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KULTUR/0858: Antisemitismusvorwurf gegen Sarrazin geht am Kern seines Rassismus vorbei (SB)



Vermeintlich aufgewacht ist die Politik erst, als sie nicht mehr anders konnte. Die von Thilo Sarrazin in einem Interview mit Welt am Sonntag und Berliner Morgenpost gegebene Antwort auf die Frage, ob es "eine genetische Identität" gebe, geriet zum Anlaß, die seit langem fällige Distanzierung von dem Bundesbanker und SPD-Politiker zu vollziehen: "Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden". Was die kollektive Verunglimpfung von Türken, Arabern, Hartz-IV-Empfängern, allesamt "unproduktive" Menschen, von denen sich Berlin zu befreien habe, und das Schüren eines erbbiologisch begründeten Sozialrassismus nicht vermochten, soll mit dieser Aussage gerichtet werden.

Das ist bei aller Notwendigkeit, sich gegen die Instrumentalisierung von Juden und Basken für den Rassismus Sarrazins zu verwahren, so opportunistisch wie die medial vervielfältigte Behauptung, ein Tabubrecher wie er liefere bei aller Antipathie, die man gegen seine Aussagen haben mag, den Anstoß zu einer notwendigen und überfälligen Debatte über Integrationspolitik. Den Sarrazin zugestandenen Freiraum genießen linksradikale Minderheiten schon lange nicht mehr. Die von ihnen gelieferten Anstöße zur zentralen gesellschaftlichen Debatte um den sozialfeindlichen Charakter kapitalistischer Verwertung werden ebenso hermetisch mit dem Extremismusstigma versiegelt wie ihre antimilitaristischen und antirassistischen Aktionen, deren Streitpotential keineswegs mehr Aufmerksamkeit zugestanden werden soll, als sie durch den konfrontativen Charakter der verwendeten Aktionsformen erhalten.

Sarrazin ist die geballte Aufmerksamkeit der Medien sicher, weil er sich als Bannerträger einer neokonservativen Offensive inszeniert, mit der europaweit als auch in Nordamerika die Hegemonie imperialer Eliten sichergestellt werden soll. Das Schüren des antiislamischen Ressentiments erfreut sich unter rechten Kräften großer Beliebtheit, weil in ihm fremdenfeindlicher Rassismus und sozialchauvinistische Stigmatisierung in eins fallen. Den in den Ländern des Nahen und Mittleren Osten geführten Kriegen der NATO-Staaten ist der biologistisch aufgeladene Klassenvorbehalt gegen Migrantinnen und Migranten aus dieser Region äquivalent. Mit ihm wird den vom Absturz ins Elend bedrohten und durch den neoliberalen Strukturwandel verunsicherten Bürgern der westlichen Industriestaaten ein Feind präsentiert, den sie für ihre Misere verantwortlich machen können. Daß die sogenannten Unterschichten und alle überflüssig gemachten Menschen ebenfalls ins Visier dieser sozialrassistischen Offensive geraten, ist Sinn und Zweck einer Polarisierungsstrategie, mit der die Klassengrenzen der neofeudalen Gesellschaft zementiert werden sollen.

Da Sarrazin an vorderster Front zumindest des öffentlich wahrnehmbaren Teils dieser Offensive steht, wurde er trotz erheblicher Provokationen bislang geschont. Seine Maßregelungen versorgungsbedürftiger Menschen, denen er konkrete Anweisungen zur Organisation ihres Mangels erteilt, um ihnen von dem Wenigen, was ihnen verblieben ist, noch mehr nehmen zu können, finden ihren Widerhall in den verächtlichen Stellungnahmen renommierter Politiker, die Hartz-IV-Empfänger unter Generalverdacht parasitären Nutznießes stellen. Als Berliner Finanzsenator hat sich Sarrazin zum Prototyp eines selbstgerechten Staatsbürokratentums entwickelt, das einen wirtschaftsaffinen Leistungsethos predigt, mit dem die Funktionseliten die Exklusivität ihrer Stellung legitimieren und dessen realpolitischer Ertrag im Schutz von Kapitalinteressen besteht. Ausgetragen werden deren Akkumulationsprobleme auf dem Rücken der Menschen, die sich am schlechtesten dagegen wehren können und deren erfolgreiche Maßregelung als Ausweis effizienten staatlichen Krisenmanagements gilt.

Seine Ausfälle gegen ethnische Minderheiten beschränken sich nicht von ungefähr auf Bevölkerungsgruppen, die aus Ländern des islamischen Kulturkreises stammen. Es handelt sich um eine klassische Spaltungsstrategie, mit der diejenigen Teile der Bevölkerung, die aufgrund ihres sozialen Abstiegs den höchsten Bedarf haben, sich ihrer Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv zu versichern, zum Preis des Verzichts darauf, ihre konkrete Widerspruchslage zu erkennen, vereinnahmt werden. Der ihnen als Überlebensausweis schmackhaft gemachte Rassismus lebt von der Verkennung, daß der geringe Abstand, den der Herkunftsdeutsche zum Mitbürger mit Migrationshintergrund hat, einen qualitativen Unterschied beim Ausmaß der zugestandenen Partizipation machte. In dem Versuch, den anderen "Unproduktiven" als gesellschaftlichen Störfaktor zu markieren, verkehrt sich die eigene Subsumierung unter das ökonomische Gewaltverhältnis in die Hoffnung, daß das Problem mit der Herabwürdigung und dem schlußendlichen Vertreiben des anderen zu lösen wäre.

Der sozialeugenische Charakter der Argumentation Sarrazins trat schon im Interview mit Lettre International vom Oktober 2009 so unverhohlen hervor, daß verantwortungsbewußte Politiker allen Grund zu scharfen Reaktionen gehabt hätten. Unter dem programmatischen Titel "Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten" legte Sarrazin ein Plädoyer für die Entsorgung Berlins von jenen "zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden" und die von "Hartz IV und Transferleistungen" leben, vor. Dieser Teil, zu dem Sarrazin eine "große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt", aber auch "einen Teil der deutschen Unterschicht" zählte, müsse sich "auswachsen", sprich der soziale Organismus der Bevölkerung müsse sich von diesem widrigen Fremdkörper befreien. Anders gehe es nicht, denn es gebe "keine Methode, diese Leute vernünftig" - im Sinne ihrer optimalen fremdnützigen Verwertbarkeit - "einzubeziehen". Zu beurteilen, um wie vieles "dümmer" diese Leute "von Generation zu Generation" würden, bedarf es einer Person, die schlauer ist als sie.

Indem er erklärte, "daß menschliche Begabung zu einem Teil sozial bedingt ist, zu einem anderen Teil jedoch erblich", vermittelte Sarrazin gegenüber Lettre International noch den Eindruck einer differenzierten Betrachtungsweise. Seitdem ist der sozialfeindliche Ton schärfer und die biologistische Ausschließungsratio alternativloser geworden. In vorab veröffentlichten Zitaten aus seinem am Montag in Berlin vorgestellten Buch "Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen" heißt es etwa, die "kulturelle Fremdheit muslimischer Migranten könnte relativiert werden, wenn diese Migranten ein besonderes qualifikatorisches oder intellektuelles Potential verhießen. Das ist aber nicht erkennbar."

Von der Kommandohöhe weißer Suprematie herab ordnet Sarrazin die Preisgabe kultureller Eigenständigkeit an, ohne zu fragen, ob die davon betroffenen Muslimas und Muslimen dies überhaupt wollen, um den zur bloßen Produktivitätsressource degradierten Menschen kollektiv das Vermögen abzusprechen, dies überhaupt bewerkstelligen zu können. Sie werden nicht gefragt, man tritt mit ihnen nicht in den Dialog, es wird über sie verfügt. Erschwerend für die unumkehrbar auf den Topf ihrer Unzulänglichkeit gesetzten Migrantinnen und Migranten hinzu kommt Sarrazins Behauptung, daß dieses Manko nicht einmal aus der "durchweg bildungsfernen Herkunft" resultiere, sondern "bei Migranten aus dem Nahen Osten auch genetische Belastungen - bedingt durch die dort übliche Heirat zwischen Verwandten - eine erhebliche Rolle" spielten und "für einen überdurchschnittlich hohen Anteil an verschiedenen Erbkrankheiten" sorgten.

Dies ist nur ein Beispiel von vielen, mit denen Sarrazin den populationsgenetischen Ansatz der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Wissenschaften hegemonialen Eugenik wiederaufleben läßt. Weil diese im NS-Staat zur massenhaften Vernichtung alles menschlichen Lebens führte, das dem "deutschen Volkskörper" - im Falle von Juden, Sinti und Roma - angeblich fremd und feindlich gegenüberstand und - im Falle von Behinderten - eine unproduktive Belastung sein sollte, war die völkisch wie sozialökonomisch determinierte Erbbiologie lange Zeit verpönt. Daß sie heute wieder in den öffentlichen Diskurs vordringt und dort zumindest teilweise als diskussionswürdig erachtet wird, anstatt sie unter Verweis auf ihre selektive und eliminatorische Konsequenz in den angemessenen Kontext einer menschenfeindlichen "Rassehygiene" zu stellen, dokumentiert, wie weit fortgeschritten die Offensive des neokonservativen Sozialrassismus bereits ist.

Ein wesentlicher Grund für die offenkundige Akzeptabilität eugenischen Denkens liegt in der Durchsetzung der vulgärmaterialistischer Sichtweisen der sogenannten Life Sciences. Indem die Frage nach den sozialen und ökonomischen Faktoren der Vergesellschaftung durch das humangenetische Paradigma, laut dem jeder physischen, psychischen und sozialen Malaise eine genetische Disposition vorausgeht, und die neoliberale Ideologie der Eigenverantwortung gegenstandslos gemacht wurde, hat sich das Denken in den Kategorien linker Herrschafts-, Kapitalismus- und Gesellschaftskritik weitgehend verflüchtigt. Wo zweckrationale monokausale Erklärungsmodelle das Bedürfnis nach Antworten auf drängende Fragen befriedigen, haben Demagogen vom Schlage eines Sarrazin leichtes Spiel. Sie bedienen sich des ohnehin hegemonialen, den sozialen Konflikt atomisierenden Diskurses von der individuellen Schuld an allem, was dem in die Passivität des positivistischen Wirklichkeitsprimats getriebenen Menschen widerfährt, und satteln mit Verallgemeinerungen drauf, die das in der sozialdarwinistischen Konkurrenzgesellschaft stets schwärende Ressentiment adressieren.

Schon im Lettre-Interview hatte Sarrazin die Muslimen angelastete Strategie demografischer Verdrängung qualitativ mit dem Argument in ihr Gegenteil verkehrt, daß er ihr durchaus etwas abgewinnen könne, wenn es nicht "Türken" oder "Kosovaren", sondern "osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung". Dies wurde ihm damals ebensowenig als antisemitisch angelastet wie der in seinem Buch enthaltene Verweis auf die jüdischen Ursprünge der Intelligenzforschung und deren Verbot durch die Nazis: "Ich bin auf die deutsch-jüdischen Ursprünge der Intelligenzforschung etwas näher eingegangen, weil die Diskussion der genetischen Komponente von Intelligenz häufig auf große emotionale Widerstände stößt." [1]

Mit dieser Aussage klärt Sarrazin hinlänglich darüber auf, daß er sich des Verweises auf das Judentum bedient, um sich vor dem Vorwurf des eugenischen Rassismus zu schützen. Es erinnert ein wenig an die "jüdischen Vermächtnisse", mit denen hessische CDU-Politiker einst versuchten, Nachfragen zur Herkunft ihrer Parteifinanzen zu verhindern, wenn der SPD-Politiker seine populationsgenetische Argumentation gleich mehrfach mit der Bezugnahme auf Juden zu exkulpieren trachtet. Der dagegen erhobene Vorwurf des Antisemitismus krankt schon daran, daß Sarrazin seinen Aussagen einen philosemitischen Anstrich gibt. Das gilt um so mehr, als daß die Suche nach einem jüdischen Gen israelische Molekularbiologen schon des längeren beschäftigt und ihnen eine führende Stellung bei der humangenetischen Erforschung der Herkunft von Bevölkerungsruppen verschafft hat. So umstritten die Ergebnisse dieser Forschung in Israel waren und sind, so sehr zeugen sie davon, daß sich säkulare Zionisten bei dem Versuch, sich national zu definieren, auch erbbiologischer Argumente bedienten.

Wie der israelische Sozialwissenschaftler Shlomo Sand ausführlich belegt, verfügen israelische Wissenschaftler über eine eigene Geschichte populationsgenetischer und eugenischer Forschung: "Der Zweck der von jüdischen Forschern betriebenen Biologie lag vor allem in der Trennung von den 'Anderen', nicht aber in der Reinigung von ihnen. Sie diente dem Projekt der nationalen 'ethnischen' Vereinigung, nicht der Separation einer reinen Rasse. Sie zielte auf die Errichtung einer scheinbar alten Identität und damit auf die Aneignung einer imaginierten alten Heimat." [2] Mit Sarrazins Behauptung, daß "alle" Juden ein bestimmtes Gen teilten, ginge wohl keiner dieser Forscher konform. Der Vorwurf des Antisemitismus ist lediglich insofern relevant, als Sarrazin an dieser Stelle ebenso verallgemeinert, wie er es tut, wenn er Türken und Arabern pauschal bestimmte Defizite anlastet. So greift der Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, bei seiner Kritik, Sarrazin versuche, Minderheiten zu polarisieren und gegeneinander aufzubringen [3], auch nicht auf ihn zurück.

Es ist ein Zeugnis wenn nicht der geistigen Nähe zum Sozialrassismus Sarrazins, dann zumindest mangelnden politischen Mutes, erst an diesem Punkt zu erklären, daß der Provokateur nun endgültig eine rote Linie übertreten habe. Der sozialeugenische Generalangriff auf ethnische Minderheiten und sozial benachteiligte Menschen ist in vollem Gange, aber es bedarf eines eher philo- denn antisemitischen Anwurfes, um die scheuklappenbewehrten Sachwalter des grundgesetzlichen Gleichheitsgebots und Diskriminierungsverbots scheu zu machen. Erst recht entlegen ist die Frage, was es angesichts der in kapitalistischen Konkurrenzgesellschaften zusehends an den Rand gedrängten Ideale der Demokratie, des Humanismus und der Solidarität mit dem angeblich hohen Wert von Intelligenz [2] auf sich habe. Es bleibt dem Zuhörer des Deutschlandfunks "Hoffmann aus Oldenburg" überlassen, in der Sendung "Kontrovers" (30.08.2010) darauf zu verweisen, daß die Dummheit, anhand derer Sarrazin und seine Parteigänger "unproduktive" Menschen verächtlich machen, erstrebenswerte Qualitäten bergen kann, die den Bilanzbuchhaltern der Vorteilsmaximierung längst abhanden gekommen sind: "Wenn Deutschland dadurch, daß es angeblich immer dümmer wird, auch wirklich menschlicher wird, dann hätte ich überhaupt nichts dagegen. Eine Kette, die ist ja auch immer nur so stabil und so kräftig wie ihr schwächstes Glied. Ich finde es vielleicht sogar wünschenswert, wenn wir dümmer würden".

Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/s/RubBE163169B4324E24BA92AAEB5BDEF0DA/Doc~EE2D543295E12432A8CFFBDA3CE51C3D2~ATpl~Ecommon~Scontent.html

[2] Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand. Berlin 2010, S. 389; siehe auch http://schattenblick.org/infopool/buch/sachbuch/busar514.html

[3] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-08/sarrazin-juden-gene-migration

[4] http://schattenblick.org/infopool/politik/kommen/sele0847.html

30. August 2010