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KULTUR/0820: Dekade staatlicher Ermächtigung ... Terrorkrieg, Menschennot (SB)



Mit dem Jugoslawienkrieg wurde 1999 ganz praktisch demonstriert, was der damalige NATO-Generalsekretär Lord George Robertson auf der Herbsttagung der Militärallianz auf die Aussage verkürzte, daß die "Friedensdividende" der Wendezeit nun endgültig aufgebraucht sei. Der Paradigmenwechsel, die Ära des Kalten Kriegs in eine Epoche des Heißen Friedens überzuführen, hatte mit dem Irakkrieg 1991 begonnen. Indem versucht wurde, der Bevölkerung des Landes durch die systematische Zerstörung seiner zivilen Infrastruktur die Lebensgrundlage zu entziehen, kündete sich bereits der soziale Charakter der neuen Kriegführung an. Noch vor dem Jahrtausendwechsel konnte mit der neuen Rolle der NATO als globaler Gewaltakteur, mit der nicht nur die eigenen Vertragsgrundlagen, sondern auch das Völkerrecht negiert wurde, und der zu dieser Zeit begonnenen Militarisierung der EU Vollzug gemeldet werden.

Das mit dem Wegfall der Sowjetunion entstandene Legitimationsdefizit wurde durch einen Gegner kompensiert, der den Vorteil hatte, überall und nirgends verortet werden zu können. Kriege konnten als Polizeioperationen geführt werden, während die innere Sicherheit deutliche Züge einer permanenten Kriegführung gegen einen unsichtbaren Feind annahm. Als Chiffre für die generelle Verdächtigung der eigenen Bevölkerung eignete sich der Terrorismus in besonderer Weise dazu, Maßnahmen staatlicher Repression durchzusetzen, die in ihrer originären Intention ohne weiteres als Herrschaftsicherung im Interesse der Kapitalmacht zu erkennen gewesen wären.

Wenn heute auf die zuendegehende Dekade zurückgeblickt wird, wird das Datum des 11. September 2001 gerne als Beginn des Krieges gegen den Terrorismus genannt. Tatsächlich war dieser zuvor in vollem Gange, allerdings bedurfte es noch eines größeren Schadensfalls, um seine Gültigkeit zu verifizieren und den Terrorkrieg zum hegemonialen Projekt zu machen. Zu diesem Zweck besann man sich auf die archaische Symbolkraft des Jahrtausendwechsels und schürte Endzeitängste, als hätten sich die Regierungen westlicher Demokratien in apokalyptische Kulte verwandelt.

So gab die US-Regierung Mitte Dezember 1999 eine weltweit gültige Terrorwarnung an alle US-Bürger aus. Sie sollten "glaubhaften Informationen" zufolge, wo auch immer sie stehen und gehen, insbesondere jedoch bei großen Feiern und Zusammenkünften wie zu Sylvester, von terroristischen Anschlägen bedroht sein. Schon damals war Osama bin Laden in aller Munde, wollte dieser angeblich auf sagenhaften Schätzen hockende Superschurke doch reiselustigen US-Bürgern die Jahrtausendwende madig machen. Das US-Außenministerium empfahl seinen Bürgern daher, daß sie, wenn sie schon ins Ausland reisten, dort so unamerikanisch wie nur möglich auftreten sollten, um den antiamerikanischen Terroristen keine leichte Beute zu sein. Im Grunde genommen meinte das State Department, daß es ausreicht, die Welt mit US-Filmen und -Bombern zu behelligen, während die eigenen Bürger lieber vor dem heimischen Fernseher erleben sollten, wie heimtückische, ihre Sprengstoffgürtel unter wallenden Gewändern verbergende Untermenschen von muskelbepackten Terminatoren per aus der Hüfte abgefeuertem MG niedergemäht werden. Mit einem sich zum Jahresende hin zu einem lärmenden Crescendo steigernden Terroralarmismus sorgte die US-Regierung dafür, daß nichts so wahrscheinlich erschien wie der unwahrscheinliche Fall, nicht bei einem Autounfall oder Herzinfarkt, sondern bei einem terroristischen Anschlag zu sterben.

Auch in Britannien malte man das anbrechende neue Jahrtausend in den düstersten Farben terroristischer Bedrohung. So wurde die Innenstadt Londons zur Jahreswende wegen angeblich zu erwartender Anschläge in eine "no-go area" verwandelt. Islamistische Fundamentalisten, irische Terrroristen und fanatische Selbstmordsekten wurden aufgeboten, um den Briten eine Kostprobe des Polizeistaats zu vermitteln, der zehn Jahre später monströse Ausmaße annehmen sollte. Auf drei Militärstützpunkten rund um die Stadt wurden die Truppen in Alarmbereitschaft versetzt, alle Brücken über die Themse und alle Fahrzeugtunnel unter ihr wurden geschlossen sein, auf dem Fluß patrouillierten mehrere Dutzend Polizeischiffe, und Eliteeinheiten der Marine warteten auf ihren Einsatzbefehl.

Zwar passierte zum Jahrtausendwechsel nichts von alledem, was wochenlang zuvor als drohendes Menetekel an die Wand der Medienpropaganda gemalt wurde. Das hielt die US-Sicherheitsbehörden und -Geheimdienste jedoch nicht von der Empfehlung ab, den hohen Alarmzustand ersteinmal aufrechtzuerhalten. Es sei zwar alles gutgegangen, und man habe auch keine konkreten Hinweise auf Terrorakte gehabt, es wäre jedoch immer noch möglich, daß etwas geschehe, so die wenig plausible und daher ihrerseits bedrohliche Aussage der US-Behörden. Man wollte sich von dem einmal erreichten Niveau staatlicher Ermächtigung nicht mehr trennen, doch es sollte noch fast 20 Monate dauern, bis die Millenniumsblase mit Zeitverzögerung explodierte, um dem modernen Sicherheitsstaat endlich uneingeschränkten Zugriff auf den Produktivfaktor Terrorismus zu gewähren.

Der Schattenblick würdigte dieses Ereignis am 12. September 2001 mit einer Datierung, die angesichts der symbolischen Wucht des Ereignisses nach wie vor relevant ist:


HEGEMONIE/439: Tag Eins der Neuen Weltordnung

So, wie westliche Historiker das "kurze" 20. Jahrhundert gerne in den Zeitraum von 1917 bis 1990 fassen, so läßt sich der politische Beginn des neuen Milleniums auf den 11. September 2001 datieren. Mit ihm hat sich die vom Vater des heutigen US-Präsidenten George W. Bush während des Zweiten Golfkriegs proklamierte Neue Weltordnung endgültig konstituiert. Die neunziger Jahre darf man demgemäß als Übergangsperiode verstehen, in der das Zeitalter der Nationalstaaten und des Systemwettstreits zwischen Sowjetunion und USA in die Ära einer nicht mehr internationalen, sondern supranationalen Gleichschaltung unter dem Banner der westlichen Wertegemeinschaft und kapitalistischen Weltwirtschaft vollzogen wurde.

Die sichtbaren Merkmale dieses Übergangs bestehen in der Demontage des klassischen Völkerrechts, das einem Interventionismus Platz gemacht hat, der auf dem besten Wege ist, selbst das fadenscheinige Gewebe des humanitären Vorwands zugunsten des Arguments des größeren Knüppels abzustreifen, in der Karriere des Prinzips Marktwirtschaft zum monolithischen Dogma, das den Raub am andern in das Prinzip der Produktivität um jeden Preis, allem voran dem der Konkurrenz, verwandelt hat, und in der Elimination umfassender politischer Kritikfähigkeit zugunsten des alles übertönenden Klapperns elektronischer Register, die jede geistige Tätigkeit dem Verwertungszwang der Wissensgesellschaft unterwerfen. Dabei sind die Lebensbedingungen vieler Menschen schlechter geworden, während die versprochene Friedensdividende von Anfang an in die Sicherung stabiler hierarchischer Sozialverhältnisse gesteckt wurde.

Mit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington haben sich die zum Jahreswechsel 2000 laut gewordenen Warnungen vor einer terrroristischen Offensive auf die Vereinigten Staaten übererfüllt. Das Menetekel einer Rückkehr des Krieges in die Erste Welt, das bereits drohte, aufgrund nichteingetretener Prognosen zur Schimäre bürokratischer Wichtigtuerei zu verkommen, hat sich in einer Weise bewahrheitet, deren Sprengkraft weit über die der realen physischen Zerstörung hinausgeht. Die Administrationen und Sicherheitsbehörden der westlichen Welt verfügen nun über Optionen politischer Umgestaltung, wie es sie mindestens seit 1990 nicht mehr gegeben hat, und sie werden sie zweifellos in dem vielfach geltend gemachten Sinne eines entschlosseneren Kampfes gegen den sogenannten Terrorismus nutzen.

Da dieser, wie die Sicherheitsexperten seit Jahren betonen, schon längst nicht mehr alleine militärische Einrichtungen oder Regierungsbehörden bedroht, sondern praktisch an jeder Stelle der hochorganisierten Industriestaaten zuschlagen kann, gibt es keinen Bereich der Gesellschaft, der von dem nun ausgerufenen politischen Paradigmenwechsel nicht betroffen wäre. Auf der einen Seite "Eine Welt", so Bundeskanzler Schröder über die nun um so mehr zur Schicksalsgemeinschaft zusammengeschmiedete Bevölkerung der westlichen Welt, deren Interdependenz so hochgradig sein soll, daß ihre Verletzlichkeit angeblich größer denn je ist, auf der anderen Seite praktisch unsichtbare Angreifer, die die hochentwickelte Maschinerie gegen sich selbst ausspielen - dieses Szenario verlangt nach jener starken Medizin, die in den Labors der Sozialtechnokraten zwar schon lange bereitliegt, jedoch aufgrund ihrer Toxizität für konventionelle Verfassungsgrundlagen bislang nur bedingt eingesetzt wurde.

Der ehemalige US-Außenminister James Baker, ein politischer Veteran aus der Amtszeit Bush seniors und Architekt der Golfkriegsallianz, behauptet, diese politischen Vorgaben hätten die Hände der USA hinter ihrem Rücken gefesselt, nun sei es jedoch an der Zeit, sie loszubinden und die Handschuhe auszuziehen, um die Feinde des Landes zu bestrafen. Diese exemplarische Stimme steht für die große Gruppe der Politiker, die nun die Stunde für gekommen halten, die bereits ausgiebig prognostizierte Zukunft autoritärer Staatlichkeit in die Tat umzusetzen.

Hatten die Sicherheitsbehörden ihren Anspruch auf größere Budgetierung und schärfere Gesetze bisher durch die bloße Bedrohung begründet, so kann man ihn nun durch die Katastrophe von New York und Washington untermauern. Das gleiche gilt für die hegemonialen Pläne der Länder des Nordens, deren "proaktive" Stabilitätsdoktrin nicht mehr nur durch "robuste" Interventionen, sondern durch die administrative Ausrichtung der Gesellschaften auf das Primat ihrer Abwehrkraft hin durchzusetzen ist. Daß die Politik der harten Hand und des ökonomischen Mangels in erster Linie die Voraussetzungen dieser Eskalation geschaffen hat, taucht im Pragmatismus der Sachzwangdynamik nicht auf.


Eine abschließende Untersuchung der vielen Ungereimtheiten und Widersprüche, von denen die offizielle Version der Vorbereitung und Ausführung der Anschläge des 11. September 2001 behaftet ist, erübrigt sich. Wer daran rührt, wird mit dem Stigma des "Verschwörungstheoretikers" als unseriöser Fantast diffamiert, so daß 9/11 den Status eines Axioms erlangt hat, mit Hilfe dessen die Durchsetzung neuer Sicherheitsmaßnahmen unhinterfragbar gemacht wurde. Die Aufrechterhaltung der terroristischen Bedrohung wird nicht zuletzt durch die Entkopplung der angeblich gegen sie gerichteten Kriegführung von jeglichem kausalem Zusammenhang zu neuen Anschlägen terroristischer Art gewährleistet. Sicherheit ist zur selbstevidenten Notwendigkeit, ja zur Ware einer globalen Industrie geworden, die das Szenario der Aufstandsbekämpfung von den Protektoraten der Neuen Weltordnung auf die Metropolenregionen nicht nur der westlichen Welt, sondern auch der großen Schwellenstaaten überträgt. Die Mangelproduktion des kapitalistischen Weltsystems erzeugt überall Heerscharen eines verelendeten Subproletariats, das mit Überwachungsapparaten observiert und mit Selektionsmechanismen ausgegrenzt wird, deren Effizienz sich vorzustellen die Autoren klassischer Dystopien wie "1984" oder "Schöne neue Welt" kaum in der Lage waren.

Der Transformation demokratischer Gesellschaften in panoptische Kontrollregimes entspricht die immer offener zutage tretende Delegitimierung des herrschenden Akkumulationsregimes. Zum Ende der Dekade hat die Weltwirtschaftskrise Ausmaße angenommen, die die Aussicht auf die Rückkehr zu einem Wohlstandsniveau, wie es in der Bundesrepublik in den sechziger und siebziger Jahren existierte, vollends zunichte gemacht hat. An die Stelle sozialdemokratischer Solidarsysteme treten sozialdarwinistische Bezichtigungskonstrukte, die den von Armut betroffenen Menschen in die Mündigkeit selbstverschuldeten Elends entlassen, so daß ihm das Primat der Eigenverantwortung als Zwangsverhältnis auferlegt werden kann. Zum ökonomischen Krisenmanagement sollen alle ihren Teil beitragen, indem sie sich mit jeder Faser ihres Leibes in die etablierte Verwertungsordnung einspeisen, so fern sie nichts anderes als ihre Arbeitskraft zu Markte zu tragen haben. Die Konsolidierung der Kapitalmacht wird der verbreiteten Legende, daß sich mit politischen Mitteln immer weniger bewegen lasse, zuwider auf den Bahnen einer supranationalen Ordnungspolitik organisiert, die gegenüber den davon benachteiligten Massen zum Naturzwang erhoben wird.

Die Kopenhagener Klimakonferenz beendet die politische Dekade denn auch mit einem überaus passenden Schlußakkord. Nachdem die führenden Regierungen bereits bewiesen haben, daß keine soziale Katastrophe so schlimm sein kann, als daß sie grundlegende Veränderungen am kapitalistischen Akkumulationsmodell rechtfertigte, demonstrierten sie gegenüber den armen Bevölkerungen der Welt Einigkeit im Interesse daran, dem Wachstumsprimat eine anwachsende Zahl von verhungernden, verdurstenden, an vermeidbaren Krankheiten zugrunde gehenden, aus ihren Siedlungsgebieten vertriebenen und mit kriegerischer Gewalt vernichteten Menschen zu opfern. Dieses Bekenntnis auf nationale Egoismen zurückzuführen ist eine bequeme Ausrede, wurde dieses Resultat doch mit einer Übereinstimmung erzielt, die typischerweise besonders leicht herzustellen ist, wenn sie zu Lasten Dritter geht.

Die menschenfeindliche Praxis einer ökonomischen Ordnung, die für Hungerlöhne in armen Ländern produzieren läßt, während sie die Erwerbstätigen der reichen Länder durch die Vernichtung von Lohnarbeit unter Druck setzt, die Volkswirtschaften mit niedriger Produktivität dem Preisdruck globaler Märkte öffnet, um sich ihre Ressourcen anzueignen, die den ökologischen Schaden des Luxuskonsums zu einer Ware erklärt, deren Gebrauchswert darin besteht, die Opfer des Raubbaus für alle Zeiten auf dieses Schicksal festzuschreiben, die die sozialen Kosten der Kapitalakkumulation vergesellschaftet, während sie die Gewinne privatisiert, hat die Widerspruchsdynamik des Kapitalverhältnisses derart verschärft, daß ideologische Verblendung alleine nicht mehr ausreicht, um die Menschen gefügig zu machen.

Zuerst wurde der Globale Krieg gegen den Terrorismus mit der Bezichtigung der islamischen Welt, aus Gründen zivilisatorischer Rückständigkeit Schuld an den neuen Kriegen zu sein, seiner imperialistischen Triebkräfte enthoben. Da spätestens mit Kopenhagen deutlich geworden ist, daß das globale Krisenmanagement systematisch Gewinner und Verlierer produziert, erweist sich dieser vermeintliche Kulturkampf als Oberflächenphänomen einer sozialen Konfrontation, in der die territoriale Einteilung der Welt in Regionen höheren Lebensstandards und notdürftiger Elendsverwaltung mit dem quer durch alle Gesellschaften geführten Sozialkampf in eins fällt.

Auch in reichen Ländern wie der Bundesrepublik werden immer mehr Menschen feststellen, daß der massenmedial vermittelte Eindruck, der Verlierer sei immer der andere, nicht zutrifft. Die Bezichtigung der Migranten und Muslime, der Obdachlosen und Langzeitarbeitslosen wird schrittweise auf andere Gruppen der Bevölkerung ausgedehnt, um einen Anpassungsdruck zu erzeugen, der die zulässige Normabweichung immer enger faßt et vice versa. Sicherheit wird letztlich zu einem Kriterium der Lebensführung, deren Delinquenz man mit biomedizinischen und soziobiologischen Prognosen feststellt, bevor der Proband auch nur auf den Gedanken kommt, daß eine andere Welt möglich ist.

29. Dezember 2009