Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


KULTUR/0977: Yasar Kemal - Schreiben und Dichten gegen Ausbeutung und Unterdrückung (SB)



Ob er Dichter, Rebell und Volksheld war, läßt sich schwer sagen, auf jeden Fall verkörperte Yasar Kemal die Integrität des menschlichen und gesellschaftlichen Gewissens in der Türkei. Zeitlebens hatte er den einfachen Menschen Anatoliens, ihren Nöten und Bedrückungen seine Stimme gegeben. Diese Stimme der Humanität und des Friedens in einem Land, das von vielerlei Rissen und Widersprüchen gezeichnet ist, ist am 28. Februar im Alter von 91 Jahren in Istanbul für immer verstummt. Die Türkei hat mit seinem Tod nicht nur ihren berühmtesten Romancier verloren, dessen Tetralogie "Mehmed mein Falke" in über 40 Sprachen übersetzt wurde. Als bekennender Sozialist, der für seine politische Überzeugung mehrmals im Gefängnis saß und Jahre des Asyls in Schweden verbrachte, hatte sich Kemal stets für die Vision einer sich von Unterdrückung und Rassismus emanzipierenden türkischen Gesellschaft eingesetzt.

Dessenungeachtet übte er auch Kritik am Kurs Moskaus, da die sowjetische Politbürokratie einer tatsächlich von der Arbeiterklasse verwirklichten sozialistischen Staatsform im Wege stünde. So vertrat er die Ansicht, daß jede Gesellschaft ihren eigenen Sozialismus hervorbringen und ihre tiefverwurzelten Mißstände überwinden müsse. Vor allem sein Eintreten für die Kurdinnen und Kurden brachte ihn wiederholt mit dem staatlichen Repressionsapparat in Konflikt. Seine mahnende Stimme erhob sich insbesondere gegen den Krieg des Blutes, wie er in der Türkei von den Herrschenden geschürt werde, um Türken gegen Kurden und damit die Menschen gegeneinander aufzuwiegeln.

In seinem Friedensmanifest vom Januar 2007 bekräftigte er, daß Kurden und Türken schon seit Jahrhunderten wie Geschwister neben- und miteinander lebten und daß Atatürks Befreiungskampf gegen die alliierten Siegermächte ohne die kurdische Unterstützung wohl nicht hätte erfolgreich abgeschlossen werden können. Den Kurden die Hand der Freundschaft zu verweigern, war für Kemal immer Teil einer Herrschaftsideologie, die die Freiheit des Wortes ebenso niederdrückte wie das friedvolle Miteinander der Menschen. Als das Todesfasten gegen die Verlegung türkischer Kommunisten und kurdischer PKK-Kämpfer in die Typ-F-Gefängnisse begann, besuchte Kemal, obschon seinerzeit von einer Krankheit gezeichnet, die Hungerstreikenden und solidarisierte sich mit ihren Forderungen.

Kemal ist 1923 in dem kleinen Dorf Hemite geboren worden. Seine Eltern waren kurdische Zuwanderer, die während des Ersten Weltkrieges aus dem Dorf Ernis in der Provinz Van in die Cukurova zogen. Hunger und Entbehrungen bildeten die Gefährten seiner Jugend, zumal sein Vater, da war Kemal gerade fünfjährig, bei einer Auseinandersetzung ums Leben kam. So war er gezwungen, für den Lebensunterhalt seiner Familie in einer Baumwollfabrik und später auf den Baumwollfeldern zu arbeiten. Dennoch erwachte schon früh in ihm die Leidenschaft für die Sprache und Tradition seiner anatolischen Heimat. So wanderte er in Jugendjahren von Dorf zu Dorf und sammelte mit einem Notizblock in Händen die Klage- und Trauerlieder, mit denen die Menschen nicht nur ihrer Not Ausdruck verliehen, sondern auch vielfältige Mythen und Hoffnungen transportierten. Was Unfreiheit und staatliche Zensur bedeuten, erfuhr er erstmals mit 17 Jahren, als er wegen eines Gedichtes inhaftiert wurde. Auf dem Wege der Politisierung seines Widerstands gegen jedwede Form der Bevormundung und Unterjochung linken Aufbegehrens arbeitete Kemal lange Jahre für die Arbeiterpartei der Türkei (TIP).

Kemal lebte in der Umbruchphase von einem kleinbäuerlich orientierten Landbau hin zur modernen Agrarwirtschaft mit all den schädigenden Nachwirkungen. Die Industrialisierung des Landes hat häßliche Narben hinterlassen, auf den Gesichtern einst blühender Landschaften wie auch auf denen der dort lebenden Menschen. Diese Bilder der Entfremdung und kulturellen Verarmung fanden nicht selten Eingang in seine zahlreichen Romane und Kurzgeschichten. Die Entwurzelung des Menschen hat nicht nur Tausende Dörfer entvölkert, sondern ihm auch die Bodenständigkeit seiner Kultur genommen. Dieser Verlust an Heimat ging einher mit der Ausbeutung der Arbeitskraft jenes anatolischen Proletariats, das später in den Metropolen des Landes oder als Gastarbeiter im Ausland einer Identität aufgeopfert wurde, die vollständig fremdbestimmt war. Dagegen und gegen die Widersprüche der modernen türkischen Gesellschaft hat Kemal zeit seines Lebens angeschrieben, weil er Humanismus und Sozialismus nicht getrennt denken wollte.

Yasar Kemal und Günter Grass zur deutschen Flüchtlings- und Türkeipolitik

Am 19. Oktober 1997 erhielt Yasar Kemal den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei der Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche ging Laudator Günter Grass auch auf die deutsche Flüchtlingspolitik ein, die er in Hinsicht auf den Umgang der türkischen Mehrheitsbevölkerung mit ethnischen Minderheiten im eigenen Land scharf als Ausdruck eines wohl unausrottbaren Rassismus in der Bundesrepublik verurteilte:

"Spricht nicht der in Deutschland latente Fremdenhass, bürokratisch verklausuliert, aus der Abschiebepraxis des gegenwärtigen Innenministers, dessen Härte bei rechtsradikalen Schlägerkolonnen ihr Echo findet? Über viertausend Flüchtlinge, aus der Türkei, Algerien, Nigeria, denen nichts Kriminelles nachgewiesen werden kann, sitzen in Abschiebelagern hinter Schloss und Riegel, Schüblinge werden sie auf neudeutsch genannt. Es ist wohl so, daß wir alle untätige Zeugen einer abermaligen, diesmal demokratisch abgesicherten Barbarei sind." [1]

Regierungssprecher Peter Hausmann wollte "ungeheuerliche Behauptungen" in der Rede des Lübecker Schriftstellers vernommen haben, und manchen Kulturbürger trieb die bange Frage um, ob Günter Grass nicht die Grenze des Erlaubten überschritten hatte. Der kleingeistige Zustand einer Gesellschaft, die es sich so bequem in Reichtum und Freiheit einrichtet, daß sie anderen beides vorenthalten muß, hätte nicht besser dokumentiert werden können als durch die Reaktionen auf diese Worte. Mit den Geheimdiensten und Militärs einer Türkei zu kollaborieren, die im Kalten Krieg als südöstlicher Eckpfeiler der NATO nach außen wie innen gegen den Kommunismus gekämpft hatte, um weiterhin einen Teil der eigenen Bevölkerung einem mit Sozialismus und Internationalismus unverträglichen Verwertungsprimat und Nationalethos zu unterwerfen, stand und steht in krassem Widerspruch zu den hierzulande im Mund geführten Werten.

Günter Grass beließ es nicht bei diesem Affront, sondern zitierte aus einem Beitrag, den Yasar Kemal zwei Jahre zuvor für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel verfaßt hatte. Darin kritisierte er nicht nur die Politik des türkischen Staates gegenüber der kurdischen Bevölkerung, sondern auch diejenigen Regierungen, die den NATO-Partner durch Waffenlieferungen in die Lage versetzten, sie zu bekämpfen und zu unterdrücken:

"Die Türkische Republik darf durch die Fortsetzung dieses Kriegs nicht als ein fluchbeladenes Land ins 21. Jahrhundert eintreten. Das Gewissen der Menschheit wird den Völkern der Türkei helfen, diesen unmenschlichen Krieg zu beenden. Besonders die Völker der Länder, die dem türkischen Staat Waffen verkaufen, müssen dazu beitragen. Wir in der Türkei aber sollten immer daran denken, daß der Weg zu einer echten Demokratie nur über die friedliche Lösung der Kurdenfrage führt." [2]

Günter Grass griff die von ihm selbst gelegte Spur mit Worten auf, die in einer Rede zu einem Friedenspreis nicht unausgesprochen bleiben durften. Der von ihm vollzogene Einbruch imperialistischer Realpolitik in das sakrale Refugium einer Kultur, die für symbolpolitische Hochämter dieser Art nur taugt, wenn sie rückstandslos vom Zorn der Ausgebeuteten und Unterdrückten bereinigt wird, ist von unveränderter Dringlichkeit angesichts der Bedrohung, denen Kurdinnen und Kurden in ihren Siedlungsgebieten von mehreren Seiten her ausgesetzt sind:

"Dieser Appell ist auch an die deutsche Adresse gerichtet. Wer immer hier, versammelt in der Paulskirche, die Interessen der Regierung Kohl/Kinkel vertritt, weiß, dass die Bundesrepublik Deutschland seit Jahren Waffenlieferungen an die gegen ihr eigenes Volk einen Vernichtungskrieg führende Türkische Republik duldet. Nach 1990, als uns die Gunst der Stunde die Möglichkeiten einer deutschen Einigung eröffnete, sind sogar Panzer und gepanzerte Fahrzeuge aus den Beständen der DDR in dieses kriegführende Land geliefert worden. Wir wurden und sind Mittäter. Wir duldeten ein so schnelles wie schmutziges Geschäft. Ich schäme mich meines Landes, dessen Regierung todbringenden Handel zulässt und zudem den verfolgten Kurden das Recht auf Asyl verweigert." [3]

Bis heute sind Kurdinnen und Kurden auch in der Bundesrepublik Opfer politischer Verfolgung, nur daß der Griff der Bundesregierung nach angeblicher Verantwortung ganz neue Widerspruchslagen eröffnet hat. Während sie, wie vor wenigen Tagen in einer Debatte des Bundestages geschehen, am Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) festhält und Geldspenden an die Partei als Unterstützung des Terrorismus kriminalisiert, nimmt sie es, wie der Grünen-Politiker Christian Ströbele anmerkte, billigend in Kauf, daß die im Rahmen des bislang ohne jedes völkerrechtliche Mandat auskommenden Bundeswehreinsatzes im Nordirak an die irakisch-kurdischen Peschmerga gelieferten Waffen auch an Kämpferinnen und Kämpfer der PKK gelangen. [4]

Auch Yasar Kemal konnte der deutschen Politik nur den Spiegel eigener Widersprüchlichkeit vorhalten, was beim Lesen der Nachrufe anläßlich seines Todes in Zeitungen, die die Militarisierung der Bundesrepublik und ihre angeblich neue Rolle in der Welt in Wort und Schrift propagieren, nicht vergessen werden sollte.


Fußnoten:

[1] http://www.unionsverlag.com/info/link.asp?link_id=5618&pers_id=104

[2] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9159918.html

[3] http://www.unionsverlag.com/info/link.asp?link_id=5618&pers_id=104

[4] https://www.jungewelt.de/2015/02-28/017.php

2. März 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang