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REPRESSION/1638: Brasilien - Öl ins Feuer ... (SB)



Das Dekret ist kein Projekt der öffentlichen Sicherheit, es ist unseres Erachtens nach sogar noch wichtiger als das. Es gibt den Menschen ein individuelles Recht, Waffen zu tragen, wenn sie einige Anforderungen erfüllen.
Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro [1]

Jair Bolsonaro, der kürzlich beim Besuch des deutschen Außenministers Heiko Maas Kreide gefressen zu haben schien, um den seriösen Staatsmann zu geben und die ausbauträchtigen Wirtschaftsbeziehungen zu schmieren, zeigt nun wieder sein wahres Gesicht. Der rechtsextreme Präsident Brasiliens legt bei seinem Vorhaben nach, die wohlhabenderen weißen Schichten des Landes aufzurüsten. Er hat das Waffenrecht zum zweiten Mal in seiner Amtszeit weiter liberalisiert und ein Dekret unterzeichnet, nach dem Waffenbesitzer künftig je nach Waffenschein zwischen 1000 und 5000 Schuß Munition pro Waffe und Jahr erwerben dürfen. Bislang war die Menge auf 50 Schuß begrenzt. Gleichzeitig wurde die Registrierung von Waffen erleichtert und das bislang bestehende Importverbot für Waffen sowie Munition aufgehoben. Auch ist es Sportschützen, Jägern und Sammlern künftig erlaubt, mit ihren Waffen zu reisen. Des weiteren verfügte der ehemalige Hauptmann der Fallschirmjäger, daß die Vorschriften für Sicherheitskräfte gelockert werden. Bisher gültige Begrenzungen für die "Zahl und Qualität" der von den Behörden beschafften Waffen wurden gestrichen. Und nicht zuletzt dürfen niedrigrangige Militärs nach zehn Jahren im Dienst auch privat Waffen tragen. [2]

"Ich habe immer gesagt, dass öffentliche Sicherheit zu Hause beginnt", erklärte Bolsonaro bei einer Zusammenkunft mit Kongreßabgeordneten und Waffenlobbyisten in der Hauptstadt Brasília. "Wir sind an die Grenzen des Gesetzes gegangen, aber wir sind nicht über das Gesetz hinausgegangen." Er hob das individuelle Recht, Waffen zu tragen, hervor, und kritisierte zugleich die Kampagnen zur Abgabe von Waffen, die 2003 durch die damalige Regierung der Arbeiterpartei unter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in Gang gesetzt worden waren.

Die Lockerung der Waffengesetze hatte zu den zentralen Wahlversprechen Bolsonaros gehört, dessen Ideologie als "Bala, Boi e Bíblia" (Kugel, Vieh und Bibel) beschrieben werden kann. Nationalistische Militärs, einflußreiche Agrarunternehmer, evangelikale Christen und die neoliberale Wirtschaftselite haben ihn unterstützt und ins Amt gebracht. Im Wahlkampf stand an der Tür seines Büros der Slogan: "Wenn Waffen illegal sind, haben nur Gesetzlose Waffen." Er machte seine Schwäche für Schußwaffen zum Markenzeichen und formte bei seinen Auftritten vor Anhängern die Finger zur Pistole, worauf es ihm sein begeistertes Publikum gleichtat.

Bolsonaro selbst wurde in der heißen Phase des Wahlkampfs Opfer der Gewalt: Ein Angreifer stach ihm bei einem Wahlkampfauftritt mit einem Messer in den Bauch und verletzte ihn schwer. Dieser Zwischenfall trug nicht unmaßgeblich zum späteren Erfolg des Kandidaten bei, der sich zum Opfer hochstilisieren und zugleich seine Politik der harten Hand propagieren konnte. Dank stündlicher Berichte über seinen Gesundheitszustand auf allen Nachrichtenkanälen bekam er enorme kostenlose Werbung und war in aller Munde. Zugleich erklärte die Genesung seinen Rückzug aus öffentlichen Wahlkampfauftritten und den ansonsten unvermeidlichen Debatten mit anderen Kandidaten, so daß er ausschließlich über die sozialen Medien mit der Bevölkerung kommunizierte und ihr seine rechtsextreme Propaganda ungestört eintrichtern konnte.

In seinem ersten Fernsehinterview nach dem Wahlsieg Ende Oktober beim Sender Record TV der evangelikalen Universalkirche des Reichs Gottes verkündete der zutiefst reaktionäre neue Präsident: "Wenn jemand Böses tun will, kann er sich leicht eine Waffe auf dem Schwarzmarkt besorgen. Wir müssen die politisch korrekte Idee aufgeben, dass Brasilien ein besserer Ort ist, wenn wir alle entwaffnen." Wie er argumentierte, hätten alle Regulierungen nicht verhindern können, daß Waffen in die Hände von Kriminellen gelangt seien. "Wenn in diesem Fernsehstudio drei oder vier bewaffnete Personen wären, würde kein Verrückter hereinkommen, um böse Dinge zu tun", polemisierte er. "Mehr noch als das eigene Leben schützen Waffen die Freiheit des Volkes." Als der Interviewer ihn fragte, ob mehr Waffen nicht auch zu mehr Gewalt führen würden, blaffte Bolsonaro ihn an: "Dann können wir auch Autofahren verbieten."

Kurz nach seinem Amtsantritt im Januar setzte er seine Ankündigung erstmals in die Tat um und erlaubte es per Dekret nicht vorbestraften Personen, bis zu vier Schußwaffen zu kaufen und zu Hause oder am Arbeitsplatz aufzubewahren. Das Volk wolle "Waffen und Munition kaufen und wir können ihm das nicht verweigern", erklärte Bolsonaro. Angesichts der hohen Mordraten müsse jeder "gute Bürger" das Recht haben, sich verteidigen zu können. Das neue Dekret hielt zwar an etlichen Auflagen zum Waffenerwerb fest. So darf man nicht vorbestraft sein, muß einen Schießschein vorlegen und mindestens 25 Jahre alt sein. Allerdings wurde die Kompetenz der Bundespolizei eingeschränkt, die bis dahin von Fall zu Fall über die tatsächliche Notwendigkeit des Waffenbesitzes befinden mußte. Künftig sollten Bewohner von ländlichen Regionen sowie von Städten mit einer Tötungsrate von jährlich mehr als 10 Fällen pro 100.000 Einwohner leichter einen Waffenschein erhalten. Da die Rate in Brasilien im Schnitt bei 30 Fällen je 100.000 Einwohner liegt, erfaßt dies praktisch alle Städte. [3]

Allerdings bezweifelten Experten, ob eine solche Verknüpfung überhaupt verfassungskonform ist. Da sich der Präsident mit seinen Dekreten rechtlich auf dünnem Eis bewegt, beeilte er sich nun bei der aktuellen weiteren Liberalisierung des Waffengesetzes zu behaupten, daß er nicht über die Grenzen des Gesetzes hinausgegangen sei. Bolsonaro regiert ein Land, das eine der weltweit höchsten Mordraten aufweist. Im Jahr 2017 wurden rund 64.000 Personen zumeist mit Schußwaffen getötet, pro Tag durchschnittlich 175. Mit 31 Getöteten pro 100.000 Einwohner liegt der Wert sechsmal höher als in den USA. Schon ab zehn Toten auf 100.000 Einwohner spricht die UNO von "endemischer Gewalt" in einem Staat.

Die 210 Millionen Menschen im Land verfügen über eines der größten Schußwaffenarsenale weltweit. Der Genfer Think-tank Small Arms Survey schätzt den Bestand, der sich in den Händen von Privatpersonen, Polizei und Militär befindet, auf 17,5 Millionen Waffen, womit Brasilien international an Nummer sechs rangiert. Registriert ist jedoch nur rund die Hälfte der Waffen. In den Metropolen droht die Polizei das staatliche Gewaltmonopol zu verlieren. In den Favelas sind viele Waffen im Umlauf, Jugendliche mit Schnellfeuergewehren bewachen dort die Reviere der Drogenbanden. Sicherheitskräfte wagen sich teils nur noch mit Unterstützung des Militärs in die Armengebiete, wobei diese mitunter von Polizeikräften übernommen werden, die anschließend ihrerseits das Drogengeschäft betreiben.

Da sich die jährlichen Tötungen durch Schußwaffen seit Mitte der 1980er Jahre verdoppelt hatten, verabschiedete der brasilianische Senat 2003 ein strenges Waffengesetz. Wer eine Waffe kaufen wollte, mußte seither mindestens 25 Jahre alt sein, durfte keine Vorstrafen haben, mußte einen festen Job und einen festen Wohnsitz nachweisen können sowie einen psychologischen Test und ein Waffentraining absolvieren. Zudem mußten angehende Waffenbesitzer begründen, weshalb sie es für nötig hielten, sich eine Waffe zur Selbstverteidigung anzuschaffen.

Im Zuge der zugleich ins Leben gerufenen Kampagne einer Rückgabe von Schußwaffen in Privatbesitz wurden über eine Million Waffen abgegeben, wofür der Staat die Waffenbesitzer mit umgerechnet bis zu hundert Dollar entschädigte. In den ersten vier Jahren nach der Verabschiedung des Entwaffnungsgesetzes sank die Mordrate um 12 Prozent. Danach nahm sie jedoch wieder zu und war 2017 so hoch wie nie zuvor. Ein Grund dafür waren die Auseinandersetzungen zwischen kriminellen Organisationen, die in den Drogenhandel verwickelt sind. Am stärksten betroffen sind die Amazonas-Region, der arme Nordosten des Landes sowie Rio de Janeiro.

Kritiker einer Liberalisierung des Waffengesetzes weisen darauf hin, daß dies auch Kriminelle begünstigen wird: Die meisten Waffen, die bei Verbrechen benützt werden, wurden zu einem früheren Zeitpunkt legal erworben. Auch eine Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung sah die von Bolsonaro angekündigte Lockerung zunächst skeptisch. Laut einer Umfrage vom August 2018 befürworteten 58 Prozent die damals noch bestehenden Restriktionen. Bolsonaro kümmerte das nicht. Er forderte seit langem eine Aufweichung des Waffengesetzes und mehr Nachsicht für Polizisten, die von ihren Schußwaffen Gebrauch machen. Auch dies stieß auf Kritik, da die brasilianische Polizei 2017 über 5000 Personen getötet hatte, ein Fünftel mehr als im Jahr davor. Bolsonaros Kritiker warnten deshalb, daß der neue Präsident die ohnehin grassierende Polizeigewalt befeuere.

Sein Einsatz für die bewaffnete Selbstverteidigung hat nicht nur einen politischen, sondern auch einen wirtschaftlichen Hintergrund, da das Land über eine große Waffenindustrie verfügt. Brasilien ist nach den USA und Italien der drittgrößte Exporteur von Handfeuerwaffen weltweit. Die Waffenlobby verspürte nach dem Rechtsruck bei den Wahlen Rückenwind. Als sich Bolsonaros Sieg abzeichnete, stiegen die Aktien des Waffenherstellers Forjas Taurus um 400 Prozent. Wenige Tage nach der Wahl präsentierten Parlamentarier einen Gesetzesvorstoß, der das Mindestalter für Waffenkäufer auf 21 Jahre senken und die Begründungspflicht abschaffen wollte. [4]

Jair Bolsonaro, der die Militärdiktatur offen verherrlicht, hegt keinesfalls die Absicht, das staatliche Gewaltmonopol zu schwächen. Im Zuge seiner Politik der harten Hand stärkt er nicht nur Streitkräfte und Polizeien, sondern ergänzt dies um die erleichterte private Bewaffnung in Händen jener Bevölkerungsteile, die er als seinesgleichen definiert und sozialrassistisch gegen alles und jedes aufrüsten will, was in seinen Augen unter Abschaum firmiert. Ob dunklere Hautfarbe oder indigene Herkunft, andere geschlechtliche Orientierung als die traditionelle Familie oder feministisches Aufbegehren gegen das Patriarchat - all das und vieles mehr soll verfolgt, unterworfen und nicht zuletzt mit Waffengewalt eliminiert werden. Der Herrschaft der weißen Männer Brasiliens dürfen in seinem Gesellschaftsentwurf keine Grenzen gesetzt werden, und das nicht allein mit dem Finger am Abzug. So hat die brasilianische Regierung dieser Tage auch die Mittel für den Kampf gegen den Klimawandel fast komplett gestrichen. Wie Zeitungen des Landes berichten, wurden die im Haushalt vorgesehenen Maßnahmen um 95 Prozent gekürzt. [5]


Fußnoten:

[1] www.spiegel.de/politik/ausland/brasilien-jair-bolsonaro-lockert-das-waffenrecht-a-1266302.html

[2] www.welt-sichten.org/artikel/36109/brasilianischer-praesident-bolsonaro-lockert-waffengesetz-weiter

[3] www.faz.net/aktuell/politik/ausland/brasiliens-praesident-bolsonaro-erleichtert-waffenbesitz-15990722.html

[4] www.nzz.ch/international/brasilien-ist-das-land-mit-der-weltweit-hoechsten-mordrate-die-loesung-des-neuen-praesidenten-mehr-waffen-fuer-die-buerger-ld.1448360

[5] www.deutschlandfunk.de/brasilien-bolsonaro-lockert-waffengesetz.2932.de.html

8. Mai 2019


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