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REPRESSION/1695: Türkei - chaotische Reflexe ... (SB)



Kein Virus ist stärker als die Türkei
Recep Tayyip Erdogan noch vor wenigen Wochen [1]

Das Präsidialsystem Recep Tayyip Erdogans in der Türkei gründet auf einem zusehends wegbrechenden Wohlstandsversprechen und massiver Repression gegen jegliche Opposition. Selbst die Sicherheitsgarantien des Regimes für den ihm ergebenen Teil der Bevölkerung erweisen sich angesichts der Coronapandemie als Makulatur, da die Regierung nicht dem entschiedenen Kampf gegen die Ausbreitung der Seuche höchste Priorität einräumt, sondern die Krise in erster Linie dazu nutzt, ihren Machterhalt zu sichern. Erdogan, der alle maßgeblichen Entscheidungen trifft, setzt insbesondere darauf, die Wirtschaft weiterlaufen zu lassen, um den seit langem drohenden Zusammenbruch der Ökonomie abzuwenden. Diese Generallinie schließt ein umfassendes Konzept zur Eindämmung der Infektionen aus und führt zu teils extremen Kurswechseln, die zuvor eingeleitete Maßnahmen regelrecht torpedieren. Zugleich versucht der Präsident, sich als unerschütterlicher Kapitän in stürmischer See zu inszenieren, indem er die Verantwortung für eklatante Fehlentscheidungen auf andere abwälzt und Initiativen aus Oppositionskreisen blockiert.

Als katastrophal erwies sich die Anordnung des Innenministeriums, das am späten Freitagabend kurzfristig eine weitgehende Ausgangssperre in 31 Städten beziehungsweise Provinzen verhängte, darunter die Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir. Die mangelnde Kommunikation über das 48stündige Ausgehverbot wurde scharf kritisiert, weil die Maßnahme erst zwei Stunden vor Beginn der Frist bekannt wurde, ohne daß zunächst Details genannt worden wären. Am Abend kam es deshalb zwangsläufig zu Panikkäufen und Massenansammlungen in den betroffenen Städten, da die Menschen die wenigen noch offenen Supermärkte und Bäckereien stürmten. Videos in den sozialen Netzwerken zeigen Szenen, in denen es auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam. Rund 250.000 Menschen waren nach Schätzungen dicht gedrängt vor den Läden versammelt. Das brach alle Regeln sozialer Distanz, die der Bevölkerung von der Regierung über Wochen nahegelegt worden waren, so daß die Menschen einer akuten Ansteckungsgefahr ausgesetzt wurden. "Die Zahlen der durch dieses Ereignis neu Infizierten werden wir spätestens in zwei Wochen sehen", sagte Tevfik Özkü vom Wissenschaftsrat. [2]

Der von Erdogan angeordnete Beschluß war weder mit Gesundheitsminister Fahrettin Koca noch den von der kemalistischen Opposition gestellten Oberbürgermeistern der besonders von der Coronapandemie betroffenen Städte Istanbul, Ankara und Izmir abgesprochen, die eine solche Maßnahme indessen schon länger gefordert hatten. Das Echo auf die kurzfristige Verhängung der Ausgangssperre fiel verheerend aus. Selbst Politiker der mit der AKP verbündeten MHP verlangten Aufklärung. Die Opposition bezeichnete das Vorgehen als Desaster. Ex-Regierungschef Ahmet Davutoglu konstatierte: "Die Regierung ist unfähig, die Krise zu managen." Die prokurdische Oppositionspartei HDP warf der Regierung vor, damit "verantwortlich für einen drastischen Anstieg der Zahl der Corona-Fälle und der Corona-Toten" zu sein.

Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu teilte in einer Videobotschaft an die Bevölkerung mit, daß er selbst als oberster Verantwortlicher einer Metropole von 16 Millionen Einwohnern nicht vorab informiert worden sei. "Wir wissen nicht einmal, welche Dienstleistungen wir morgen in Istanbul noch anbieten können. Jeder Beschluss, der ohne Gemeinschaftssinn und Kooperation gefasst wird, führt nur zu Verwirrung und Panik." Imamoglu hatte schon vor einiger Zeit Ausgangsbeschränkungen gefordert, was jedoch von der Regierung zurückgewiesen worden war. Da er seit seinem Sieg bei den Kommunalwahlen im vergangenen Juni als aussichtsreichster Oppositionskandidat gilt, blockiert Erdogan seinen potentiellen Herausforderer, wo er nur kann. Es gibt kaum ein größeres städtisches Entwicklungsprojekt, bei dem Imamoglu nicht über Schikanen der Zentralregierung klagt, die seiner Verwaltung den Zugang zu Ressourcen und Finanzen abschneide. [3]

Als der Bürgermeister im März begann, in Istanbul Spendengelder einzuwerben, um Leidtragende der Coronakrise zu unterstützen, ließ Erdogan seinen Innenminister die Aktion für illegal erklären. Krisennothilfe, hieß es, sei dem Staat vorbehalten und nicht Sache der Kommunen, die Istanbuler Spendenkonten wurden kurzerhand eingefroren. Als sich Erdogan wenig später mit einem eigenen Spendenaufruf an die Bevölkerung wandte, warf er demonstrativ ein paar Monatsraten seines Präsidentengehalts in den Topf. Ankara will der Opposition nicht die geringste Chance bieten, sich in der Coronakrise zu profilieren. Daher kann man davon ausgehen, daß auch Erdogans aktuelle Vorgehensweise nicht zuletzt dem Kalkül geschuldet war, seinen gefährlichsten Konkurrenten zu schädigen.

Damit trägt er wissentlich dazu bei, die Notlage in Istanbul zu verschärfen. Rund 60 Prozent der landesweit registrierten Coronafälle entfallen auf die Metropole. Etwa 80 Prozent der Intensivbetten seien inzwischen belegt, warnte Sinan Adiyaman, der Chef der Türkischen Ärztevereinigung TTB. Dabei äußert er sich nur vorsichtig, da diverse Kollegen von den Behörden zu "Richtigstellungen" alarmierender Kommentare genötigt wurden. "Wir kämpfen aktiv gegen aufrührerische und irreführende Posts, deren Absicht es ist, die Bevölkerung zu provozieren und aufzuhetzen", verkündete Erdogans Kommunikationschef Fahrettin Altun.

Die Art und Weise der Ausgangssperre scheint jedoch auch den Vorstellungen des Innenministers Süleyman Soylu kaum entsprochen zu haben. Als habe er sich von Form und Umsetzung distanzieren wollen, hatte der Minister bei der Ankündigung des Lockdowns erklärt, der Staatspräsident selber habe ihn angeordnet. Dann verbreitete Soylu mehrere Versionen, wie es zum Chaos kommen konnte. Schließlich übernahm er die volle Verantwortung und bot seinen Rücktritt an: "Ich trenne mich von meinem Innenministeramt, das ich mit Stolz ausgeführt habe", schrieb er auf Twitter. Er habe gutwillig gehandelt und die Verbreitung des Virus mit der Maßnahme aufhalten wollen. Soylu bat das türkische Volk und Erdogan, "dem ich bis ans Ende meines Lebens treu sein werde, um Vergebung".

Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu kommentierte im Sender Habertürk, Soylu habe Erdogan mit seiner Rücktrittserklärung "retten" wollen. Der Präsident lehnte das Gesuch wenig später ab. Wie sein Büro erklärte, werde Soylu "seine Aufgaben weiter ausführen". Betont wurden dessen Verdienste beim Kampf gegen "den Terrorismus". Der Innenminister erklärte dazu am Montag via Twitter, die Reaktion Erdogans und des Volkes habe ihn in Verlegenheit gebracht. Er werde dem Volk weiter dienen und seine Fehler ausbügeln.

Seinen Ruf als Kettenhund Erdogans erwarb sich Soylu, als er kurz nach dem gesteuerten Putschversuch vom Juli 2016 zum Innenminister ernannt wurde. In dieser Funktion war er maßgeblich für die anschließende gnadenlose Verhaftungswelle gegen Oppositionelle verantwortlich. In weiten Teilen der Bevölkerung ist der Innenminister deswegen verhaßt, in anderen jedoch aus demselben Grund populär. Nach seiner Rücktrittserklärung hatten zahlreiche Anhänger des Hardliners in den sozialen Medien Erdogan dazu aufgefordert, das Gesuch abzulehnen. In seinem Heimatort Rize soll ein Anwohner sogar öffentlich damit gedroht haben, sich das Leben zu nehmen, sollte der Minister seinen Posten tatsächlich aufgeben.

Bedeutung gewinnt der öffentliche Schlingerkurs um Soylus Rücktrittsangebot dadurch, daß er als ein möglicher Nachfolger des inzwischen 66jährigen Erdogan gehandelt wird. Soylu gehört zwar der islamisch ausgerichteten AKP an, ist aber eher säkular verortet und noch stärker als Erdogan nationalistisch orientiert. Er könnte daher eine breite Anhängerschaft auch außerhalb der AKP finden. Rückendeckung erhielt der mit größter Härte gegen die kurdische Opposition vorgehende Soylu auch von Devlet Bahceli, dem Führer der mit Erdogan verbündeten faschistischen "Grauen Wölfe". Das läßt darauf schließen, daß das Rücktrittsangebot zum einen Erdogan unverbrüchliche Gefolgschaft signalisieren, zugleich aber Soylus eigene Hausmacht im Führungszirkel ausbauen sollte.

Wenngleich der Staatschef selbst bisher keinerlei Zeichen von Amtsmüdigkeit erkennen läßt, bringen sich auch andere für eine mögliche Nachfolge ins Spiel, so etwa sein Schwiegersohn und Finanzminister Berat Albayrak. Ob der Präsident das gutheißt, ist nicht bekannt, zumal Albayrak als wenig kompetent in seinem Ressort und allgemein unbeliebt gilt. Er gehört anders als Erdogan und Soylu aber einem modern-technokratisch, städtisch ausgerichteten Flügel der AKP an. Daß die Gruppierung um Albayrak einen Aufstieg Soylus zum neuen Kronprinzen tatenlos hinnehmen wird, ist nicht zu erwarten. Zu Lasten der von Wirtschaftskrise, Repression, dem Krieg in den kurdischen Landesteilen und nun auch der Coronapandemie schwer in Mitleidenschaft gezogenen Bevölkerung geht der Machtkampf im Regierungslager in die nächste Runde. [4]

Zurück bleibt der Eindruck, daß Erdogan, der in allen wichtigen Fragen die letzte Entscheidung trifft, in der Coronakrise immer widersprüchlicher agiert. Ein ums andere Mal sah er sich angesichts steigender Zahlen von Infizierten und Toten genötigt, Maßnahmen zu verschärfen, doch der Empfehlung seines Wissenschaftsrats, eine allgemeine zweiwöchige Ausgangssperre zu verhängen, wollte er nicht Folge leisten. Es ist nicht das erste Mal, daß eine zeitlich verfehlte Aktion der Regierung zu einem Rücktritt führt. Am 26. März wurde eine Ausschreibung für das gigantische Kanalprojekt einer zweiten Verbindung zwischen Schwarzem Meer und Marmarameer auf den Weg gebracht. Dies löste empörte Reaktionen aus, wie man gerade jetzt für ein solch umstrittenes Projekt enorme Summen ausgeben könne, statt in den Gesundheitssektor zu investieren. Der Transportminister mußte gehen, obwohl jeder wußte, daß die Ausschreibung nicht ohne Zustimmung Erdogans veranlaßt worden sein konnte.

Die Türkei hatte vor rund einem Monat ihren ersten Coronafall gemeldet. Die Regierung hat bereits zahlreiche Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus erlassen. So gilt etwa eine weitgehende Ausgangssperre für Menschen unter 20, Personen ab 65 Jahren und chronisch Kranke. Obgleich sich Erdogan bislang stets gegen eine längere, doch aus Sicht der Experten einzig wirksame Ausgangssperre gewehrt hat, verkündete er nun zumindest für das kommende Wochenende eine weitere Ausgangssperre in 31 Städten und Provinzen. Die Ausgangssperren übers Wochenende würden, wenn nötig, auch in Zukunft fortgeführt. Man wolle damit verhindern, daß es bei frühlingshaftem Wetter zu Menschenansammlungen komme und damit die Infektionsgefahr erhöht werde. Wichtige Einrichtungen wie etwa Bäckereien blieben offen. [5]

Nachdem die Coronapandemie lange ignoriert worden war, ist die Türkei inzwischen eines der am schwersten von der Seuche betroffenen Länder. Am Sonntag lag die Zahl der bestätigten Infektionen nach Angaben des Gesundheitsministers bei rund 57.000 Fällen, rund 1.200 Infizierte waren bereits an Covid-19 verstorben. Der Türkische Medizinerverband geht indessen von einer wesentlich höheren Anzahl von Toten aus. Teile der türkischen Ärzteschaft haben erklärt, daß die landesweite Durchseuchung und vor allem die Infektionsrate in der Metropole Istanbul sehr weit fortgeschritten sei. Weiterhin werde viel zu wenig getestet. Die von Gesundheitsminister Fahrettin Koca veröffentlichten Coronazahlen verzerrten die Realität. Experten gehen von einer ungewöhnlich rasch fortschreitenden Verbreitung des Coronavirus im Land infolge der Versäumnisse der Regierung aus.


Fußnoten:

[1] www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-soziale-distanz-auf-hoechster-ebene-1.4875393

[2] www.derstandard.de/story/2000116813678/druck-auf-erdogan-in-corona-krise-waechst

[3] www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/ausgangssperre-tuerkei-istanbul-erdogan-politische-gegner-coronavirus

[4] www.jungewelt.de/artikel/376367.türkei-ränkespiel-im-palast.html

[5] www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article207238335/Erdogan-lehnt-Ruecktrittsgesuch-seines-Innenministers-ab.html

14. April 2020


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