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REPRESSION/1675: Grenzwacht - Europas Strafverweis ... (SB)



Für uns ist klar, dass wir einen nationalen Notfall haben und dass es für Europa und Griechenland von entscheidender Bedeutung ist, unsere gemeinsamen Grenzen zu schützen.
Notis Mitarakis (Griechischer Migrationsminister) [1]

In der Kampfzone zwischen der Türkei und Griechenland wird die Flüchtlingsabwehr der Europäischen Union auf eine höhere Ebene katapultiert. Die Regierung in Athen setzt alles daran, die Grenze hermetisch zu schließen, und hat das Asylrecht vorerst außer Kraft gesetzt. Damit sind neu eintreffende Flüchtlinge, die auf griechischem Staatsgebiet aufgegriffen werden, keine schutzsuchenden Menschen mehr, sondern illegale Eindringlinge, die als Straftäter klassifiziert werden. Schnellgerichte verhängen hohe Haftstrafen, Flüchtlinge landen in abgeschotteten Lagern oder werden auf Schiffen festgehalten, nach Feststellung der Identität sollen sofortige Abschiebungen erfolgen. Griechenland reklamiert einen nationalen Notstand und fordert Unterstützung der EU, deren Administration Rückendeckung gewährt. Wenngleich die Zustände auf den Inseln in der Ägäis schon zuvor verheerend waren und allen vorgehaltenen Ansprüchen auf Humanität und Menschenwürde Hohn sprachen, wird nun auch das Asylrecht als solches entsorgt. Die für unantastbar erklärte Tür ist weit aufgestoßen, und selbst wenn sie wieder geschlossen werden sollte, bleibt das Siegel gebrochen.

Diese Zuspitzung ist eine geradezu zwangsläufige Folge des Flüchtlingspakts zwischen der EU und der Türkei sowie Griechenland, mit dem durch Zahlung einiger Milliarden Euro ein Puffer erkauft wurde, der geflohene Menschen fernhalten sollte. Die unter deutscher Führung durchgesetzte Strategie der EU, die Flüchtlingsabwehr vorzuverlagern, ändert nicht das Geringste an den Ursachen von Flucht und Vertreibung, drängt aber die Opfer der europäischen ökonomischen und militärischen Kriegsführung tendentiell in entferntere Regionen zurück. Diese Vorgehensweise wird angesichts des türkischen Erpressungsversuchs, der eine Konfrontation antäuscht, um eine intensivere Zusammenarbeit in Verfolgung gemeinsamer Interessen zu erzwingen, auf die eingangs angerissene Weise verschärft.

Ohne daß dies Erwähnung findet, hat Erdogan keineswegs die Schleusen geöffnet und schon gar nicht die massiv gesicherte Grenze zu Syrien aufgemacht. Ebensowenig hat er einen Exodus der seit längerem in der Türkei lebenden Flüchtlinge ausgelöst, sondern nur ein gewisses Kontingent an die griechische Grenze bringen lassen. Genügend Menschen, um im beiderseits von Polizeiketten abgeriegelten Niemandsland eine katastrophale Situation herbeizuführen, aber auch nicht mehr, als für eine handfeste Drohung erforderlich sind. Er signalisiert der EU, daß sie ihm stärker als bislang entgegenkommen soll, und läutet zugleich eine neue Runde gegenseitiger Bezichtigung ein, die zum beiderseitigen Nutzen den ohnehin praktizierten Umgang mit Flüchtlingen de facto legitimieren soll. Während jede Seite der anderen vorwirft, sie trete die Rechte der Flüchtlinge mit Füßen, schweißt diese Spiegelfechterei die Übereinkunft und Praxis fest, geflohene Menschen zu illegalisieren und sie je nach Bedarf als Verhandlungs- oder Verschiebemasse im Bevölkerungsaustausch zu vernutzen oder zugrunde gehen zu lassen.

Die griechischen Grenzwächter feuern Tränengas und Gummigeschosse auf die Flüchtlinge ab und haben sogar riesige Ventilatoren herangeschafft, die Gasschwaden und den Rauch von Bränden auf die nördliche Seite zurücktreiben. Zugleich wurde in Kastanies in der Gemeinde Orestiada ein von Stacheldraht umzäuntes Lager errichtet, zu dem Journalisten keinen Zutritt erhalten. Das Magazin Monitor sprach vor Ort mit Margaritis Petritzikis vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und erfuhr dabei, daß bislang schätzungsweise mehr als 50 Personen in Schnellverfahren wegen illegaler Einreise mit Haftstrafen bis zu vier Jahren verurteilt worden sind. Dabei würden Familien getrennt, indem beispielsweise ein Familienvater ins Gefängnis kommt, während Mutter und Kinder in ein Flüchtlingslager gebracht werden.

In Thessaloniki berichtete Rechtsanwalt Dimitris Koros vom griechischen Flüchtlingsrat GCR, daß neben Haftstrafen auch Geldstrafen von bis zu 10.000 Euro verhängt worden seien. Vor Gericht hätten diese Menschen keinerlei Rechtsbeistand gehabt, in einem Fall sei sogar ein zwölfjähriges afghanisches Mädchen angeklagt worden. Damit verstoße Griechenland massiv gegen Menschenrechte und gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Mit den Internierungen, der Aussetzung des Asylrechts und den Schnellverfahren mißachte Griechenland systematisch Menschenrechte und verstoße gegen EU-Recht, kritisiert auch Jürgen Bast, Professor für Europarecht an der Universität Gießen: "Die Europäische Kommission stellt sich hinter Griechenland, zeigt Solidarität und nimmt sehenden Auges in Kauf, dass das EU-Recht hier nicht beachtet wird." [2]

Unterdessen wurden auf Lesbos festgehaltene Flüchtlinge aufs Festland gebracht, die zuvor zehn Tage lang auf einem Marineschiff im Hafen der Insel ausharren mußten. Die rund 440 Menschen sind nun in einem geschlossenen Auffanglager nördlich von Athen interniert, und in den kommenden Tagen sollen alle weiteren Flüchtlinge dorthin gebracht werden, die seit dem 1. März aus der Türkei auf die Inseln übergesetzt sind. Vor dem Abtransport erhielten die Menschen im Hafen von Mytilini ein Dokument der Polizeidirektion Lesbos, die ihnen darin mitteilt, daß sie auf einer Liste von "unerwünschten Migranten" stünden und daher abgeschoben würden. Dem Schreiben zufolge haben sie sechs Monate Zeit, bei der Identitätsfeststellung mitzuwirken, solange sollen sie inhaftiert bleiben. Sofern sie nicht kooperieren, blieben sie ein weiteres halbes Jahr in Haft.

Manos Logothetis, Sekretär für die Erstaufnahme von Migranten im griechischen Innenministerium, bestätigte die Echtheit des Schreibens, doch beantwortete er die Frage nicht, ob die Türkei abgeschobene Menschen überhaupt wieder zurücknimmt. Die Hilfsorganisation Pro Asyl kritisierte das "skandalöse Schweigen der EU-Innenminister zum Rechtsbruch in Griechenland". Unter den Migranten seien viele Familien mit kleinen Kindern. Ihnen drohe nun die Zurückschiebung in die Türkei. Das Schweigen der EU sei ein "menschenrechtlicher Dammbruch", sagte Pro Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt.

Inzwischen haben sich mehrere EU-Staaten bereiterklärt, insgesamt 1600 Kinder und andere gefährdete Flüchtlinge aus griechischen Lagern aufzunehmen. Neben Deutschland gehören Frankreich, Irland, Finnland, Portugal, Luxemburg und Kroatien zu der sogenannten Koalition der Willigen. Aktuell leben mehr als 42.500 Migranten auf den Inseln Lesbos, Samos, Kos, Leros und Chios, deren Kapazität nur bei rund 6000 Plätzen liegt. Nach Angaben der EU-Kommission sind rund 5500 von ihnen unbegleitete Minderjährige, neun von zehn seien 14 Jahre alt oder älter, hieß es unter Berufung auf griechische Behörden.

Wie die geringe Aufnahmequote zeigt, ist das nicht etwa "ein guter Start", wie die für Flüchtlinge zuständige EU-Innenkommissarin Ylva Johansson erklärt, sondern im Gegenteil eine klare Absage an die Aufnahme schutzbedürftiger Menschen aus Griechenland. Nach den Worten von Caritas-Präsident Peter Neher ist die Zahl angesichts der unerträglichen Zustände auf den griechischen Inseln viel zu niedrig gegriffen. Aufzunehmen seien insbesondere unbegleitete Minderjährige, Kinder und ihre Familien, Schwangere und Schwerkranke. Mehrere Kommunen und Organisationen hatten ihre Bereitschaft erklärt, Menschen aufzunehmen, "dies gilt es aufzugreifen". Neher spricht damit an, daß allein in Deutschland die zugesagte Aufnahmebereitschaft bei weitem das nun europaweit beschlossene Kontingent übersteigt. Die EU-Kommission leistet sich allenfalls ein Feigenblatt, um aufkommender Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung das Wasser abzugraben, und setzt ansonsten auf Abschreckung und Entfernung.

Darunter fällt auch das fadenscheinige Angebot der EU, finanzielle Anreize zur freiwilligen Rückkehr bereitzustellen. Bis zu 5000 Migranten, die vor dem 1. Januar in die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln gekommen sind, können je 2000 Euro erhalten. Das Angebot gilt jedoch nur für einen Monat. Abgesehen davon, daß kaum ein Flüchtling im Lager überhaupt die Gelegenheit haben dürfte, sich wie gefordert dafür zu melden, ist die Summe, die den Asylsuchenden angeblich dabei helfen soll, in ihren Herkunftsländern von vorn zu beginnen, ein schlechter Witz. [3]

Der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis forderte erneut eine schnelle und gerechte Verteilung der Lasten. "Bisher ist die Situation unausgeglichen - die griechischen Inseln tragen das ganze Gewicht der Krise", sagte er. Auch müsse der Druck seitens der Türkei beendet werden. Auf die Frage nach der Sicherung der Festlandgrenze im Nordosten des Landes und Vorwürfen, Griechenland verstoße mit seinem Vorgehen gegen internationales Asylrecht, unterstrich Mitarakis: "Für uns ist klar, dass wir einen nationalen Notfall haben und dass es für Europa und Griechenland von entscheidender Bedeutung ist, unsere gemeinsamen Grenzen zu schützen." Man tue dies unter vollständiger Einhaltung von internationalem und nationalem Recht.

Während von seiten der griechischen Regierung das Offensichtliche schlichtweg in Abrede gestellt wird, stößt Ylva Johansson mit der vagen Ausflucht ins selbe Horn, ihr sei es wichtig, daß Griechenland sich an internationales Recht hält und Asylanträge zuläßt. Darüber werde sie mit der Regierung in Athen sprechen. [4] Eine entschiedene Position der EU-Innenkommissarin, die Aufhebung des Asylrechts zu kritisieren und eine Rücknahme dieser Entscheidung zu fordern, sähe anders aus. Griechenland war im Rahmen des Flüchtlingspakts stets die Rolle eines Zwischenpuffers zugedacht, der alles abfedern sollte, was die Türkei an Flüchtlingen nicht aufhält. Dadurch mußte das Land letzten Endes ausbaden, was die übrigen EU-Staaten nicht übernehmen wollten und an Zusagen nicht einhielten. Unter der konservativen Regierung dient sich Griechenland nun abermals als Prügelknabe an, diesmal aber, indem nicht nur das Elend auf die gestrandeten Flüchtlinge auf den Inseln abgewälzt wird, sondern mit dem Einprügeln auf Flüchtlinge und anderen brachialen Methoden. Das kommt bei den übrigen europäischen Regierungen und in Brüssel sehr gut an, die Athen allenfalls milde rügen, aber zugleich kräftig auf den Rücken klopfen. Einer muß eben die Drecksarbeit machen.


Fußnoten:

[1] www.tagesschau.de/ausland/griechenland-fluechtlinge-241.html

[2] www.tagesschau.de/investigativ/monitor/griechenland-fluechtlinge-schnellverfahren-101.html

[3] www.dw.com/de/auf-lesbos-festgehaltene-migranten-auf-festland-gebracht/a-52781258

[4] www.sueddeutsche.de/politik/merkel-flucht-deutschland-2020-2015-1.4837901

16. März 2020


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