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KULTUR/0831: Am Strom des Geschehens ... Klimagase im "virtuellen Raum" (SB)



Cloud Computing ist in aller Munde, und das nicht nur aufgrund des Versprechens, überall zu jeder Zeit Dienstleistungen datenelektronischer Art aller Art in Anspruch nehmen zu können. Die Auslagerung individueller IKT-Ressourcen in kommerziell betriebene Serversysteme soll die bislang übliche PC-Infrastruktur ablösen und darüber hinaus die nachhaltige Nutzung von Rechnerleistungen fördern. Die Frage der Energieeffizienz ist für die seit Jahren expandierende Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) alles andere als trivial. Wurde zu Beginn des elektronischen Vernetzung gerne der immaterielle Charakter informationstechnischer Dienstleistungen hervorgehoben, so hat der in diesem Sektor besonders rapide wachsende Stromverbrauch dieses Fantasma längst auf die Füße harter physischer Verbrauchsprobleme gestellt.

Mit einem Anteil von über 10 Prozent des allgemeinen Stromverbrauchs, der für IKT-Leistungen in der Bundesrepublik verbraucht wird, erweist sich die schöne neue Datenwelt als nicht nur teuer im Unterhalt, sondern auch als Wachstumsfaktor bei der Emission von Klimagasen. Da rund 60 Prozent dieser Elektrizität in Privathaushalten verbraucht wird, und zwar exklusive der Serverleistungen, die international in Anspruch genommen werden und die ihrerseits den zweitgrößten Posten beim globalen IKT-Energieverbrauch stellen, wird dieses Klimaproblem wesentlich von privaten Nutzerinteressen verursacht. Das jährliche Wachstum um 50 bis 100 Prozent des Datenverkehrsaufkommens ist nicht nur durch die immer größere Durchdringung des Alltags mit Rechnerleistungen bedingt, sondern auch die qualitative Verschiebung des Medienkonsums von textlichen zu audiovisuellen Angeboten. Die Allgegenwart des Mobiltelefons und sein Ausbau zum mobilen Endgerät für Netzdienste aller Art trägt ebenfalls zum ansteigenden Stromverbrauch bei, entfällt doch rund ein Viertel der durch IKT-Leistungen verbrauchten Elektrizität auf die Infrastruktur des immer breitbandiger ausgelegten Mobilfunknetzes.

Nicht einbezogen in die Berechnung des IKT-Stromverbrauchs ist die Produktion der Hardware, die in Anbetracht der Vervielfältigung genutzter Endgeräte ebenfalls zur Umweltbelastung durch Klimagase und darüberhinaus durch die üblichen Faktoren industrieller Produktion beiträgt. Wenn die Umweltschutzorganisation Greenpeace nun in der Ende März veröffentlichten Studie "Make IT Green - Cloud Computing and its Contribution to Climate Change" warnt, daß sich die rechnerbedingten Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2020 weltweit etwa verdoppeln, während sie sich im Bereich des Cloud Computing durch die wachsende Nutzung sozialer Netzwerke und Videoübertragungen bis zum Jahr 2020 sogar verdreifachen werden, dann wird der umweltschonende Charakter der "Wolke" durch ihr besonders intensives Anzapfen wieder in Frage gestellt. Selbst wenn einige Verbrauchsfaktoren durch intelligentere Distribution ersatzlos wegfielen und energieeffiziente Lösungen für allgemein verfügbare Rechnerleistungen umgesetzt würden, bliebe es bei einem immensen, von der IKT-Industrie nach Kräften geförderten Wachstum der insgesamt in Anspruch genommenen datenelektronischen Leistungen.

Während die Autoren des Greenpeace-Berichts an die IKT-Branche appellieren, stärker auf erneuerbare Energiequellen zu setzen und mit ihrem politischen Einfluß auf die Verabschiedung wirksamer Klimaschutzgesetze zu drängen, bleibt die Frage, ob der konkrete Gebrauchswert der IKT-Leistungen für den einzelnen ein solches Wachstumsproblem rechtfertigt, offen. Da es sich bei der mikroelektronischen Produktionsweise um eine Innovation großen Stils handelt, die nicht nur kulturellen Errungenschaften ihren digitalen Stempel aufdrückt, sondern die kapitalistische Produktivität generell beschleunigt und rationalisiert, verfügt sie über eine ihr gemäße Logik sozialer Transformation. So werden mit permanent verfügbaren Kommunikations- und Informationsdiensten menschliche Potentiale besetzt, die ansonsten auf weniger kontrollierbare Weise in Erscheinung treten könnten. Das ist schon deshalb erforderlich, weil die in Industrie und Verwaltung durch extensiven Rechnereinsatz erzielten Rationalisierungseffekte Lohnarbeit unwiderbringlich vernichten und damit soziale Probleme erzeugen, die nicht nur aus materieller Verarmung, sondern auch aus dem Verlust an sinnstiftender Identität entstehen.

Hier kann der Konsum eines elektronischen Soma den ganz handfesten Nutzen der Befriedung überflüssig gemachter Menschenmassen hervorbringen. Doch auch Erwerbstätige werden durch die Allgegenwart elektronischer Agenten auf eine Weise eingebunden, die verbliebene Widerstandspotentiale eher neutralisiert, als daß sie zu einem erhöhten Organisationsgrad des Kampfes um bessere Arbeitsbedingungen und Löhne führte. Der Abbau vertraglich gesicherter Arbeitsplätze zugunsten einer informellen Jobkultur wird durch die permanente informationstechnische Verfügbarkeit der Erwerbstätigen begünstigt, zudem erhöht die in Eigenleistung zu erwirtschaftende und aktualisierende Qualifikation im Umgang mit IKT-Geräten und -Oberflächen den Wirkungsgrad der Lohnarbeit für die Unternehmen.

Die Atomisierung der Angestellten und Arbeiter hat in der programmatischen, bisweilen autistische Züge annehmenden Me-, My-, Mc- und Ich-Isolation der Netzwelt in Kollaboration mit Sozialabbau, Unterbezahlung und neoliberaler Konkurrenzdoktrin eine historische Schwäche der Lohnabhängigen bewirkt, die durch die in den sozialen Netzwerken vermeintlich erfolgende Aufhebung der Vereinzelung keinesfalls kompensiert wird. Der expandierende Medienkonsum fungiert mithin auch als Regulativ eines Klassenwiderspruchs, der am wirksamsten durch eine Kultur permanenter Reizbindung überspielt werden kann, die den Eindruck hervorruft, niemals allein, weil ständig an den Strom des Geschehens angeschlossen zu sein.

In einem systemischen Sinne betrachtet zeitigt der wachsende Energieverbrauch der IKT Nutzeffekte, die ebensowenig in die Berechnung der Klimarelevanz dieser Entwicklung einbezogen werden wie die Frage, ob dem Menschen im Sinne seines gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritts damit gedient ist, sich in dem Ausmaß elektronischer Prothesen zu bedienen, wie es die beschleunigten Innovationszyklen mikroelektronischer Produktivität verlangen. So bildet sich hier ein ähnliches Mißverhältnis zwischen virtuell und materiell verwertbarer Produktivität ab, als es bei der finanzkapitalistischen Kompensation der industriellen Überproduktionskrise der Fall ist. Eine elementare Bedrohung wie die des Klimawandels wird sich nicht abwenden lassen, wenn man die sozialen und gesellschaftlichen Triebkräfte des Kapitalismus nicht in die Schadensanalyse und -bewältigung miteinbezieht.

31. März 2010