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KULTUR/1015: Hippie-Mythos gegen den Strich gebürstet (SB)



Eine wesentliche Quelle des Mythos, das unternehmerische Vermögen der großen IT-Monopolisten sei ein Erbe der Hippie-Bewegung der 1960er Jahre, ist der als Ideenhistoriker des Silicon Valley gefeierte Sozialwissenschaftler Fred Turner. 2006 legte der Ordinarius des Department für Kommunikationswissenschaften an der kalifornischen Universität Stanford mit dem Buch "From Counterculture to Cyberculture: Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism" den Grundstein für eine Erzählung, die seitdem fleißig weitergesponnen wird, ohne dadurch stichhaltiger zu werden. Wesentlich orientiert an der Figur Steward Brands, der in der kalifornischen Hippie-Szene Mitte der 60er Jahre als Organisator von Acid-Festivals eine gewisse Prominenz erlangte und als Herausgeber des Whole Earth Catalogues frühzeitig unternehmerisches Talent erkennen ließ, unterstellt Turner eine kontinuierliche Entwicklung von der damaligen Aussteigerbewegung zu der Gründergeneration jener Computerhersteller und Programmierer, die mit der Digitalisierung der Welt reich und erfolgreich geworden sind.

Selbst wenn die Entwicklung informationstechnischer Technologien von sozialutopischen Träumen einer herrschaftsfreien Kommunikation beflügelt gewesen sein mag, so hat doch die materielle Grundlage der mikroelektronischen Produktionsweise längst über alle Visionen, auf diesem Wege eine sozial gerechtere Welt zu schaffen, gesiegt. Davon geblieben sind bestenfalls transhumanistische Hoffnungen von einer Technifizierung des Humanums, die dem Menschen perspektivisch ein unsterbliches Leben in den vermeintlich immateriellen Sphären einer aus binären Strukturen geschaffenen Virtualität verheißen. Allein die Gleichsetzung des menschlichen Gehirns mit informationstechnischen Prozessen läßt eine vulgärmaterialistische Dystopie erkennen, die sicherlich nichts mit der starken Skepsis der frühen Hippies gegenüber einer auf Labor und Fabrik, auf technologischer Innovation und industrieller Produktion gestützten gesellschaftlichen Entwicklung zu tun hat.

Wird die Freisetzung unternehmerischer Energien in der neoliberalen Marktwirtschaft auch nur im Ansatz mit den gesellschaftskritischen Sozialutopien einer Hippie-Bewegung gleichgesetzt, die Mitte der 1960er Jahre eine mehrere Millionen Menschen starke Kommunebewegung inspirierten, in deren Gemeinschaftsexperimenten die egalitäre Lösung der Eigentumsfrage zentral war, dann hat man es mit einer völlig undialektischen Gleichsetzung lediglich formal ähnlicher Kriterien zu tun. Bevor die Hippie-Bewegung mit der Vermarktung von "Flower Power" 1967 in popkultureller Kommerzialisierung verendete, war sie zumindest in ihrer sozialen Praxis dezidiert antikapitalistisch und staatskritisch. Von daher hatte sie ideologisch viel mit der radikalen Studentenbewegung zu tun, die 1960 in ersten Protesten in der kalifornischen Eliteuniversität Berkeley ihren Anfang nahm und sich bis zu dem aufstandsartigen und militanten Widerstand gegen den Vietnam-Krieg radikalisierte.

Die von Hippies dominierte Counterculture dieser Zeit hatte fundamentale Einwände gegen eine Technologie, deren Entstehung maßgeblich imperialistischer Kriegführung geschuldet war und die zudem eine kapitalistische Konsumkultur beflügelte, die den in Lohnarbeit gezwungenen Menschen mit bloßem Ersatz für selbstbestimmtes und autonomes Leben abspeiste. Der technophile Charakter der Cyberculture hingegen produziert all die elektronischen Träume, die als Inbegriff eines Somas verstanden werden können, das die Menschen davon abhält, ihre Interessen in die eigenen Hände zu bekommen und gegen die sie beherrschenden Instanzen und Institutionen zu wenden. Die unter Hippies verbreitete LSD-Kultur brachte zumindest im ersten Schritt keinen an Drogen orientierten Unterhaltungskonsum hervor, sondern setzte Eindrücke und Gedanken frei, die maßgeblichen Einfluß auf den gegenkulturellen Anspruch an die Aufhebung bürgerlicher Eigentumsordnung, Moralvorstellungen und Ästhetik haben sollte [1].

Turners Protagonist Stewart Brand ist frühzeitig in die soziale Organisation elektronischer Netzwerke eingestiegen, so 1985 mit der Gründung eines der ersten größeren elektronischen Netzwerke namens The WELL für "Whole Earth 'Lectronic Link". Dem affirmativen Umgang mit technologischer Innovation gemäß ist Brand seinen Weg als sinnstiftender Vordenker einer transhumanistischen New Age-Mentalität weitergegangen, so 2009 mit seinem Buch "Whole Earth Discipline: An Ecopragmatist Manifesto". Darin propagiert er unter anderem den Einsatz von Atomkraft, Geoengineering und Gentechnologie als Maßnahmen gegen Klimawandel und Naturzerstörung. So weit der Bogen dieser Wanderung vom sozialrevolutionären Hippie zum Verfasser eines Businessplans zur Weltrettung gespannt ist, so wenig hat das eine mit dem anderen zu tun. An dieser Stelle an vergleichbare Karrieren zu denken, die von der revolutionären Linken in deutsche Regierungsverantwortung oder gar ins Lager ausgemachter Nazis geführt haben, erinnert daran, daß personale Identität und ideologische Disparität einander bestens ergänzen, erscheint doch die Unterwerfung unter gesellschaftliche Machtverhältnisse meist als der bequemere Weg.

Die verbreitete Auffassung vom vermeintlich immateriellen, kostenfreien und aus sich selbst heraus sozial fortschrittlichen Charakter von Informationen wie die soziale Entkopplung technologischer Entwicklung von der gesellschaftlichen Kommandogewalt, die sie hervorbringt, sind die wesentlichen Bindeglieder des Versuchs Turners, die Counterculture der 1960er Jahre mit der Cyberculture der 1980er Jahre in eins zu setzen. Als der zu Unrecht als Vordenker der Hippie-Bewegung gefeierte Timothy Leary den PC als "das LSD der 1990er" propagierte, bewies er mit diesem Analogieschluß, daß er von der politischen Dimension der von ihm selbst verbalradikal angeschobenen Revolte der 60er-Jahre nicht viel verstanden hatte. Es ist kein Zufall, daß Akademiker wie Turner oder Leary mit Gleichsetzungen banalster Art arbeiten, die an der Realität der früheren Hippies nicht weiter vorbeigehen könnten, weil diese lediglich Objekt ihrer Betrachtung sind, nicht aber Subjekt einer sozialen Revolte von grundstürzendem Potential gewesen sein sollen.

Nur so kann sich Fred Turner dieser Tage mit der These ins Gespräch bringen, die angebliche Hippie-Ideologie Silicon Valleys sei für die digitale Überwachungsökonomie und den Aufstieg des autoritären US-Präsidenten Donald Trump verantwortlich. Egal wie sehr man versucht, die Schraube noch ein Stückchen weiterzudrehen, wenn sie einmal schief angesetzt wurde, wird niemals ein ansehnliches Werkstück daraus. Um beim Fischen nach Gründen für den Erfolg Trumps fündig zu werden, scheint jedes Mittel recht zu sein, und das erst recht, wenn es an das allseits beliebte Hippie-Bashing anknüpft.

Für den schlechten Ruf, den Hippies heute als versponnene Idealisten, exzentrische Drogenkonsumenten und maschinenstürmende Schwarmgeister genießen, werden sich stets einige Personen finden lassen, die sich mit dieser Identität geschmückt haben. Der Ausbruch der Hippies aus der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer karriereorientierten kleinfamiliären Biografien, dem chauvinistischen Nationalismus und weißen Rassismus wie der industriellen Zurichtung aller kulturellen Entwicklung war dennoch so real wie der Anspruch, der herrschenden Vergesellschaftungsform neue kollektive Formen des Lebens und Arbeitens entgegenzusetzen. Diese Bewegung retrospektiv in die kalifornische Ideologie monopolkapitalistischer IT-Unternehmen einzubetten entspricht dem sichtbaren Erfolg der Strategie, jede nur denkbare Opposition gegen die Zurichtung der Welt auf die Befriedigung privatwirtschaftlicher Interessen auf eine Weise zu antizipieren, die ihr den Stachel des Widerstandes nimmt, noch bevor ihr bewußt ist, daß sie über einen solchen verfügt.


Fußnote:

[1] REZENSION/445: Günter Amendt - Die Legende vom LSD (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar445.html

2. April 2017


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