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KRIEG/1449: Von der Freiheit, die den Irakern im Übermaß zuteil wird ... (SB)



Der Abzug der im Irak stationierten US-Kampftruppen markiert keineswegs das Ende dieses Krieges. Abgesehen von den anhaltenden inneren Kämpfen und der auch in Zukunft andauernden Besetzung durch angebliche US-Berater krankt das Land an einer Zerstörung seiner politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen, die jedes positive Resümee dieses Krieges als Ausdruck blanken Zynismusses erscheinen lassen. Die Strategie des systematischen Anheizens innerer Widersprüche hat Millionen Iraker ins In- wie Ausland flüchten lassen, ohne daß die dadurch aufgebrochenen Konflikte an Brisanz verloren hätten. Ganze Generationen junger Iraker haben durch die Embargopolitik der USA und ihrer Verbündeten sowie durch den anschließenden Bürgerkrieg die Chance auf ein Leben in Wohlstand und Frieden eingebüßt. Dabei hatten sie das Glück, nicht zu den Hunderttausenden Todesopfern der wirtschaftlichen Aushungerung und kriegerischen Neuordnung zu gehören. Frauen leiden besonders unter der Aufhebung säkularer Rechte und dem Zerfall der zivilen Ordnung, sie sind den Nachstellungen des religiösen Fundamentalismus ebenso ausgesetzt wie patriarchalischer Gewalt. Die einst ertragreiche Landwirtschaft des Landes liegt am Boden, und einheimische Industriebetriebe wurden durch Importoffensiven oder ausländische Auftragnehmer verdrängt.

Ein besonders perfides Verbrechen wurde an den Bewohnern der Städte Fallujah, Najaf und Basra begangen. Sie werden noch auf lange Zeit Opfer des Einsatzes von DU-Munition sein. Das abgereicherte Uran wurde unter anderem mit Streubomben von US-amerikanischen und britischen Truppen gegen sie eingesetzt. Insbesondere in Fallujah, dessen Eroberung durch US-Truppen mindestens 6000 Menschen das Leben kostete und die fast vollständige Zerstörung der Stadt zur Folge hatte, ohne daß dies hierzulande in größerem Maße zur Kenntnis genommen wurde, leiden die Menschen unter den giftigen Hinterlassenschaften der Angreifer. Es hat dort eine so starke Zunahme grotesker Mißbildungen bei Neugeborenen gegeben, daß die Frauen Angst davor haben, überhaupt Kinder in die Welt zu setzen. Kürzlich hat das International Journal of Environmental Research and Public Health eine Anfang des Jahres in Fallujah durchgeführte epidemiologische Studie vorgestellt. Die Mediziner gelangten zu dem Schluß, daß die irakische Stadt in den Jahren 2005 bis 2009 höhere Raten an Krebserkrankungen und Leukämie aufweist als Hiroshima und Nagasaki nach der atomaren Bombardierung im Jahr 1945.

So genau will man das hierzulande ebensowenig wissen wie vor sechs Jahren, als Fallujah Angriffsoperationen der US-Truppen über sich ergehen lassen mußte, die in punkto Menschenverachtung demonstrierten, was Freedom & Democracy bedeuten, wenn man sich nicht unterwirft. In der Tageszeitung Die Welt (20.08.2010) wird der Abzug der US-Kampftruppen mit dem Verweis auf die "Eigenverantwortung" der Iraker kommentiert, an denen es nun ganz allein liege, "ob dieses Experiment arabischer Demokratiebildung gelingt". Es gehöre "ja zum beliebten Sport in der Region, immer die Amerikaner für alles Übel der arabischen Welt verantwortlich zu machen. Diese Ausrede werden die Iraker aber nicht haben, wenn sie die Chance zur Freiheit verspielen, die ihnen die Amerikaner eröffnen - und die auch viele Iraker mit dem Leben bezahlt haben." Letztere haben nicht darum gebeten, für die bloße Chance, sich anderen Herren unterwerfen zu dürfen, massakriert zu werden, aber wer hört schon auf die Toten.

Die im Irak begangenen Grausamkeiten wurden schon von der Bush-Regierung damit gerechtfertigt, daß eben dies der Preis sei, den die Iraker für die Freiheit zu bezahlen hätten. Es war nicht das erste Mal, daß die Bannerträger des politischen Liberalismus völlig selbstherrlich und ohne Respekt für die Eigenständigkeit anderer Menschen darüber entscheiden, was diesen angeblich gut tut und was nicht. Gemeint mit der Freiheit, die man in Washington und Berlin meint, ist die Willkür imperialistischer Kriegführung und die dezisionistische Souveränität, mit der die Starken über die Schwachen befinden. Gemeint ist die Definitionsmacht über die Geschichte eines Krieges, dessen Opfer dadurch, daß sie immer noch keine Stimme erhalten, mit der sie ihre Sicht der Dinge bezeugen könnten, ein zweites Mal vergewaltigt werden.

24. August 2010