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KULTUR/0951: Wir waren Papst - Respektbekundungen in eigener Sache (SB)




"Man steigt nicht vom Kreuz herab", rufen einige Christen Papst Benedikt XVI. zu. Sie lasten Joseph Ratzinger an, den Becher des Lebens nicht bis zur bitteren Neige ausgetrunken zu haben und damit Millionen Katholiken in aller Welt ein leuchtendes Vorbild an Duldsamkeit und Leidensbereitschaft zu sein. Dem Problem einer Erlösungsreligion, die verheißene Befreiung von allem Leid stets in ein ungewisses Jenseits verlagern zu müssen, hatte der Vorgänger dieses Papstes, Johannes Paul II., dadurch Rechnung getragen, im erlittenen Sterben ungleich größeren Lohn erwarten zu dürfen. Die im sündhaften Sein verankerte Moral, laut der jeder Schuld ein Guthaben gegenüberstehen muß, darf nicht einfach dadurch aufgekündigt werden, daß die Währung der Schmerzen ihren Tauschwert einbüßt.

Indem Karol Wojtyla attestiert wurde, gerade in Sterben und Tod zu voller Größe gelangt zu sein, erfüllte man die Gewalt alltäglicher Überlebenspraxis mit dem übergreifenden Sinn, daß es sich spätestens im Himmel auszahlt, nicht gegen die sozialen Grausamkeiten dieser Welt aufzustehen. Der Anker im Meer der Orientierungslosigkeit, so eine häufig zu vernehmende Metapher päpstlichen Wirkens, zementiert die vermeintlich gottgegebene Ordnung von Himmel und Erde, von Herrschaft und Unterwerfung, als feste Burg gegen jede Veränderung, die nicht den Segen Roms hat. So zettelt der amtierende Papst mit seinem überraschenden Schritt keinen revolutionären Aufstand gegen diese Ordnung an, er handelt vielmehr in der nüchternen Ratio, einen geordneten Übergang zu schaffen und damit weiteren Schaden von dieser nach wie vor größten Glaubensinstitution der Welt abzuwenden.

Benedikt XVI. steht nicht nur vor den Trümmern der von ihm ausgerufenen Remissionierung Europas, er stößt auch innerhalb der Kirche aufgrund seiner konservativen Politik, mit der er hinter den Aufbruch des Zweiten Vatikanums zurückfiel, auf Gegenwind. Konzentriert sich die Bilanzierung seiner Amtszeit vor allem darauf, daß der absolutistische Anspruch des Papsttums, die Oberhoheit des Klerus und das Zölibat wie andere Fragen der Sexualmoral von diesem Papst uneingeschränkt verteidigt wurden, so wird ihm für sein Verhältnis zu anderen Religionen und Kulturen, sein vermeintliches Eintreten für die Armen der Welt wie sein intellektuelles Vermögen als Theologe dennoch Respekt gezollt. Gewürdigt wird im Kern, daß Ratzinger als ausgemachter Kulturkämpfer die globale Vormachtstellung des christlichen Westens als historisch verankerten Anspruch befestigte und die drängenden Widersprüche im kapitalistischen Weltsystem auf eine den sozialen Frieden wahrende Weise moderierte.

So brach er im April 2008 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York eine Lanze für den humanitären Interventionismus, indem er erklärte, es sei höchste Aufgabe der Staaten, die Bürger vor schweren Verletzungen der Menschenrechte zu schützen. Wenn die Länder nicht in der Lage seien, den Schutz ihrer Bevölkerungen zu gewährleisten, müsse die internationale Gemeinschaft mit den in der Charta der Vereinten Nationen vorgesehenen Rechtsmitteln und mit anderen internationalen Instrumenten eingreifen, so Ratzinger. Damit gab er zu verstehen, daß er ganz auf der Seite jener Staaten steht, die meinen, die Welt nach ihren Maßgaben formen zu müssen, selbst wenn dies gegen den Willen der davon Betroffenen erfolgt. Indem sich Benedikt XVI. zu diesem Anlaß jeglicher Kritik an den verheerenden Folgen der Kriege in Afghanistan und im Irak für eben jene Menschenwürde, der er alle anderen politischen Handlungsmotive nachordnet, enthielt, gleichzeitig jedoch einem humanitären Interventionismus das Wort redet, wie ihn die Bundesrepublik gegenüber Jugoslawien praktiziert hat, macht er seinem in der britischen Presse kolportierten Spitznamen des Panzerkardinals alle Ehre. Wo Benedikt XVI. den Werterelativismus westlich-christlicher Moral scharf verurteilte, unterstützte er den Relativismus der NATO-Staaten, jeden internationalen Vertrag und jedes geschriebene Gesetz, wenn nicht ohnehin ignorieren, dann nach Belieben verbiegen und verdrehen zu können.

Das dahinter stehende Menschenbild hat der Philosoph Hans Heinz Holz (junge Welt, 20.10.2007) auf entlarvende Weise herausgearbeitet, indem er auf Ratzingers 2005 veröffentlichtes Buch "Werte in Zeiten des Umbruchs" verwies. Dort erklärte der Papst, daß Menschen, die sich aus dem durch die katholische Kirche gestifteten "Zusammenhang der sittlichen Ordnung der Menschen" verabschieden, ihr Menschsein verloren hätten, so daß ihre Wissenschaft "pathologisch und lebensgefährlich" werde, was Holz zu Recht in der Nähe der Ideologie vom "Unmenschen" oder "Untermenschen" verortete.

Angesichts der häufig zur Legitimation der Sanktionierung und Bedrohung des Irans durch die führenden NATO-Staaten heranzitierten israelfeindlichen Aussagen hochrangiger Politiker des Landes ging die Affäre um den von Benedikt XVI. rehabilitierten britischen Bischof und Holocaustleugner Richard Williamson glimpflich für den Papst aus. Er hatte kraft seines Amtes die Wiedereingliederung eines ganzen Flügels rechtskatholischer Priester und Gläubiger in seine Kirche vollzogen, die sein Vorgänger Johannes Paul II. 1988 exkommuniziert hatte, weil sie die Errungenschaften des Zweiten Vatikanums rundheraus ablehnten und damit in mehrfacher Hinsicht gegen gültiges Kirchenrecht und die Autorität des Papstes verstießen.

Die Anhänger des verstorbenen Bischofs Marcel Lefevbre sind so sehr vom alleinseligmachenden Charakter der katholischen Glaubensdoktrin überzeugt, daß sie sich jeglicher Annäherung der römischen Kirche an andere Konfessionen und Religionen widersetzen. Ihr Antikommunismus ist so militant, daß sie jede Liberalisierung der Kirche als Produkt einer marxistischen Verschwörung brandmarken. Als Parteigänger bourgeoiser Herrschaft selbst dann, wenn sie so blutig durchgesetzt wurde wie in den bürgerlich-katholischen Militärdiktaturen Lateinamerikas, gehören sie zu den sozial reaktionärsten Kräften, die der Katholizismus aufzubieten hat. Zudem handelte es sich bei den vier Bischöfen, die Benedikt XVI. als solche anerkannte, um widerrechtlich von Lefevbre geweihte Amtsträger, so daß der deutsche Papst die Autorität seines polnischen Vorgängers mit diesem Schritt indirekt in Frage stellte. Williamson, der der Ansicht ist, daß lediglich 200.000 und nicht sechs Millionen Juden durch den NS-Staat ermordet wurden, markierte lediglich die Spitze des klerikalkonservativen Rollbacks, mit dem Joseph Ratzinger einmal mehr deutlich macht, daß es ihm um die Restauration autoritärer Herrschaft nicht nur in seiner Kirche geht.

Als er im September 2006 mit seiner Regensburger Rede eine Attacke gegen den Islam ritt, indem er ihn eines so fragwürdigen Verhältnisses zu Vernunft und Wahrheitstreue bezichtigte, daß sich Muslime sogar in unheiliger Absicht zu Verstößen gegen die eigene Glaubensdoktrin ermächtigt fühlen könnten, war man sich hierzulande einig darin, daß die empörten Reaktionen aus der islamischen Welt weit überzogen wären. Benedikt XVI. tat so, als verstehe er die ganze Aufregung nicht, und erklärte alles mit einem "Mißverständnis" seitens der Betroffenen, was auf einen weiteren Affront hinauslief, behauptete er damit doch, daß sie den feindseligen Charakter der Rede fälschlicherweise und zu seinen Lasten unterstellten. Kurz darauf zitierte er in einer Sonntagspredigt auf italienisch aus dem 1. Korintherbrief des Paulus: "Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit."

Dieses apologetische Selbstverständnis schlug sich auch darin nieder, daß Benedikt XVI. 2007 eine antijudaistische Form der Karfreitagsfürbitte für die Juden in Ausnahmefällen zuließ. Nachdem die jahrhundertealte Fassung bis 1970 aller das Judentum herabwürdigenden Inhalte entledigt worden war, klang in der neuen Formulierung dieses Papstes wieder die Juden unterstellte Verblendung und Treulosigkeit an: "Lasst uns auch beten für die Juden, auf dass Gott, unser Herr, ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus erkennen, den Retter aller Menschen." Dies wurde in Anbetracht der umfassenden Kollaboration der Konkordatskirche mit dem NS-Regime nicht minder lautstark als Rückfall kritisiert wie die Herabwürdigung der indigenen Kultur und Geschichte Lateinamerikas.

Auf der Generalkonferenz der lateinamerikanischen Bischöfe hatte Ratzinger im Mai 2007 behauptet, die Ureinwohner hätten Christus, ohne es zu wissen, in ihren religiösen Traditionen gesucht und in ihm den Erlöser gefunden, nach dem sie sich im Stillen sehnten. Er wies damit die vor dem Eintreffen der katholischen Eroberer existierende Zivilisation und Religiosität als ein Joch aus, von dem die Menschen durch die christliche Lehre befreit worden wären. Die indigene Kultur Lateinamerikas war der europäischen Kultur laut Ratzinger nicht nur unterlegen, sie soll in ihrer unterdrückerischen Qualität in direktem Gegensatz zum Christentum gestanden haben, behauptete Benedikt XVI. Die massive Kritik seitens der Betroffenen konterte er mit der Forderung, die gebührende Erinnerung an die Verbrechen der Eroberer dürfe nicht verdecken, daß der katholische Glaube zum Fundament von Einheit und Identität der lateinamerikanischen Völker geworden sei. So umgab er die kolonialistische Ausplünderung des Kontinents, auf der nicht zuletzt der Reichtum seiner Kirche fußt, mit einem Heiligenschein, der auch noch die Kollaboration katholischer Bischöfe mit den antikommunistischen Militärdiktaturen Lateinamerikas überstrahlte. Gegen die Befreiungstheologen, die Widerstand gegen die von den USA maßgeblich unterstützten Foltergeneräle geübt hatten, war Kardinal Ratzinger schon als Leiter der Glaubenskongregation zu Felde gezogen.

Der Papst ließ keinen Zweifel daran, daß er die Notwendigkeit grausamer Überwindung autochthoner Eigenständigkeit durch den globalen Ordnungsfaktor der westlichen Kultur für unabdinglich hält und daß sein Begriff von zivilisatorischem Fortschritt aufs innigste mit dem Vergießen von Blut und dem Erleiden von Schmerz verbunden ist. Das ihm abgenötigte Eingeständnis, das genozidale Wüten der Konquistadoren zu bedauern, konnte die seiner Lehrauffassung inhärente Verherrlichung kreatürlichen Schmerzes als Produktivfaktor menschlicher Entwicklung dennoch nicht verdecken:

"Der Mensch wird durch das Kreuz erlöst. Der Gekreuzigte als der ganz Geöffnete ist die wahre Erlösung des Menschen. Vom christlichen Glauben her gilt demnach: Der Mensch kommt zutiefst nicht zu sich selbst durch das, was er tut, sondern durch das, was er empfängt. Er muß auf das Geschenk der Liebe warten. Liebe kann man nicht anders denn als Geschenk erhalten. Deshalb muß das Zeichen des Kommenden das Kreuz und sein Gesicht das Antlitz voller Blut und Wunden sein."
(Kardinal Joseph Ratzinger, 16. September 1999, Deutschlandfunk)

Mit einer Doktrin, die dem Menschen jegliche Autonomie abspricht, indem sie sein emanzipatorisches Potential leugnet und ihn angesichts des Numinosums des Heils zu Passivität verdammt, die Not und Leid voraussetzt, um Erlösung erwirtschaften und Herrschaft sichern zu können, empfiehlt sich die christliche Kultur nach wie vor als globale Ordnungsmacht, die ihre Version der Botschaft Jesu mit Feuer und Schwert verbreitet. Die Bomberpiloten, die sich vor dem Angriff auf irakische Städte bekreuzigten, begingen damit ebensowenig Blasphemie wie die in Eisen gewandeten und Eisen verfeuernden spanischen Eroberer, deren kriegerische Stärke zum Triumph gottgleicher Machtfülle geriet. Die Vernunft, die Ratzinger in seiner Regensburger Rede für die katholische Theologie in Anspruch nahm, begründet eine kolonialistische Intelligenz, die jeden straft, der die Expansion räuberischer Interessen nicht so entschieden betreibt, als er sie unter dem trügerischen Schein bester Absichten unsichtbar macht.

Die Joseph Ratzinger heute in vielen Kommentaren und Berichten zur Ankündigung seines Rücktritts erwiesenen Respektsbekundungen betreiben eine Apologie der katholischen Glaubensdoktrin, die weitgehend deckungsgleich ist mit der imperialistischen Suprematie säkularer Staatsräson. Die durch diesen Papst auf eine mittelalterliche Dogmatik festgelegte Kirche zu reformieren wird denn auch nicht mehr hervorbringen als eine zeitgemäßere Form kulturalistischer Dominanz und kapitalistischer Vergesellschaftung. Daher bleiben die innerkirchlichen Kritiker Ratzingers mit ihren Forderungen weit hinter ihrem Religionsstifter zurück, dem, wenn man den Spuren biblischer Überlieferung glauben will, die auf Not und Zwang basierende Herrschaft des Menschen über den Menschen nicht fremder sein konnte. Es widerspricht dem sozialrevolutionären Wirken jenes Juden, der sich nicht zu schade war, sich mit den Elendsten und Verworfensten gemein zu machen, zutiefst, auf seinem Rücken eine sakrale Ordnung des Oben und Unten zu errichten, die Schmerz und Leid glorifiziert, weil sie sonst gegenstandslos wäre.

Fußnoten:

REZENSION/511: Gerhard Feldbauer - Der Heilige Vater (SB) http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar511.html

KULTUR/0791: Benedikts Sozialenzyklika ... Unio mystica aus Markt und Moral (SB) http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0791.html

12. Februar 2013