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REPRESSION/1611: Sicherheit - der Weg zum Polizeistaat ... (SB)



Anders als bisher soll die Polizei in Zukunft schon dann Menschen überwachen, verfolgen und gefangen nehmen dürfen, wenn ihnen unterstellt wird, über Straftaten nachzudenken, ohne sie tatsächlich auszuführen. Das ist eine ganz grundsätzliche Änderung der Rolle der Polizei in unserer Gesellschaft, ein so genannter Paradigmenwechsel. Die Verwischung der Grenzen zwischen polizeilicher und nachrichtendienstlicher Tätigkeit stellt die Gewaltenteilung infrage.
Bündnis gegen das neue niedersächsische Polizeigesetz [1]

Die Überwachung, Kontrolle und Sanktionierung der Bevölkerung durch staatliche Sicherheitsbehörden ist europaweit auf dem Vormarsch. So wurde im November 2016 in Großbritannien mit dem Investigatory Powers Act eines der schärfsten Überwachungsgesetze rechtskräftig, das je in einer Demokratie beschlossen worden war. Es verpflichtet unter anderem Internetanbieter, für jeden Kunden eine Liste aller besuchten Internetseiten zwölf Monate lang zu speichern. Sicherheitsbehörden dürfen zu Hackern werden und massenhaft Überwachungsdaten sammeln. Auch die Listen kontaktierter Telefonnummern und aufgerufener Internetseiten von Journalisten müssen ausgehändigt werden, wenn ein Richter das anordnet. Damit nicht genug, sollen Entwickler künftig Hintertüren oder Schwachstellen in eigene Produkte einbauen, damit ihre Kunden überwacht werden können.

Im Frühjahr 2017 legte die Bundesregierung nach und brachte ein ganzes Paket neuer Überwachungsgesetze im Eiltempo durch Ausschüsse, Bundestag und Bundesrat, um kurz vor Ende der Legislaturperiode die Bürgerrechte massiv zu schwächen. Aus einer breiten Palette an Maßnahmen stechen erweiterte Befugnisse der Polizei hervor: Ermittler sollen künftig mit Zustimmung eines Richters sogenannte Staatstrojaner auf Handys und Computer von Verdächtigen aufspielen dürfen. Mit der Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) sollen Nachrichten sogar schon im Rechner des Absenders abgefangen werden, bevor sie verschlüsselt werden. Und dies soll künftig nicht nur zur Terrorabwehr, sondern auch bei Straftaten wie Mord, Totschlag, Steuerhinterziehung oder Geldfälschung eingesetzt werden. Das BKA-Gesetz erweitert Zuständigkeiten des Bundeskriminalamts und hebt das Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten auf, das sich aus dem Verfassungsprinzip des Rechtsstaats ableitet. Geheimdienste dürfen Ausweis- und Paßbilder vollautomatisch abrufen, das neue Bundesdatenschutzgesetz weicht den Datenschutz auf, wovon vor allem Videoüberwachung, Scoring, Profiling und Gesundheitsdaten betroffen sind. Und nicht zuletzt tritt die Vorratsdatenspeicherung in Kraft.

Im Juli 2017 folgten die Niederlande mit dem umfassendsten Überwachungsgesetz ihrer Geschichte. Dort dürfen die Sicherheitsbehörden und Geheimdienste einen Großteil der kabelgebundenen Datenströme überwachen und die so gewonnenen Daten bis zu drei Jahre speichern. Dies umfaßt die E-Mail-Kommunikation, Einträge in sozialen Netzwerken, aber auch Telefongespräche, wobei es den Behörden ermöglicht werden soll, etwa neben den Metadaten der Telekommunikation auch besuchte Websites zu protokollieren. Zudem steht die Überwachung nicht mehr unter einem Richtervorbehalt, sondern wird künftig von dem Innen- und dem Verteidigungsminister genehmigt. Die Resultate dürfen überdies mit "befreundeten" Geheimdiensten geteilt und an verbündete Länder weitergegeben werden.

Die enge zeitliche Nähe und inhaltliche Verwandtschaft der Überwachungsgesetze in diesen drei Ländern zeugt von einer konzertierten strategischen Offensive, die zweifellos abgestimmt und von langer Hand vorbereitet worden ist. Dies setzte sich fort, als der damalige Bundesinnenminister De Maizière im Dezember 2017 eine weitere Zentralisierung der Sicherheitsbehörden forderte: Aufhebung des föderalen Prinzips, Zusammenfassung von Verfassungsschutzbehörden, Zusammenarbeit von Geheimdiensten und Polizeien, was seinen Niederschlag in sogenannten Antiterrorgesetzen findet. Wer ein Gefährder ist, entscheidet nicht ein Gericht, sondern die Polizei. Die Unschuldsvermutung wird außer Kraft gesetzt. Polizei und BKA werden in allen Bereichen aufgestockt.

Alle Bundesländer sind verpflichtet, ihre Polizeiaufgabengesetze an die neuen Datenschutzrichtlinien der Europäischen Union und an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum BKA-Gesetz anzupassen. Obgleich die Polizei verfassungsrechtlich Sache der Bundesländer ist, wollen Innenminister und Bundesregierung eine einheitliche Sicherheitsstruktur schaffen. Sie planen ein sogenanntes Musterpolizeigesetz, das die Innenministerkonferenz als Vorlage für die Bundesländer erarbeitet. Nachdem Baden-Württemberg (November 2017) und Bayern (Mai 2018) mit neuen Polizeigesetzen vorgelegt haben, folgen nun Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Berlin, Hamburg und Saarland.

Das neue Niedersächsische Polizei- und Ordnungsbehördengesetz soll im November im Landtag verabschiedet werden. Es beinhaltet unter anderem die Überwachung des Online-Verkehrs, die Festsetzung mutmaßlicher Gefährder im Unterbindungsgewahrsam, die Wohnraumüberwachung, Meldeauflagen, Kontaktverbote, die Anordnung einer Fußfessel ohne richterliche Entscheidung und viele andere Einschränkungen mehr. Ein zentraler Kritikpunkt ist die Möglichkeit der Polizei, sogenannte terroristische Gefährder bis zu 74 Tage in Gewahrsam zu nehmen. Grundlage für diese Entscheidung ist eine Gefahrenanalyse der Sicherheitsbehörde, die regelmäßig von einem Verwaltungsgericht überprüft werden muß. Damit können also Menschen ohne Feststellung einer Schuld auf bloßen Verdacht hin eingesperrt werden. [2]

Die gesetzlichen Vorschriften sind zum Teil so unpräzise formuliert, daß ihre Anwendung nicht auf mutmaßliche Terrorverdächtige beschränkt bleiben wird. Sie können tatsächlich jeden treffen, der auf irgendeine Weise ins Visier der Behörden gerät. Dies gilt natürlich um so mehr, als angesichts der aktuellen politischen Verwerfungen samt des Vordringens der AfD künftig noch repressiver ausgerichtete Regierungen in den Bundesländern zu befürchten sind. Bislang reicht indessen das Spektrum etablierter Parteien vollkommen aus, den Polizeistaat innovativen Zuschnitts auf den Weg zu bringen. Ob Grün-Schwarz in Baden-Württemberg, die CSU in Bayern, Schwarz-Gelb in NRW oder Schwarz-Rot in Niedersachsen, überall gingen Regierungsverantwortung und Staatsräson in eins.

Nun soll mit Brandenburg erstmals ein Bundesland ein neues Polizeigesetz erhalten, das von einer rot-roten Koalition regiert wird. Der Entwurf beinhaltet im wesentlichen die bereits am Beispiel des BKA-Gesetzes und der Version Niedersachsens genannten Verschärfungen, weshalb hier nur noch einige weitere Komponenten erwähnt werden sollen. Die Schleierfahndung soll künftig auch auf Durchgangsstraßen ohne Anlaß möglich sein. Videoüberwachungen sollen auch im Umfeld besonders gefährdeter Objekte der Infrastruktur möglich sein, was bei Flughäfen oder Kraftwerken de facto ganze Landesteile einschließen kann. Erkennungsdienstliche Maßnahmen bei Verdacht, Aufenthaltsverbote an bestimmten Orten und Kontaktverbote mit bestimmten Personen sowie die elektronische Fußfessel sind ebenfalls vorgesehen. Wer die Auflagen verletzt, soll bis zu einem Monat inhaftiert werden können, bei "vorsätzlich unkooperativen Personen" und "deutlichen Zuwiderhandlungen" droht sogar Untersuchungshaft.

Brandenburgs Polizeipräsident Hans-Jürgen Mörke, der bis zur Wende als Leiter eines Volkspolizei-Kreisamtes auch für dessen Abteilung politische Polizei zuständig war, rüstet die Polizeien des Landes bereits kräftig auf: Allschutz-Fahrzeuge, Nachtsichtgeräte, Titanhelme und Stichschutzwesten, im Ernstfall soll auch der Einsatz von Handgranaten erlaubt sein. Das Sondereinsatzkommando soll personell aufgestockt und mit dem Sturmgewehr G36 ausgestattet werden. Wie andernorts wird auch hier die Lücke zwischen polizeilichen und militärischen Einsatzkommandos zunehmend geschlossen. [3]

Daß die Experten aus Wissenschaft, Behörden und Initiativen, die im Innenausschuß des Landtags in Hannover zu dem geplanten Gesetzesvorhaben Stellung nehmen konnten, mehr als ein Feigenblatt angeblicher öffentlicher Beteiligung darstellen, darf bezweifelt werden. Zum einen ist ihr Votum aufgrund der Zusammensetzung kontrovers, zum anderen muß sich die Landesregierung ohnehin nicht danach richten. Letzteres dürfte auch für die Datenschutzbeauftragte Barbara Thiel (CDU) gelten, die kein gutes Haar am neuen Polizeigesetz ließ: "Unter dem Deckmantel, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, beschneiden die vorgeschlagenen Regelungen die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger bis zur Unkenntlichkeit." Es sei nicht "ansatzweise erkennbar, warum derartige Verschärfungen erforderlich sind". [4]

In allen betroffenen Bundesländern haben sich Bündnisse gegründet, um der Verabschiedung der jeweiligen Landespolizeigesetze Widerstand entgegenzusetzen. Am Himmelfahrtstag demonstrierten in der Münchner Innenstadt rund 40.000 Menschen gegen das Polizeiaufgabengesetz, was selbst die kühnsten Erwartungen weit übertraf. Etwa 20.000 waren es zuletzt in Düsseldorf, und für den 8. September ist eine Großdemonstration in Hannover angekündigt. Datenschützer und Bürgerrechtler mobilisieren für den 29. September zu einer Demonstration unter dem Motto "Freiheit statt Angst - Stoppt die Polizeigesetze" nach Berlin, und für den 24. November ruft das Bündnis "Unheimlich sicher" zu einer Demonstration gegen die diesjährige Innenministerkonferenz (IMK) in Magdeburg auf. Auf deren Tagesordnung stehen dem Bündnis zufolge unter anderem die Neubewaffnungen der Landes- und Bundespolizei, weitere Einschränkungen des Demonstrationsrechtes und die weitere Legalisierung optisch-akustischer Überwachung. [5]


Fußnoten:

[1] www.niedersachsentrojaner.de

[2] www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Geplantes-Polizeigesetz-Experten-aeussern-Kritik,polizeigesetz116.html

[3] www.wsws.org/de/articles/2018/08/27/brand-a27.html

[4] www.hna.de/lokales/goettingen/goettingen-ort28741/lob-und-scharfe-kritik-streit-ums-neue-polizeigesetz-fuer-niedersachsen-10107537.html

[5] www.jungewelt.de/artikel/335523.von-wegen-drohende-gefahr.html

29. August 2018


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