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KULTUR/0824: Bourgeoiser Lebensüberdruß gegen "Überflüssige" gewendet (SB)



Gibt es ein Leben vor dem Tod? Diese auf die Befreiung des Menschen im Diesseits abzielende Frage wird im Zeitalter postmoderner Subjektlosigkeit zusehends damit beantwortet, daß der Mensch als bloßes Lehen seiner gesellschaftlichen Umstände Erfüllung nur in Übereinstimmung mit diesen findet. Mit schwindendem produktiven Ertrag gerät der alternde Homo oeconomicus daher in wachsende Not, sich für sein Dasein zu rechtfertigen. Allein deshalb zu leben, weil man gegenüber sozialer Diskriminierung, physischer Schwäche, ökonomischer Not und existentiellen Zweifeln nicht kapitulieren will, wird als Antithese aller Zuschreibungen positiver Identität durch keinen moralischen Anspruch gedeckt. Die anhand der bioethischen Abstraktion sozialer Bedürfnisse erstellte Bewertung, über keinen Benefit mehr zu verfügen, erlegt alten Menschen eine kaum zu erbringende Beweispflicht zur Unverzichtbarkeit ihres Lebens auf. Wer sich mit dem Argument, daß derartige Qualitätsparameter zu dem Zweck ihrer fremdnützigen Ermächtigung definiert werden, gegen den Tötungszwang verwahrt, bedarf einer Streitbarkeit, die die meisten nicht einmal in ihren vitalsten Jahren aufbringen.

So fördert die Krise des Kapitalismus einen dekadenten Lebensüberdruß zutage, der adressiert werden muß, wenn man nicht an ihm zugrundegehen will. Die Erfolgsbiografien kehren sich gegen die Personen, die sich mit ihnen schmücken, eben weil sie ausschließlich durch die Augen der anderen betrachtet werden. Das Streben danach, Kontrolle über seine Lebensumstände zu erhalten, erweist sich mit der Zunahme physischer Delinquenz als verhängnisvolle Verkennung stets fremdbestimmter Verhältnisse. Um sich nicht den Problemen des vergesellschafteten Menschen stellen zu müssen, erscheint der Ausweg in den vorzeitigen Tod als ultimative Lösung. Daß sich in dieser Flucht lediglich bündelt, was stets unabgegolten war, begreifen diejenigen am besten, die die imaginierte Unabhängigkeit bürgerlicher Existenz schon aus ihrer subalternen Situation heraus niemals mit kreatürlicher Freiheit verwechselt haben. Desto mehr erliegt der Bourgeois dem Angebot, menschliche Flüchtigkeit und Nichtigkeit damit zu rationalisieren, daß man sie anderen zum Verhängnis werden läßt.

Der Trugschluß der Verfechter aktiver Sterbehilfe liegt mithin darin, den Rechtsanspruch auf fremde Hilfe bei der Selbsttötung mit der Freiheit zu verwechseln, dies unter allen Umständen gegen jegliche Konvention tun zu können, wenn man es nur wirklich will. Die gesetzliche und medizinische Legalisierung der Euthanasie verkürzt die unterstellte Zwangslage, ohne Berechtigung zu fremder Hilfe keinen Freitod begehen zu können, auf einen Sachzwang, dessen Verselbständigung zur sozialpolitischen Entsorgungsmaßnahme vorprogrammiert ist.

So verlangt der bekannte britische Schriftsteller Martin Amis die Einführung öffentlicher "Euthanasiehäuschen", in denen alte Menschen sich mit einem letal aufgeladenen Martini den Rest geben können. Die allgemeine Einführung leicht verfügbarer Mittel zum vorzeitigen Ableben ist seiner Ansicht nach notwendig, um einen Bürgerkrieg zwischen jung und alt zu verhindern, der dem Anbranden eines "silbernen Tsunamis" dementer Greise geschuldet wäre. Wenn diese "wie eine Invasion fürchterlicher Einwanderer" über die britische Gesellschaft hereinbrächen, so daß jüngere Bürger von "ihrem Gestank aus den Restaurants, Cafes und Läden" vertrieben würden (guardian.co.uk, 24.01.2010), dann wären Einrichtungen dieser Art unausweichlich, so der sein gestörtes ästhetisches Empfinden zum Anlaß für einen massenmörderischen Utilitarismus erhebende Literat.

Amis hat diese Forderung erst auf Nachfrage des Guardian als "satirisch" bezeichnet, dafür aber umfassend mit dem Überwiegen einer "negativen" Lebensqualität begründet. Daß er von der britischen Sterbehilfeorganisation Dignity in Dying unterstützt wird und sogleich eine erregte Debatte losgetreten hat, zeigt, daß seine Vorstellungen von der Institutionalisierung vorzeitigen Ablebens nicht so abwegig sind, wie sie sich anhören mögen. Da es seine Gegnern versäumen, die Forderung nach Legalisierung der Euthanasie als bloße Ablenkung vom sozialen Problem unzureichender Lebensressourcen zu kritisieren, und da die Debatte auf ihre moralischen Implikationen beschränkt bleibt, könnte die Todesverliebtheit dieses Intellektuellen durchaus Schule machen.

Sein Ekel vor dem Alter ist signifikant für eine bourgeoise Menschenfeindlichkeit, die in seinem Fall insbesondere Muslime zu spüren bekommen, die immer wieder Ziel seiner antiislamischen Ausfälle werden. So hat Amis ihnen vor vier Jahren gewünscht, sie sollten unter Abschiebungen, Freiheitseinschränkungen und Leibesvisitiationen "leiden, bis sie ihr Haus in Ordnung gebracht haben". Daß der in den Katalog sozialpolitischer Kriterien aufgenommene "Lebensunwert" der Euthanasiebefürworter keinesfalls auf Alte und Kranke beschränkt bleiben muß, sondern die Ausgrenzungsstrategien des postmodernen Kapitalismus mit mörderischer Finalität auflädt, bedarf keiner weiteren Ausführung. Die Frage, ob es ein Leben vor dem Tod gibt, kämpferisch mit Ja zu beantworten, wird um so dringlicher, als die sozialtechnokratisch angewiesene Vernichtung "überflüssigen" Lebens sich als Regulativ kapitalistischer Mangelproduktion anbietet.

26. Januar 2010