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KULTUR/0775: Wer Nichtverstehen reklamiert, schützt seine Anteile (SB)



Im Gedenkgottesdienst für die Toten von Winnenden behauptete der Pastor, der die Andacht leitete, daß das Geschehen nicht zu verstehen sei. Er ist mit dieser Ansicht nicht alleine, sondern verdichtet sie lediglich für den klerikalen Gebrauch zu dem frommen Appell, mehr Demut und weniger Hoffart walten zu lassen. Doch was meint der Gottesmann mit "verstehen"? Stellt er die Behauptung auf, daß die Mordtat so irrational wäre, daß man ihre Motive und Gründe schlicht nicht nachvollziehen könne? Beklagt er einen nicht zu kittenden Bruch im Ordnungsgefüge des bürgerlichen Lebens, obwohl dies längst von Bruchlinien durchzogen und von zersetzenden Kräften belagert wird?

Mit der nach Winnenden häufig zu vernehmenden Behauptung, das Geschehen sei unfaßbar und eben nicht zu begreifen, wird eine Grenze geistigen Vermögens gezogen, hinter der gar nicht erst versucht wird, das Potential an intellektueller Befähigung auch nur im Ansatz auszuloten. Allein deshalb, weil man sich etwas aus Mangel an eigener Erfahrung heraus nicht vorstellen kann, ist es noch nicht unbegreifbar geworden. Der Anspruch auf ein Verstehen, das mit schnellen Antworten zufriedenstellt, basiert auf dem Verzicht auf Fragen, die tatsächlich weiterführen, eben weil sie sich nicht mit Lösungen zufriedengeben, die allein dem Zweck dienen, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.

Die intellektuelle Bescheidenheit, die sich in dem Verzicht auf hartnäckiges Nachfragen ausdrückt, ist allemal erwünscht, weil sie mit der zuverlässigen Beherrschbarkeit des Menschen synonym ist. Die Befriedigung, auf jedem Topf einen passenden Deckel zu wissen, meint einen Frieden, der nicht mit Abwesenheit von Gewalt gleichzusetzen ist, sondern mit ihrer Einhegung im Sinne herrschender Interessen. Während ein plötzlicher Ausbruch massiver Gewalt mitten aus gutbürgerlicher Anständigkeit heraus die Gemüter zutiefst irritiert, werden Widersprüche wie die krasse materielle Ungleichheit in der Gesellschaft, der angeblich aus der Gier einiger Manager und Kapitaleigner erfolgende Zusammenbruch der Weltwirtschaft, die armutsbedingte Katastrophe des alltäglichen Sterbens Zehntausender Menschen, die Kriegführung gegen Menschen, die, wie es entschuldigend heißt, zur falschen Zeit am falschen Ort waren, oder die schlichte Tatsache, daß die Liebe zu den Tieren bei den meisten über den Magen führt, ohne weiteres in nämliche Wohlanständigkeit integriert.

Das gilt auch für den individuellen Lebenshorizont, in dem das ganze Pandämonium von Verrat, Betrug und Niedertracht im kleinsten Kreis der nächsten Menschen zutage treten kann. Die ebenfalls mit "Fassungslosigkeit" quittierten Tragödien, bei denen ganze Familien das eigene Scheitern mit dem Leben bezahlen, sind allerdings so alltäglich, daß kaum noch großes Aufheben um sie gemacht wird. Zweifellos jedoch können sich zwischen Menschen, gerade wenn sie sich sehr nahe stehen, Dinge abspielen, die die Fassade des übersichtlichen und kalkulierbaren Lebens nicht wirksamer als solche exponieren könnten.

Daher handelt es sich bei der fast schon verzweifelten Suche nach Motiven, mit denen die Bluttat von Winnenden unter nämlichem Deckel einer mit Eifersucht, Rachsucht oder psychopathologischer Abweichung erklärbaren Tragödie versteckt werden könnte, um die säkulare Entsprechung zum Stoßseufzer ob der Unergründlichkeit der Wege des Herren. Die angebotenen Erklärungen sollen strikt im Rahmen individualpsychologischer Kausalität verbleiben, also von den eigenen Abgründen wirksam abstrahieren und nicht etwa in einem bürgerlichen Umfeld sozialer Grausamkeit und politischer Reaktion verortet werden, das Mord und Totschlag so zuverlässig produziert, wie es die demografische Reproduktion gewährleistet.

Das Gefüge der Ordnung muß unter allen Umständen wiederhergestellt werden, was nicht bedeutet, daß es in jeder Beziehung widerspruchsfrei sein müßte. Die Inkohärenz zwischen moralischem Anspruch und seiner gesellschaftlichen Pervertierung, zwischen grundrechtlicher Regel und ihrer herrschaftstechnischen Beugung wird so lange akzeptiert, als die eigene Beteiligung an den daraus resultierenden Vorteilen die anomische Praxis mit dem Segen sachzwanggenerierter Unvermeidlichkeit heiligt. Wo der persönliche Nutzen, wie etwa im Fall von Langzeitarbeitslosen oder Behinderten, nicht mehr gegeben ist, da greifen Ausgrenzungsmechanismen, die den Betroffenen die Stimme nehmen und sie erst recht auf sich selbst zurückwerfen.

Wer das Aufbrechen latenter Widerspruchslagen mit dem Postulat der Unbegreiflichkeit von sich weist, tut nichts anderes, als seine Anteile an dem blutigen Geschäft, das jede Gesellschaft antreibt, die auf irgendeine Weise zu Lasten anderer Menschen oder Kreaturen lebt, zu schützen. Die zahlreichen Möglichkeiten, sich einem solchen Problem anzunähern, haben den schon aus weiter Ferne zu riechenden Nachteil, daß das Scheitern des andern immer auch das Scheitern des Menschen als Gattungswesen bedeutet. Da die individuelle Befindlichkeit um die Not eigener Leiblichkeit und deren Aufhebung kreist, fällt die unterstellte Verschiedenheit der Menschen in dem Maße in eins, in dem sie auf Basis des Gleichen, also der Vergleichbarkeit, postuliert werden kann.

Kurz gesagt, man ist vom andern Menschen nicht so getrennt, wie man es gerne hätte, gerade weil man ihm so nahe kommen kann, wie man es fürchtet. Schmerzen sind universell, denn jeder versteht ihre Unausweichlichkeit, und Bluttaten wie die von Winnenden sind für alle Beteiligten in höchstem Maße schmerzvoll. Wer vor diesem Hintergrund Nichtverstehen reklamiert, unterwirft sich dem Prinzip des Teilens und Herrschens und leistet damit einen Tribut ab, der ihm in Form von physischer Trägheit und geistiger Bescheidenheit auf die Füße fällt.

14. März 2009