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REPRESSION/1672: Türkei - Teufelshandel mit der EU ... (SB)



Es kann aber nicht sein, dass man jemanden unterstützt, der Kritiker systematisch verfolgt, die Opposition ins Gefängnis steckt und Journalisten in Isolationshaft einsperrt. Oder in wessen Interesse könnte es liegen, wenn Nachbarländer völkerrechtswidrig überfallen werden, wie es die Türkei viermal in Syrien an der Seite von islamistischen Terrororganisationen wie al-Qaida getan hat?
Sevim Dagdelen (Außenpolitikerin der Linksfraktion im Bundestag) [1]

Recep Tayyip Erdogan hat in Brüssel die Forderungen auf den Tisch gelegt, deren Erfüllung er mit der kontrollierten Öffnung der türkischen Grenze zu Griechenland für ein beschränktes Kontingent von Flüchtlingen zu erzwingen versucht. Keiner dieser Wünsche kann überraschen, handelt es sich doch durchweg um seit langem bekannte Streitfelder, auf denen ihn die führenden europäischen Mächte aus fundierten Gründen ausgebremst haben. Er traf zunächst mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zusammen, bei dem er "konkrete Unterstützung von allen unseren Verbündeten" einforderte. Erdogan verwies dabei auf einen Beschluß der Allianz von Ende 2015, in dem der Türkei mehrere Maßnahmen in Aussicht gestellt worden waren, die aber nur teilweise verwirklicht wurden. Dazu gehörte auch die Kontrolle des türkischen Luftraums mit Kampfflugzeugen, wovon die NATO jedoch abrückte, nachdem ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen worden war, das angeblich kurzzeitig in den türkischen Luftraum eingedrungen war. [2]

Außenminister Mevlüt Cavosoglu hatte schon vor zwei Wochen die Erfüllung der damaligen Zusagen angemahnt, war jedoch damit bei der NATO abgeblitzt. Auch Stoltenberg erklärte lediglich, die Allianz überprüfe, wie sie der Türkei helfen könne. Ankara fordert de facto militärische Unterstützung beim Kriegszug in Syrien ein, worauf die NATO nicht offiziell einzugehen bereit ist, weil die türkische Invasion im Nachbarland unmöglich als Verteidigungsfall ausgelegt werden kann, bei dem ein Mitglied des nordatlantischen Bündnisses angegriffen wird. Daß Stoltenberg das nicht in aller Deutlichkeit klarstellte, liegt auf der Hand, da er dann genötigt gewesen wäre, die völkerrechtswidrigen türkischen Angriffe in Syrien und die territoriale Okkupation im Grenzgebiet beim Namen zu nennen. Wenngleich es nicht an Versuchen westlicher Mächte fehlt, Interventionsvorwände auf diesem Kriegsschauplatz zu fabrizieren, hat die Unterstützung der Regierung in Damaskus durch Rußland dem Vormarsch doch einen Riegel vorgeschoben.

Beim Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel ging es um Gelder für die Türkei im Rahmen des Flüchtlingspakts, eine Visaliberalisierung, die Erweiterung der Zollunion und die Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen. Ankara erhält im Rahmen des Abkommens mit der EU unter anderem finanzielle Unterstützung in Höhe von insgesamt sechs Milliarden Euro. Laut EU-Kommission sind davon bislang 4,7 Milliarden Euro verplant und rund 3,2 Milliarden bereits ausbezahlt. Cavusoglu kritisierte erneut, daß die Türkei das Geld noch nicht vollständig erhalten habe. Erst seit die Geflüchteten an der griechischen Grenze ausharrten, habe die EU "die Probleme verstanden". [3] Bei diesen und anderen Zahlungen geht es insbesondere darum, wer letztendlich über die Gelder verfügt und in wessen Taschen sie landen. Offiziell bezahlt die EU nicht die türkische Regierung, sondern finanziert konkrete Projekte, die in der Türkei lebenden Flüchtlingen zugute kommen sollen. Ob das tatsächlich auf diese Weise geschieht, steht jedoch auf einem anderen Blatt, von dem eher selten die Rede ist.

So hat die EU auch Milliarden in Hilfsprojekte in Syrien gepumpt, die jedoch ganz bestimmten Regionen vorbehalten sind, während andere ausgeklammert werden und den westlichen Sanktionen unterliegen. Die Bundesregierung unterstützt seit Jahren gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emiraten die Hochburgen der Islamisten etwa über den Syria Recovery Trust Fund, was dem gescheiterten Versuch zuzuordnen ist, die Regierung in Damaskus zu stürzen. Eine Unterstützung der in die kurdischen Gebiete geflohenen Menschen findet hingegen nicht statt. Die Gelder für Notunterkünfte für Binnenflüchtlinge in Idlib werden an Organisationen wie den Türkischen Halbmond gezahlt, der in Korruptionsaffären verwickelt ist. Vieles deutet darauf hin, daß er als Steuervermeidungsanlage fungiert und dem Erdogan-Clan Gelder zuführt. Wenn die türkische Regierung angeblich ausstehende Zahlungen anmahnt, gilt es jedenfalls zu prüfen, wer da mit Wissen der Geber die Hand aufhält.

Die Vereinbarung zur Migrationspolitik vom Frühjahr 2016 enthielt das Ziel, binnen weniger Monate die Visumpflicht für Türken in der EU aufzuheben, falls Ankara alle Bedingungen dafür erfülle. Dazu gehörte insbesondere eine Änderung der höchst repressiven Anti-Terror-Gesetze, mit denen das Regime jegliche Opposition unterdrückt. Es gab damals durchaus Annäherungen, zumal die Türkei mit dem Europarat sogar an Textänderungen arbeitete, doch fand dies mit dem gesteuerten Putschversuch vom Juli 2016 ein jähes Ende. Seither hat Erdogan das Land mit immer neuen Wellen von Entlassungen, Festnahmen und Inhaftierungen überzogen, die noch längst kein Ende gefunden haben. Dies führte auch dazu, daß jedes Jahr Tausende Türken in der EU politisches Asyl beantragen, was eine Visumfreiheit zwangsläufig in weite Ferne rückt.

Die exzessive Instrumentalisierung des Putschversuchs, den Erdogan damals als "Geschenk des Himmels" bezeichnete, machte auch Annäherungen in anderen Bereichen zunichte. Ein Termin für den Beginn von Verhandlungen über die Modernisierung der Zollunion wurde von Brüsseler Seite abgesagt. Ankara möchte die Zusammenarbeit auch auf Dienstleistungen ausweiten und erhofft sich davon eine bessere Handelsbilanz mit der EU. Nachdem zuvor, wie im Migrationspakt vorgesehen, noch ein Kapitel über Finanz- und Haushaltsvorschriften eröffnet worden war, wurden die Beitrittsverhandlungen de facto eingefroren.

Voraussetzungen einer Visaliberalisierung oder gar der Eröffnung eines neuen Kapitels im EU-Beitrittsprozeß wären Fortschritte der Türkei auf dem Feld von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, von denen jedoch nichts zu erkennen ist. "Niemand mit gesundem Menschenverstand bescheinigt der Türkei Fortschritte in Sachen Demokratie, Menschenrechte, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit", brachte Sevim Dagdelen, Außenpolitikerin der Linksfraktion im Bundestag, die Situation auf den Punkt. Da die von der Europäischen Union geltend gemachten Kriterien in keiner Weise erfüllt sind, verbieten sich Zugeständnisse eigentlich von selbst. Die Modernisierung der Zollunion käme einer Überlebenshilfe für Erdogan gleich, der wirtschaftlich mit dem Rücken an der Wand steht. Davon würden nicht die Menschen im Land, sondern die Konzerne und insbesondere das Präsidialsystem profitieren.

Erdogan erklärte auf dem Rückflug von Brüssel vor Journalisten, dort sei darüber gesprochen worden, daß der Flüchtlingspakt "aktualisiert" werden müsse. Tags darauf sprach Außenminister Cavusoglu im Interview mit der amtlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu von "neuen Umständen", die eine Überarbeitung des Abkommens erforderten. Erdogan verlangt einen Krisengipfel zu den Flüchtlingen mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der am 17. März in Istanbul stattfinden soll. Eventuell wird auch der britische Premier Boris Johnson teilnehmen, nicht eingeladen ist der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis. [4]

Ursula von der Leyen sprach von einem "konstruktivem Engagement" und faßte das Gespräch mit dem türkischen Präsidenten über den Krieg in Syrien und Zukunft des Flüchtlingsdeals von 2016 mit den Worten zusammen, sie habe deutlich gemacht, daß die EU bei den fraglichen Themen Fortschritte machen werde - Voraussetzung sei allerdings, daß dies auf Gegenseitigkeit beruhe. Der Pakt bleibe in Kraft, doch müsse die Türkei zuallererst aufhören, geflohene Menschen zur Weiterreise nach Griechenland zu ermuntern. Die Spitzen der Europäischen Union wollen die offenen Punkte aus der Vereinbarung beider Seiten zur Zusammenarbeit bei der Migration von März 2016 angehen. "Was in der Erklärung steht, muss umgesetzt werden", erklärte EU-Ratspräsident Charles Michel. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borell und der türkische Außenminister Mevlüt Cavosoglu wurden beauftragt, die "Implementierung der Vereinbarung zu erhellen", sagte Michel und kündigte an: "Wir werden den politischen Dialog mit Erdogan weiterführen." Bundeskanzlerin Angela Merkel unterstrich, sie wolle das EU-Türkei-Abkommen auf eine "neue Stufe" heben.

Am Tag des EU-Meetings mit Erdogan traf der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis in Berlin mit der Bundeskanzlerin und weiteren Politikern wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Friedrich Merz zusammen. Mitsotakis versuchte, Unterstützung für die Abschottung der griechischen Grenzen als EU-Außengrenze zu bekommen. Griechenland plant unter anderem, den Zaun zur Türkei um 36 Kilometer zu verlängern, um die Grenze noch mehr abzuschotten. Nach einem Bericht der kurdischen Nachrichtenagentur ANF werden die Schutzsuchenden aber nicht nur von griechischer Seite mit Gewalt an der Einreise gehindert, sondern von türkischer Seite auch an der Umkehr. Demnach hat die türkische Regierung 1.000 zusätzliche Polizisten an die Grenze entsandt, um zu verhindern, daß die griechische Regierung Flüchtlinge zurückdrängt, die den Grenzfluß Meric (griechisch: Evros) zu überqueren versuchen, so der türkische Innenminister Süleyman Soylu bei einem Besuch im Grenzgebiet. Bei den Polizisten handele es sich um vollausgerüstete Spezialkräfte. Somit werden die Flüchtenden zwischen der griechischen Polizei, der EU-Grenzschutzagentur Frontex und der türkischen Polizei eingekeilt.

Der Handel zwischen der Türkei und der EU läuft augenscheinlich darauf hinaus, den Flüchtlingspakt in geringfügig modifizierter Form fortzusetzen. Die schutzsuchenden Menschen im Niemandsland zwischen der Türkei und Griechenland bleiben festgesetzt und weitgehend unversorgt, nach dem Willen Griechenlands, der EU und der Bundesregierung soll dort jeder Durchbruchsversuch mit massiven Mitteln verhindert werden. Wenngleich sich 140 deutsche Städte und Kommunen bereiterklärt haben, Geflüchtete aus dem Grenzgebiet oder aus griechischen Lagern aufzunehmen, konnte sich die Bundesregierung lediglich dazu durchringen, bei der Aufnahme von EU-weit 1.000 bis 1.500 besonders schutzbedürftigen Kindern mitzuwirken - und zwar nicht aus dem nördlichen Grenzgebiet, sondern ausschließlich von den Inseln. Offenbar soll es nun zumindest möglich sein, Asylbewerber vor einem Abschluß des Verfahrens von den Inseln, auf denen sie ankommen, auf das griechische Festland zu bringen, womit sie von den Abschieberegelungen des EU-Türkei-Pakts ausgenommen wären. Ob das die extrem zuspitzten Verhältnisse in den Lagern spürbar entlastet, ist höchst fraglich. Der eklatante Bruch des internationalen Asylrechts durch die griechische Regierung wird bei den politischen Tagungen kaum erwähnt.

Die rund eine Million Flüchtlinge in Idlib sollen bleiben wo sie sind, die Türkei darf sie unter keinen Umständen durchlassen. Keinesfalls dürfe man die Flüchtlinge von dort aufnehmen, bekräftigte auch Norbert Röttgen im Deutschlandfunk [5]. Das wäre nur eine Honorierung der Politik, die Putin, Assad und Erdogan betreiben, aber keine Lösung, so der CDU-Politiker. Die dringend notwendige humanitäre Hilfe für diese Menschen schließe nicht ein, sie nach Europa zu holen. Man könne ihnen im Gegenteil nur dort helfen, wo sie sind. "Ansonsten werden sie auch in ihrer Not nach Europa durchbrechen. (...) Die verlassen ja auch nicht freiwillig ihre Heimat, sondern sie werden dazu durch Bombardierung gezwungen. Dort müssen wir helfen, das können wir auch effektiver und mit weniger Geld, und gleichzeitig Politik machen." Während Röttgen unter Krokodilstränen das Schicksal der Flüchtlinge beklagt, bleibt er jede Antwort schuldig, wie eine Million Flüchtlinge in Idlib versorgt werden sollen. "Politik machen" ist denn auch das Schlüsselwort für den Teufelshandel Erdogans mit der EU, der mit dem Blut zahlloser geflohener Menschen geschrieben ist.


Fußnoten:

[1] www.welt.de/politik/deutschland/article206476651/EU-Tuerkei-Deal-Seine-Erpressungspolitik-war-wieder-erfolgreich.html

[2] www.faz.net/2.1677/erdogan-in-bruessel-eu-spitzen-gehen-auf-die-tuerkei-zu-16671667.html

[3] www.jungewelt.de/artikel/374239.flüchtende-eingekeilt-geschacher-unter-nato-brüdern.html

[4] www.heise.de/tp/features/Fluechtlinge-und-Migranten-an-der-EU-Aussengrenze-4680390.html

[5] www.deutschlandfunk.de/roettgen-cdu-zu-syrischen-fluechtlingen-europa-muss-den.694.de.html

11. März 2020


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