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KRIEG/1467: NATO nach Lissabon - Die Kriege von heute für die Kriege von morgen (SB)



Auf ihrem Gipfel in Lissabon hat die NATO einen innovativen strategische Entwurf auf den Weg gebracht, der ihren Anspruch auf globale Dominanz unterstreicht, die Palette möglicher Kriegsvorwände entufert und andere Bündnisse, internationale Institutionen und zivilgesellschaftliche Organisationen als Hilfstruppen rekrutiert. Überlegene Waffengewalt als Grundlage und Voraussetzung ökonomischer Stärke und politischer Durchsetzungsfähigkeit tritt unverhüllter denn je mit letztgültiger Wucht hervor, um die perspektivische Überlebenssicherung der über sie verfügenden Eliten zu Lasten einer bellizistisch unterjochten Mehrheit der Menschheit zu bewerkstelligen. Unverminderten und unablässigen Krieg kündigt das nordatlantische Militärbündnis all jenen an, die sich ihm in den Weg zu stellen wagen oder schlichtweg über Ressourcen verfügen, welche die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten für sich reklamieren.

Wer über die Macht gebietet, die größtmögliche Produktion von Not und Zerstörung zu gewährleisten, nimmt in dem raubgestützten System forcierter Verstoffwechselung die Führungsposition ein. Die Verlockung der Teilhaberschaft am Beutezug zieht eine wachsende Schar von Vasallen magisch an, die für einen Platz an der Tafel des großen Räubers alles über Bord werfen, was ihnen an Unabhängigkeit, Würde und Humanität vordem heilig war. Zankend und balgend, unterwürfig und speichelleckend kämpft die Meute um den Platz an den Fleischtöpfen, stets bereit zur blutrünstigen Kumpanei, wenn es gilt, sich auf Opfer zu stürzen oder Rivalen zu verdrängen. Haltbar ist dieses Bündnis, solange es ihm gelingt, als Erfolg in Aussicht zu stellen, andern die saftigen Brocken dessen wegzufressen, was nicht für alle reicht.

Die Europäische Union wird von der NATO als militärisches Bündnis adressiert, Rußland als Partner zweiter Klasse umworben, die UNO zum Zuträger degradiert, die Afrikanische Union als Handlanger akzeptiert, das breite Spektrum der Hilfsorganisationen im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit vereinnahmt. Wie im Albright-Entwurf vorgedacht, schwingt sich die NATO zum globalen Feldherrn auf, der alles und jeden seinem Troß einverleibt. Wo man nicht eigenhändig die Keule schwingen kann, müssen Satrapen das Schlachten übernehmen. Wer zum Kämpfen partout nicht taugt, soll nach Maßgabe seiner sonstigen Mittel einen angemessenen Beitrag leisten.

Wie es dazu in Punkt 21 des Strategiepapiers heißt, machten die Lektionen, welche die NATO aus ihren Operationen insbesondere in Afghanistan und auf dem westlichen Balkan gelernt habe, deutlich, daß eine "umfassende politische, zivile und militärische Herangehensweise für ein effektives Krisenmanagement notwendig" sei. Daher werde die Allianz künftig "aktiv mit anderen internationalen Organisationen" zusammenarbeiten und insbesondere mit der EU eine strategische Partnerschaft anstreben. Wer in diesem Kontext das Sagen hat, macht Punkt 23 deutlich, in dem die NATO ihre Kompetenz anpreist, sollte die Konfliktprävention versagt haben. Dann nämlich sei "die NATO dazu bereit und fähig", laufende Kampfhandlungen "mit robusten militärischen Kräften" zu regulieren: "Die NATO-geführten Operationen haben den unentbehrlichen Beitrag der Allianz zu den internationalen Bemühungen des Konfliktmanagements bewiesen."

In einer "unvorhersehbaren Welt", wie es im Text des strategischen Konzepts heißt, das in Lissabon verabschiedet wurde, sind die Gefahren Legion. Angefangen von der Verbreitung von Atomwaffen und ballistischen Raketen oder anderen Massenvernichtungswaffen über Extremismus, Terrorismus und transnationale illegale Aktivitäten wie der Schmuggel von Waffen, Drogen und Menschen bis hin zu Angriffen auf Transportwesen, Kommunikationseinrichtungen oder Handelswege, nicht zu vergessen die Versorgungssicherheit mit Energie und Lebensmitteln, verortet die NATO allenthalben feindliche Aggression. Damit nicht genug, werden Umweltschutz, Klimawandel, Gesundheitswesen und längst auch der Cyberspace zu Feldern erklärt, die einer militärischen Kontrolle und Sicherung harren. Auf diese Weise dringt die NATO in nahezu alle relevanten gesellschaftlichen Sphären vor, indem sie Bedrohungslagen postuliert und das Arsenal ihrer Kriegsvorwände unablässig erweitert.

Wer dies als Verlegenheitslösung interpretiert, derer sich das schlagkräftigste Militärbündnis der Welt aufgrund eines abhanden gekommenen Feindbildes befleißige, verkennt naiv oder böswillig die unablässig eskalierende Zugriffsgewalt und die ungebrochene Kette der Kriege im Dienst der Herrschaftssicherung, die allen voran die Vereinigten Staaten und die europäischen Führungsmächte im weltweiten Maßstab vorantreiben. Nachdem der fiktive Verteidigungsfall bereits im Kontext des "Antiterrorkriegs" ideologisch verankert worden ist, vollzieht das neue Konzept der NATO endgültig und offensiv den Schritt, jedwede Einschränkung der eigenen Interessenlage zu einem Angriff zu erklären, der eine militärische Reaktion des Bündnisses rechtfertigt. Wo immer auf der Welt etwas geschieht, das den Wohlstand der westlichen Welt tangieren könnte, ruft die NATO den Verteidigungsfall aus.

Es liegt auf der Hand, daß es dazu nicht zwangsläufig konkreter Einschränkungen oder feindlicher Aktivitäten bedarf. Um eine Region zu besetzen, ein Seegebiet zu okkupieren oder gar ein Land anzugreifen, genügt in zunehmendem Maße der Verweis auf die Sicherung der dort vorhandenen Ressourcen oder Handelswege, die präventiv oder unter Inszenierung benötigter Zwischenfälle für bedroht erklärt werden. Zugleich infiltriert der militärische Ansatz in zunehmendem Maße administrative, wissenschaftliche und technologische Sektoren der Gesellschaft, wobei militärische, polizeiliche und geheimdienstliche Aufgaben und Institutionen tendentiell verschmelzen.

Längst steht die NATO an den Grenzen Rußlands, dessen Einkreisung wenn nicht vollendet, so doch in weitreichendem Maße fortgeschritten ist. Inzwischen forciert Washington die Einschnürung Chinas, um den anderen mutmaßlichen Gegner in der letzten Schlacht ins Hintertreffen zu bringen. Die Avancen des westlichen Bündnisses an Moskau und die Bereitwilligkeit Präsident Medwedews, auf diese nebulöse Option zu setzen, laufen auf eine strategische Einbindung Rußlands und insbesondere die Verhinderung einer Achsenbildung zwischen Moskau und Beijing hinaus.

Wie die NATO in Lissabon fast unverhohlen angekündigt hat, will sie Afghanistan nicht verlassen. Der Juli 2011, den US-Präsident Obama als Beginn des Truppenabzugs vorgegaukelt hatte, ist kein Thema mehr. Man spricht inzwischen von 2014 und formuliert zugleich eine ganze Palette von Gründen, die über diesen Zeitpunkt hinaus auf eine dauerhafte Präsenz hinauslaufen. Wer allen Ernstes geglaubt hat, die westlichen Mächte zeigten am Hindukusch Flagge, um für Demokratie, Freiheit und Wohlstand zu streiten, mag sich mit dem neuerlichen Trugschluß anfreunden, die Karre stecke dort im Dreck und schiere Halsstarrigkeit hindere die Militärs, das Scheitern einzugestehen und sich zum Abzug zu entschließen. Was immer an militärisch unvorhergesehenen Entwicklungen eingetreten sein mag, die zu massiven Rückschlägen für die Besatzungsmächte führten, ändert nichts an der zugrunde liegenden Absicht, sich dauerhaft in dieser geostrategisch so bedeutsamen Region zwischen Rußland und China festzusetzen. Die Kriege von heute werden in Vorbereitung der Kriege von morgen geführt, lautet das Credo der NATO, was immer sie der mediengenerierten Weltöffentlichkeit in Lissabon an Friedenspropaganda in die Ohren geblasen haben mag.

22. November 2010