächerlich gemacht wird, der Eindruck erweckt, an dieser Entwicklung ganz und gar unbeteiligt zu sein. Die Frage beantwortet sich selbst, dokumentiert sie doch unbeirrbare Ignoranz gegenüber der zeitgeschichtlichen wie aktuellen Drangsalierung mehrheitlich muslimischer Gesellschaften. Wer in einer materiell sorgenfreien, nicht unter Mangel, Demütigung und Unterdrückung gesellschaftlichen Stellung lebt, kann es sich leisten, mit derartigen Provokationen anders umzugehen als Menschen, die zeitlebens nichts anderes erlebt haben als Not und Gewalt.

Dies ist für einen weit größeren Anteil der Bevölkerungen in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens der Fall als in den westlichen Metropolengesellschaften, wo die Phase friedlicher Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg nicht etwa nur aus eigener Anstrengung erarbeitet wurde. Sie ist auch der planmäßigen, mit massiver Unterdrückung sozialistischer Bewegungen einhergehenden Ausbeutung der Produktivkraft der Länder des Südens, ihrer Unterwerfung durch kolonialistische Gewalt und Stellvertreterkriege wie ihrer fortdauernden Abhängigkeit im Rahmen der kapitalistischen Globalisierung geschuldet. Das ist den Betroffenen in der Regel sehr viel mehr bewußt als denjenigen, die sich an ihren Entbehrungen und Nöten nähren.

Die Abwertung des Islam als Glaubenssystem angeblich rückständiger Gesellschaften ist integraler Bestandteil der imperialistischen Strategien, unter denen die Bevölkerungen des Nahen und Mittleren Osten leiden. Hierzulande scheint das Interesse an historischen und zeitgeschichtlichen Entwicklungen so gering zu sein, daß die willkürliche Aufteilung dieser Weltregion durch die europäischen Kolonialmächte nach dem Ersten Weltkrieg und deren bis heute anhaltenden zerstörerischen Auswirkungen weitgehend unbekannt sind. Auch erinnert man sich bestenfalls vage daran, was im Libanon 1982 geschah, wie die zivile Infrastruktur des Irak 1991 von einer Allianz westlicher Staaten in die Steinzeit zurückbombardiert wurde, um das Land zwölf Jahre lang dem menschenfeindlichsten Embargo auszusetzen, das jemals im Namen der Vereinten Nationen über eines seiner Mitglieder verhängt wurde.

Ein blinder Fleck im Auge der Kommentatoren, die sich erstaunt über die Vehemenz muslimischer Proteste geben, ist auch die aggressive Politik des Staates Israel. Den Bevölkerungen der Region fällt es schwer zu verstehen, warum ein Land, das zahlreiche UN-Resolutionen mit großer Selbstverständlichkeit ignoriert, das die ihm ausgelieferte Bevölkerung der Palästinenser massiv unterdrückt, das in seinen Kriegen insbesondere gegen das Nachbarland Libanon die Zivilbevölkerung gezielt angegriffen hat, das über Atomwaffen verfügt, ohne den Nichtverbreitungsvertrag zu unterzeichnen oder der Bildung einer atomwaffenfreien Region zuzustimmen, von westlichen Regierungen nicht nur zum leuchtenden Vorbild für zivile Entwicklung und freiheitliche Demokratie erklärt, sondern auf globaladministrativer Ebene in jeder Beziehung gegen die Interessen seiner Nachbarn unterstützt wird.

Man zieht keine Verbindung zwischen dem Zorn vieler Muslime und der Tatsache, daß viele Kriege der jüngeren Zeit in Staaten mit mehrheitlich muslimischen Gesellschaften geführt wurden und werden. Man hat keine wirklichen Einwände dagegen, daß Afghanistan zum Spielball imperialistischer Interessen wurde und seit 2001 von NATO-Staaten besetzt wird, daß der Iran mit der möglichen Folge eines regionalen Flächenbrands zum Feindbild erklärt wird, daß EU und USA in Libyen und Syrien das Gegenteil dessen machen, was ihre Politiker auf den Lippen führen, wenn sie den mit ihrer Hilfe zunichte gemachten arabischen Frühling bejubeln.

Bei dieser Wut, die wie alle ohnmächtigen Affekte auch selbstdestruktive Wirkungen hervorbringt, geht es auch um die rassistische Suprematie, mit der Islamhasser hierzulande Stimmung machen, wenn sie Menschen muslimischen Glaubens bezichtigen, unproduktiv zu sein und sich nicht in die Mehrheitsgesellschaft integrieren zu wollen. Der kulturalistische Wahn, mit dem die vermeintlich eigene Lebensweise in den Stand höchster zivilisatorischer Errungenschaft erhoben wird, erweist sich spätestens dann als solcher, wenn seine imperialistische Stoßrichtung in kriegerischer Aggression hervortritt. Nicht die Verteidigung einer monotheistischen Religion ist gefragt, um dem Aufschaukeln zerstörerischer Gegenseitigkeit entgegenzutreten, sondern Verständnis für die Motive, die Menschen dazu bringen, sich im Nahmen ihres Glaubens gegen die weiße Suprematie aufzulehnen.

Dieses würde auch Bewußtsein für die eigene Situation unter dem Zwang kapitalistischer Vergesellschaftung und politischer Repression schaffen. Was den Bevölkerungen mehrheitlich muslimischer Gesellschaften im Namen von Aufklärung und Fortschritt, von Freiheit und Demokratie angetan wird, unterscheidet sich im Kern der sozialen Antagonismen und Klassenkämpfe nicht von der Unterdrückung, der die Mehrheit europäischer Bevölkerungen ausgesetzt ist. Eben deshalb werden die Menschen gegeneinander ausgespielt durch diejenigen Kräfte, die sich schon immer politischer, weltanschaulicher und religiöser Indoktrination bedient haben, um sie in Unmündigkeit zu halten.

22. September 2012