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KULTUR/0954: Ideologische Grenzkonflikte um East Side Gallery (SB)




Die geschätzten 20 Zwangsräumungen, bei denen jeden Tag in Berlin Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben werden, die die Miete nicht mehr zahlen können oder die sich im Dickicht der Rechtsfragen verlaufen haben, sind Bestandteil einer sozialen Realität, welche eher nicht zur Kenntnis genommen wird. Abgesehen von spektakulären Widerstandsaktionen wie im Fall der Familie Gülbol, die am 14. Februar trotz der frühmorgendlichen Anwesenheit von bis zu tausend Aktivistinnen und Aktivisten mit Polizeigewalt aus ihrer seit 1996 bewohnten Wohnung entfernt wurde, weil sie in einem Mietstreit vor Gericht unterlag, oder im Falle der am 27. Februar durch rund 200 Menschen verhinderten Räumung einer schwerbehinderten 67jährigen Frau, wird das Eigentumsrecht ohne großes Aufsehen quasi im Normalvollzug durchgesetzt. Die Solidarität der unter anderem im Bündnis "Zwangsräumung verhindern" organisierten, von Mietsteigerungen und Verdrängungsprozessen betroffenen Berlinerinnen und Berliner demonstriert denn auch über den konkreten Anlaß hinaus den sozialen Widerstand gegen den Primat eines Rechts auf Privateigentum, das gegen die essentiellen Lebenserfordernisse besitzloser Menschen verstößt.

Im Fall der East Side Gallery, der inzwischen die Aufmerksamkeit internationaler Medien erreicht hat, geht der Einspruch gegen den Plan, ein Stück der noch im restaurierten Originalzustand erhaltenen Berliner Mauer zugunsten des Baus von Luxuswohnungen und einer Spreebrücke zu versetzen, allerdings auch von Kreisen aus, die nicht nur der sozialen Bewegung gegen zu hohe Mieten angehören. Während Künstlerinnen und Künstler sich gegen die Mißachtung von Bildern wehren, die erst 2008 mit einigem finanziellen Aufwand und unter großer Anteilnahme der Berliner Öffentlichkeit in ihren Originalzustand zurückversetzt wurden, und die Initiativen gegen die Bebauung des Spreeufers zu verhindern suchen, daß diese für Investoren attraktive Lage in exklusiven Privatbesitz umgewandelt wird, geht es anderen Bürgerinnen und Bürgern auch darum, die Erinnerung an den Mauerfall durch den Erhalt verbliebener Reste der Grenzanlage lebendig zu halten.

Nachdem der Versuch, die Bevölkerung des Stadtteils Friedrichshain vor vollendete Tatsachen zu stellen, indem die Entfernung der Mauerstücke ohne weitere Ankündigung vorgenommen werden sollte, durch die Anwesenheit von 400 schnell herbeigeeilten Aktivistinnen und Aktivisten am Freitag, den 1. März 2013 verhindert worden war, demonstrierten am darauffolgenden Sonntag gut 6000 Menschen gegen das Vorhaben. Unter ihnen befanden sich auch Politiker bürgerlicher Parteien bis hin zur CDU, ebenso wie Vertreter von DDR-Opferverbänden und andere Bürger, die in der Aktion einen - nach der 2006 vollzogenen Versetzung eines 40 Meter langen Stücks der Mauer zugunsten des Baus der Veranstaltungshalle O2-World - weiteren Verstoß gegen das historische Gedenken an die Teilung der Stadt durch die Grenzsicherungsanlagen der DDR erkannten.

Unter den Protestierenden war man sich darüber, ob die Beseitigung der Mauer der Bevölkerung nur Vorteile gebracht hätte, anscheinend nicht ganz einig. Parolen wie "Mauer wieder zu!" oder die Erklärung des in West-Berlin aufgewachsenen Schauspielers Ben Becker, er habe die Mauer schon immer geliebt, weil sie einen Freiraum für Künstler ermöglicht habe, wurden nicht nur als Satire verstanden und waren vielleicht auch nicht so gemeint. Das schrankenlose Wirken der kapitalistischen Marktwirtschaft, die mit dem Anschluß der DDR an die BRD zur maßgeblichen gesellschaftlichen Kraft in der erweiterten Bundesrepublik avancierte, drückt sich eben auch darin aus, daß auf einer von vielen Menschen als Naherholungsgebiet geschätzten Freifläche ein 14stöckiges Hochhaus mit Eigentumswohnungen gebaut werden soll, deren Erwerb zudem mit Quadratmeterpreisen zwischen 2700 und 7800 Euro jenseits der finanziellen Möglichkeiten der ortsansässigen Bevölkerung liegt.

So sind diejenigen, die die Reste der Mauer verteidigen, um sie als Mahnmal für staatliche Repression im Namen des Realsozialismus zu erhalten, damit konfrontiert, daß die Geister, die sie für diese Erinnerungskultur auf den Plan riefen, geschichtsträchtige Denkmäler für überflüssig erachten, wenn sie pekuniären Interessen im Wege stehen. Von der ideologischen Borniertheit einer Geschichtsauffassung, die dem unterlegenen Gesellschaftssystem ideologische Totalität anlastet, geht es schnurstracks zur Elimination auch nur bloßer Spuren originärer Geschichte. Diese stören nicht nur den ungehemmten Verlauf urbaner Aufwertungsprozesse, sie bieten auch zuviele Anhaltspunkte dafür, daß die Geschichte der Sieger auch eine Schattenseite, nämlich die der Verlierer, hat.

So propagieren die Vordenker des Neoliberalismus nicht umsonst die Irrelevanz aller über das angeblich selbstregulative Wirken der Marktkräfte hinausgehenden gesellschaftspolitischen Faktoren wie das Streben nach sozialer Gerechtigkeit oder die Gültigkeit historischer Prozesse für die demokratische Willensbildung. Getreu der Überantwortung aller relevanten gesellschaftlichen Entwicklungen an die Logik des Marktprimates können Planungen und Interventionen, die sich diesem organisatorischen Prinzip nicht unterwerfen, dem daraus unterstellten Nutzen nur entgegenwirken. Nach der Erkenntnis außerökonomischer Kräfte und Wirkungen zu streben ist dem neoliberalen Reduktionismus nicht nur fremd, sondern wird zudem auch als kontraproduktiver Bruch seiner angeblich rein funktionalen Prinzipien verworfen, ohne die eigenen weltanschaulich-doktrinären Glaubenssätze zu reflektieren.

So sehr der hochsymbolische Akt des "Mauerfalls" und die damit schrankenlos eröffnete Freisetzung der Marktkräfte den neoliberalen Dogmen vom Ende der Geschichte und der Negation jeder Gesellschaftlichkeit zugute kommt, so sehr dementiert die davon untrennbare Zerstörung sozialer Lebenswelten ihren Anspruch, zur Befreiung des Menschen in eigenverantwortlicher Individualität rational und marktgerecht handeln zu können. Der als Unternehmer seiner selbst in Opposition zum Anspruch auf jegliche gesellschaftliche Verantwortung der Daseinsvorsorge und Existenzsicherung gebrachte Homo oeconomicus beweist mit der Demontage einer Grenzbefestigung, deren Verwandlung in eine Kunstgalerie und Touristenattraktion seinen angeblichen Sieg nicht besser dokumentieren könnte, sein Unvermögen, auch nur die konstitutiven Bedingungen seiner Hegemonie sichern zu können. Die nach Maßgabe der "kreativen Zerstörung" betriebene Revolutionierung der Produktivkräfte verschlingt die eigene Legitimation durch eine Gesellschaft, die wegzubehaupten erst recht zum Widerspruch herausfordert. So bietet der Eklat um die East Side Gallery auch Gelegenheit dazu, die verleugnete Seite der sogenannten Wiedervereinigung anzusprechen. Warum auch die Definitionshoheit jenen Ewiggestrigen überlassen, die nicht aufhören können, sich am Leichnam des Realsozialismus zu vergehen, weil sie die Vision einer Freiheit, die ihre gesellschaftliche Macht nicht mit Eigentumsrecht und Waffengewalt sichert, mit Angst erfüllt?

7. März 2013