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KULTUR/0882: Nicht knien und beten ... Kampf dem Katastrophenkapitalismus! (SB)



Die Bevölkerung des einzigen Landes, das Opfer des militärischen Einsatzes von Atomwaffen wurde, erleidet nun die Auswirkungen einer zivilen nuklearen Katastrophe. Das bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl geltend gemachte Argument angeblich unzureichenden Charakters sowjetischer Ingenieurskunst und Industrieentwicklung kann in Japan nicht verfangen. Forschung und Produktion befinden sich dort in jeder Hinsicht auf der Höhe modernster technologischer Verfahren. Wenn Mängel auftreten, dann auch aus den üblichen Gründen betriebswirtschaftlicher Rationalisierung, die in der nuklearen Energieerzeugung wie überall zur Relativierung möglicher Sicherheitsstandards führt. Da die japanische Energiewirtschaft nicht nur Nutzer, sondern auch Produzent und Exporteur von Atomkraftwerken ist, unterliegt sie zusätzlichem politischen Legitimationsdruck, wie die aktuelle Informationspolitik der japanischen Regierung belegt.

Die religiösen Anmutungen deutscher Politiker und Medien führen vor, was den Kritikern der Atomindustrie stets selbstverständlich war - für die zivile Energieerzeugung mit Atomkraft gibt es keine absolute Betriebssicherheit. Zusätzlich zu der Hypothek der ungelösten Endlagerung atomarer Abfälle steht jedem Kernkraftwerk der Welt der "größte anzunehmende Unfall" (GAU) ins Haus. In Japan war man auf Erdbeben der Stärke 8,2 vorbereitet, doch die Katastrophe kam mit einem Mehrfachen dessen, einem Beben Stärke 9,0. Da helfen weder "ein Stück Demut und Ehrfurcht vor der Natur", zu dem Bundeskanzlerin Angela Merkel riet, noch der von Bild am Sonntag verbreitete Aufruf: "Betet für Japan". Die von FDP-Generalsekretär Christian Lindner ausgesprochene Warnung an die Opposition vor der politischen Nutzung dieser Entwicklung übertrifft die Bigotterie anderer Atomkraftbefürworter, indem er tut, was er anderen zu tun vorwirft - dies "wäre pietätlos gegenüber den Opfern in Japan und eine verantwortungslose Instrumentalisierung der Ängste in Deutschland".

Das hätten die Damen und Herren, die das Primat kapitalistischer Produktivität über alles stellen, gerne - nach der Katastrophe nicht nur der Atomindustrie, sondern des sie befeuernden Produktivitätsdogmas sollen sich die Menschen einmal mehr unterwerfen. Wenn die weltliche Herrschaft sich als unfähig erweist, das behauptete Wohl für Mensch und Natur zu realisieren, soll Gott es richten, um nicht auf den naheliegenden Gedanken zu kommen, daß es einer grundlegenden Änderung der Produktions- und Wirtschaftsweise bedarf, um lebenswerte Verhältnisse zu schaffen. Pietätlos gegenüber den Opfern des Erdbebens, Tsunamis und der Verstrahlung ist, nicht über die Gründe nachzudenken, die ihre besondere Exposition gegenüber immer wieder auftretenden Erschütterungen der Erde bedingen.

Japan hätte allen Grund gehabt, nach dem Scheitern der eigenen Kriegspläne und den Atombombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki jeglicher Form von Nukleartechnologie eine Absage zu erteilen, um als Mahnmal gegen jene Hybris zu fungieren, über die nun lamentiert wird, um sich der materialistischen Analyse der Grundlagen dieser Entwicklung in Energieerzeugung und Kriegführung zu entziehen. Japan hat bereits 1954 ein umfangreiches Atomprogramm aufgelegt, ist 1966 mit dem ersten Atomkraftwerk ans Netz gegangen und hat sogar die besonders gefährliche Technologie des schnellen Brüters eingeführt. Was im ersten Schritt wie in den meisten Ländern, die über Kernkraftwerke verfügen, als Abfallprodukt und Nutzungsoption militärischer Art vorangetrieben wurde, sollte insbesondere nach der Ölkrise 1973 der rohstoffarmen und hochproduktiven Volkswirtschaft Japans dazu dienen, seinen Entwicklungspfad als Werkbank und Schraubstock der Welt zu befeuern.

Das dafür eingegangene Risiko, in einem hochgradig von Erdbebengefahr betroffenen Gebiet zahlreiche AKWs zu errichten, wird auch in der jetzigen Berichterstattung als unhinterfragbare Notwendigkeit eines Hochtechnologiestandorts dargestellt, der das Gros seiner Rohstoffe importieren muß. Die Frage, ob nicht über ganz andere, nicht auf Wirtschaftswachstum um jeden Preis abonnierte Lebens- und Gesellschaftsentwürfe nachzudenken wäre, bleibt ungestellt, weil jeder weiß, daß dies die systemischen Grundlagen der kapitalistischen Vergesellschaftung berührte. Die ökonomisch hochentwickelte und weltpolitisch expansive Triade aus USA, EU und Japan hat die Globalisierung maßgeblich vorangetrieben, und das nicht nur zum Preis der verschärften Ausbeutung weniger produktiver Volkswirtschaften. Die totale Ökonomisierung hat die eigenen Gesellschaften einer soziokulturellen Zerstörung preisgegeben, die sich in physischer wie psychischer Zerrüttung, prekarisierten Arbeitsverhältnissen und einer vulgären Massenindoktrination artikuliert. Die Totalisierung der Arbeitsgesellschaft war nicht umsonst ein herausstechendes Merkmal des deutschen Faschismus, galt es doch schon damals, den Menschen auf eine Weise beherrschbar und verfügbar zu machen, die jeden Widerstand gegen die ihm auferlegten Verwertungsimperative in Fabrik und Krieg ausschaltete.

In einem Japan, das erst Mitte des 19. Jahrhunderts zur Moderne aufgeschlossen hat und einen rasanten Aufstieg zur imperialistischen Großmacht vollzog, zeitigt der Bruch zwischen traditioneller Vergemeinschaftung in Familie und Arbeit und Individuation durch wertförmige Zurichtung besonders krasse wie tragische Ergebnisse. Der Preis für einen Platz an der Weltspitze wurde mit einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel nach westlichem Vorbild teuer erkauft und hat zu einer seit 20 Jahren anhaltenden prekären gesamtwirtschaftlichen Lage geführt, die den Zerfall sozialer Gewißheiten noch schneller vorantreibt. Bezeichnenderweise sind die oppositionellen außerparlamentarischen Bewegungen in Japan noch unscheinbarer als in den westlichen Zentren des HighTech-Kapitalismus. Der sprichwörtlichen Bereitschaft der Japaner zur Konsensbildung wurde der Boden durch die reale gesellschaftliche Entwicklung jedoch längst entzogen. Auf den Ruinen Hiroshimas und Nagasakis wurde ein Entwicklungsmodell sozialer Atomisierung errichtet, das in zunehmender Militarisierung, einem die im Zweiten Weltkrieg begangenen Grausamkeiten verharmlosenden Nationalismus, einem die Mehrwertabschöpfung besonders brutal durchsetzenden Arbeitsregime und einer die grellen und dekadenten Formen des Konsumismus favorisierenden Alltagskultur seine adäquaten politischen und gesellschaftlichen Ausdrucksformen findet.

Die mit dieser Katastrophe angestoßenen Transformationspotentiale sind stark genug, um mehr in Frage zu stellen als die Aufrechterhaltung der Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke. Ein in vielerlei Hinsicht mit der Bundesrepublik vergleichbares Land steht vor einer Katastrophe, die eine über die eigene Volkswirtschaft hinausreichend krisenverstärkende Dynamik antreibt und die Legitimität des kapitalistischen Verwertungsprimats erschüttert. Nun gilt es, die Frage nach einer Veränderung der Produktions- und Lebensweise im Sinne einer Abkehr vom Wachstumsprimat stark zu machen und so nachhaltig zu stellen, daß wachstumsideologische Scheinalternativen wie der Green New Deal als Übel vom gleichen Stamm lebensvernichtender Kapitalakkumulation in Erscheinung treten.

13. März 2011