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REPRESSION/1665: Justiz in der Türkei - janusköpfig ... (SB)



Kein türkischer Richter kann einen prominenten Angeklagten ohne Wink aus dem Präsidentenpalast verhaften oder freilassen.
Savas Genc (Politologe und Türkei-Experte an der Uni Heidelberg) [1]

Dem türkischen Staat unter Präsident Recep Tayyip Erdogan wird wahlweise ein undemokratischer, autokratischer, protofaschistischer oder diktatorischer Charakter attestiert. Die Einschätzung entspringt oftmals nicht so sehr einer fundierten staatstheoretischen und gesellschaftspolitischen Analyse, als vielmehr dem jeweils eigenen Verhältnis zu diesem Regime. Die Bundesregierung setzt auf Wirtschaftsbeziehungen, Waffenbrüderschaft und Kollaboration bei der Flüchtlingsabwehr mit der Türkei, weshalb ihre Kritik zwar phasenweise verbalradikal, aber unter dem Strich moderat ausfällt, so daß aus Berliner Perspektive eher keine Rede von einer Diktatur sein kann, zumal dies dem eigenen Ruf allzu abträglich wäre. Für weite Teile der kurdischen Bevölkerung, die Erdogan verfolgt, vertreibt und vernichtet, ist er ein Diktator, der ihr die Auslöschung ihrer Kultur angedroht hat. Zehntausende politische Häftlinge in den Gefängnissen dürften in ihm gleichermaßen einen brutalen Machthaber sehen, der eine Willkürherrschaft etabliert hat. Für den mächtigen Geheimdienst MIT sind unter Erdogan goldene Zeiten angebrochen, vergleichbar allenfalls mit jenen der Militärjunta, darf er doch einschüchtern, entführen, foltern, inhaftieren und selbst im Ausland operieren wie es ihm beliebt.

Was von der türkischen Justiz zu halten ist, sollte man dieser Tage am besten Osman Kavala fragen. Ein Gericht in Silivri bei Istanbul hatte den Intellektuellen, Geschäftsmann und Kulturförderer samt acht weiteren Angeklagten vom Vorwurf des Umsturzversuchs im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 freigesprochen. Der Vorsitzende Richter Galip Mehmet Perk erklärte, die Staatsanwaltschaft habe keine "konkreten und sicheren Beweise" für die Schuld der Anklagten vorgelegt, und ordnete Kavalas Freilassung an, der als einziger Angeklagter in diesem Verfahren mehr als zwei Jahre im berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis am Ort in Untersuchungshaft gesessen hatte. Der Freispruch kam völlig überraschend, nachdem die Staatsanwaltschaft für Kavala, die Architektin und Sprecherin der Bürgerinitiative vom Taksim-Platz, Mücella Yapici, und den Menschenrechtsaktivisten Yigit Aksakoglu zuvor lebenslange Haft unter erschwerten Bedingungen gefordert hatte. Für weitere Angeklagte verlangte sie lange Haftstrafen.

Kavala sollte nach dem Freispruch am frühen Nachmittag noch am Abend entlassen werden. Deshalb warteten Freunde, Anwälte und seine Ehefrau Ayse Bugra, Wirtschaftsprofessorin an einer renommierten Istanbuler Universität, an einer Autobahnraststätte in der Nähe des Gefängnisses voller Freude auf ihn. Laut Kavalas Anwälten war er, wie immer vor einer Entlassung, zunächst einem Arzt außerhalb des Gefängnisses vorgeführt worden, der den Untersuchungshäftlingen bescheinigen soll, daß sie in der U-Haft keinen Schaden genommen haben. Doch dann wurde Kavala nicht zurück nach Silivri gebracht, um dort formal entlassen zu werden, sondern zur Hauptpolizeidirektion in Istanbul, wo ihm ein Staatsanwalt eröffnete, er sei erneut festgenommen worden: Man ermittle gegen ihn nun wegen Beteiligung am Putschversuch gegen Präsident Erdogan am 15. Juli 2016. Kavala wurde zunächst von der Polizei festgehalten und dann einem Haftrichter vorgeführt, der ihn erneut hinter Gitter brachte. [2]

Recep Tayyip Erdogan, der am besten wissen müßte, was es mit dieser zynischen Kehrtwende auf sich hat, gab sich teils brachial, teils ominös. Wie Militärputsche und "Anschläge von Terrororganisationen" seien die Ereignisse von Gezi ein "niederträchtiger Angriff, der es auf den Staat und das Volk abgesehen hat", sagte er vor seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP in Ankara. Ohne Kavala beim Namen zu nennen, fuhr der Präsident fort: "Und mit einem Manöver haben sie gestern versucht, ihn freisprechen zu lassen." Was Erdogan damit meinte, blieb unklar. Er hatte Kavala in der Vergangenheit öffentlich bezichtigt, die Gezi-Proteste mit der Unterstützung des US-Spekulanten George Soros finanziert und organisiert zu haben.

Die Proteste vom Sommer 2013 hatten sich zunächst gegen die Bebauung des Gezi-Parks im Zentrum Istanbuls gerichtet. Die Aktion weitete sich zu landesweiten Demonstrationen gegen die autoritäre Politik des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan aus, der die wochenlangen Proteste brutal niederschlagen ließ. Nach Angaben von Amnesty International starben damals mindestens vier Menschen an den Folgen von Polizeigewalt. [3]

Hat das Gericht in Silivri tatsächlich unabhängig und gegen den Willen Erdogans auf Freispruch entschieden, wie er mit seiner Andeutung glauben macht? Doch wer sind "sie", die dieses Manöver in Auftrag gegeben haben? Seit dem Putschversuch vom Sommer 2016 ist Erdogan besessen von der Vorstellung, im In- und Ausland werde unablässig gegen ihn konspiriert. Jedenfalls war dieser Prozeß viel zu wichtig für den Präsidenten, als daß er eine plötzliche Regung der längst totgesagten unabhängigen Justiz zuließe, ohne zumindest auf dem Nachwege einzugreifen.

Insgesamt waren in dem Verfahren 16 Personen angeklagt, darunter Menschenrechtler, Anwälte, Kulturschaffende und Architekten. Sieben von ihnen, unter ihnen der in Deutschland im Exil lebende Journalist Can Dündar, waren vor der türkischen Justiz geflüchtet. Ihr Verfahren wurde abgetrennt. Die Fahndungsbefehle gegen die Betroffenen seien jedoch aufgehoben worden, hieß es. Kavala war im November 2017 inhaftiert worden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte im Dezember 2019 seine sofortige Freilassung aus der damals bereits zweijährigen Untersuchungshaft gefordert, rechtskräftig sollte das Urteil am 10. März werden. Die Türkei als Mitglied des Europarats müsse sich dieser Maßgabe unterwerfen. Das ist mit der Entscheidung im Gezi-Prozeß hinfällig, da bei einer erneuten Untersuchungshaft wegen eines neuen Haftgrundes wieder von vorn gezählt wird. Die Türkei hat damit formal dem Urteil aus Straßburg Rechnung getragen. [4]

Einige Beobachter sind der Auffassung, daß die jüngsten Verstimmungen zwischen der Türkei und Rußland wegen des Syrien-Konflikts entscheidend zum Freispruch beigetragen haben könnten. Regierungsnahe Kommentatoren hatten in den vergangenen Wochen eine Wiederannäherung der Türkei an Europa und die USA ins Gespräch gebracht. Die Freisprüche seien ein Zeichen des Pragmatismus der Erdogan-Regierung, sagte Savas Genc. "Sie will sich wegen der Krise in den Beziehungen zu Rußland wieder mehr Europa zuwenden." Der frühere Parlamentsabgeordnete Suat Kiniklioglu schrieb auf Twitter, Ankara habe erkannt, daß sich die Beziehungen zu Rußland verschlechtern und Europa nicht weiter vor den Kopf gestoßen werden solle. "Es geht nur ums Überleben. Machiavelli wäre stolz."

Wahrscheinlicher erscheint aber doch, daß der Freispruch und die erneute Festnahme einander widersprechende politische Entscheidungen waren, wie der Oppositionsabgeordnete Garo Paylan meint. Offenbar lägen verschiedene Flügel im Staatsapparat miteinander im Streit. Der stellvertretende Parlamentspräsident Mithat Sancar, der ebenfalls der Opposition angehört, sprach von einem "heftigen und ganz offenen Machtkampf" in Staat, Bürokratie und Erdogans Regierungspartei AKP.

Auf der einen Seite stehen die eng mit Erdogan und seiner Clique verbundenen "Eurasier", bei denen es sich um antiwestliche Ultranationalisten handelt. Sie erlangten nach dem Putschversuch von 2016 anstelle der massenhaft entlassenen eher prowestlich orientierten Gülen-Anhänger Einfluß auf die Regierungspolitik und gelten als Architekten der in den letzten Jahren vollzogenen Hinwendung der Türkei zu Rußland. Dieser Fraktion gegenüber steht eine mit dem exportorientierten Großkapital im Unternehmerverband Tüsiad verbundene Strömung der Staatsbürokratie, die eine erneute Annäherung an die EU favorisiert und dafür zu Zugeständnissen wie der Haftentlassung des liberalen Oppositionellen Kavala bereit ist, der im Westen geschätzt wird. [5] Für einen Machtkampf sprechen Meldungen, denen zufolge Ermittlungen gegen den Richter Galip Mehmet Perk und eine Überprüfung des Freispruchs auf seine Rechtmäßigkeit eingeleitet worden sind.

Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, daß die türkische Regierung mit der Justiz Außenpolitik macht. Vor zwei Jahren ließ ein Gericht den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel überraschend aus einjähriger Untersuchungshaft frei, weil die Bundesregierung wirtschaftlichen Druck auf die Türkei ausgeübt hatte. Der US-Pastor Andrew Brunson kam im Oktober 2018 frei, da die türkische Regierung inmitten einer schweren Wirtschaftskrise die Beziehungen zu den USA reparieren wollte. Osman Kavalas erneute Inhaftierung ist in der Tat ein dreister Winkelzug, ebenso perfide wie Erdogans jahrelange Praxis, sich ein Kontingent politischer Gefangener aus westlichen Ländern wie insbesondere Deutschland zu halten, das er als Verhandlungsmasse einsetzen kann.

Recep Tayyip Erdogan hat zwar viele Gesichter, die er je nach Bedarf zur Schau trägt, doch kennt er nur eine Sprache, nämlich die der Gewalt. Daher ist es nachrangig, ob er allen Ernstes glaubt, andere mit seinen Manövern täuschen zu können. Für ihn kommt es in erster Linie darauf an, daß er sie zwingen kann, sich der Täuschung zu fügen und keine Konsequenzen aus dem zu ziehen, was sie durchaus wissen, aber opportunistisch unter den Teppich kehren, den er für sie anhebt. Eine Ende der Verfolgung mutmaßlicher Gegner unter exzessiver Anwendung des Terrorverdikts ist nicht in Sicht. Die türkische Justiz hat soeben die Festnahme von weiteren 700 Menschen angeordnet, denen sie Verstrickung in Umsturzpläne vorwirft.


Fußnoten:

[1] www.tagesspiegel.de/politik/konflikt-um-tuerkischen-kunstmaezen-deutschland-protestiert-gegen-erneute-festnahme-von-kavala/25558452.html

[2] www.derstandard.de/story/2000114758947/die-tuerkei-schlaegt-ein-neues-kapitel-der-justizwillkuer-auf

[3] www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_87366684/gezi-park-proteste-in-der-tuerkei-erdogan-es-war-ein-niedertraechtiger-angriff.html

[4] www.tagesschau.de/kommentar/gezi-proteste-prozess-freisprueche-101.html

[5] www.jungewelt.de/artikel/372973.türkei-richtungskampf-in-ankara.html

20. Februar 2020


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