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REPRESSION/1595: Ankara - Fundamentalopposition gegen Erdogan ... (SB)



Bei der vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahl in der Türkei am 24. Juni verlieren AKP und MHP ihre Mehrheit, wenige Wochen später scheitert Recep Tayyip Erdogan in der Stichwahl um das höchste Staatsamt. Das Präsidialsystem tritt nicht in Kraft, der Ausnahmezustand wird aufgehoben, die Gefängnistore öffnen sich, die Streitkräfte werden aus Syrien abgezogen, die Demokratie kehrt ins Land zurück, die Menschen tanzen auf den Straßen. Dieser Wunschtraum wird kaum in Erfüllung gehen. Erdogan hat nicht über Jahre ein autokratisches Regime errichtet, um sich ausgerechnet bei dessen Vollendung stürzen zu lassen. Wer seine Hoffnung in den bevorstehenden Urnengang setzt, sollte nie außer acht lassen, daß keine Wahlen im rechtsstaatlichen Sinne stattfinden. So ist die HDP seit Juni 2015 massiven Repressionen ausgesetzt, die bis heute anhalten: Fast 10.000 Parteimitglieder, rund hundert Bürgermeister und neun Parlamentarier sitzen im Gefängnis. Im Herbst 2016 wurden auch die Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag festgenommen. Gegen Demirtas laufen mehrere Prozesse, ihm drohen bis zu 142 Jahre Haft.

Zudem finden die Wahlen unter dem Ausnahmezustand statt, der wichtige Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit einschränkt und dem polizeilichen Zugriff nahezu freie Hand gibt. Die Medien sind weitgehend gleichgeschaltet, und wie schon 2017 ist auch diesmal mit massiven Behinderungen der Opposition bis hin zu tätlichen Angriffen auf Wahlkämpfer oder deren Verhaftung zu rechnen. Um nichts dem Zufall zu überlassen, wurde im März ein neues Wahlgesetz verabschiedet, das de facto jegliche Manipulationen der kommenden Wahlen legalisiert. Es ermöglicht Parteienbündnisse, deren Stimmen gemeinsam gewichtet werden, so daß die MHP nicht an der Zehn-Prozent-Hürde scheitert. Die Regierungspartei darf Beobachter in die Wahllokale entsenden, die auch die Wahlurnen an sich nehmen können. Ungestempelte Wahlzettel, die beim Verfassungsreferendum 2017 maßgeblich zur Manipulation genutzt wurden, sind nun offiziell zugelassen, so daß das Wahlergebnis gefälscht werden kann.

Damit nicht genug, setzt die Regierung auf Stimmenkauf. So werden die etwa zwölf Millionen Rentner im Land mit einem Geldgeschenk im Wert von umgerechnet rund fünf Milliarden Euro bedacht. Jeder Rentner erhält demnach eine Woche vor der Juni-Wahl eine Zahlung von umgerechnet rund 200 Euro vom Staat, später soll eine weitere Tranche folgen. Zudem will die Regierung neue Vergünstigungen bei Schulden, Gebühren und Steuern einräumen. [1] Daß sich zu Erdogans Zuckerbrot stets die Peitsche gesellt, erwies sich abermals, als sein ehemaliger Partner und heutiger Kritiker Abdullah Gül als aussichtsreicher Gegenkandidat ins Gespräch kam. Nach Angaben aus Oppositionskreisen schickte der Präsident sogar seinen Generalstabschef Hulusi Akar mit dem Hubschrauber nach Istanbul, wo er Gül drei Stunden lang bekniet haben soll. Die Regierung setzte alles daran, Akars Besuch unter der Decke zu halten. Eine Online-Meldung des Senders Habertürk wurde gelöscht, der Chef der Internet-Abteilung des Senders mußte seinen Posten aufgeben. Erdogan erklärte drohend, er wisse genau, wer alles mit Gül unter einer Decke gesteckt habe: "Ich kenne jeden einzelnen Namen." [2]

Gül verzichtete auf seine Kandidatur. Möglicherweise will er seinen Lebensabend nicht hinter Gittern verbringen und seine Familie in Sicherheit wissen. Nach offizieller Lesart verhinderte Güls Vergangenheit als langjähriger Partner Erdogans den Konsens in der Opposition, insbesondere die säkularistische CHP soll heftige Einwände ins Feld geführt haben. Hätte es eine "sehr breite Übereinstimmung" bei den Erdogan-Gegnern gegeben, wäre er ins Rennen gegangen, so Gül. Doch die sei nicht zustande gekommen. Der Ex-Präsident verband seine Verzichtserklärung mit Kritik an der Erdogan-Regierung und warf ihr ein "Klima der Ausgrenzung, Angst und Sorgen" vor.

Erdogan will offenbar mit den überraschend von November 2019 auf Juni 2018 vorgezogenen Neuwahlen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zum einen muß er dem drohenden Absturz der türkischen Wirtschaft zuvorkommen, der ihn die Wählergunst kosten würde. Zum anderen hofft er mit diesem Coup, welcher der Opposition kaum Zeit für Vorbereitung und Wahlkampf läßt, deren Aussichten zu minimieren. Für die seit 16 Jahren regierende AKP fallen die Wirtschaftsdaten und -prognosen zunehmend düster aus. Die Lira hat gegenüber Dollar und Euro stark an Wert verloren, die Inflation und das Handelsdefizit steigen, die Arbeitslosigkeit bleibt trotz starker Wachstumszahlen mit offiziell 10,4 Prozent auf hohem Niveau. Experten warnen vor einem Kollaps der Wirtschaft, nach der Wahl drohe die schwerste Wirtschaftskrise in der Geschichte der Republik.

Die Ratingagentur Standard & Poor's hat die Kreditwürdigkeit der Türkei inzwischen als "spekulativ" eingestuft. Sie setzte die Note des Landes für lang- und kurzfristige Kredite auf BB- beziehungsweise B herab. Diese Abwertung spiegele die Einschätzung wider, daß die überhitzte, kreditfinanzierte Wirtschaft der Türkei eine harte Landung riskiert. Angesichts eines steigenden Leistungsbilanzdefizits und einer hohen Inflation stiegen die Risiken für die Konjunktur, der Verfall der Währung stelle "eine Gefahr für die finanzielle Stabilität" dar. Die Ratingagentur kritisierte zudem, daß die Regierung die "bereits überhitzte" Konjunktur weiter anheizen wolle. Einen Tag zuvor hatte Ministerpräsident Binali Yildirim ein neues Konjunkturprogramm angekündigt, mit dem die AKP-Regierung nicht zuletzt ihre Wahlgeschenke finanzieren und der Bevölkerung künftige Wohltaten vorgaukeln will. [3]

Erdogans Plan, sein Präsidialregime endgültig durchzusetzen, ehe es ein Stimmungsumschwung im Land auf der Zielgeraden verhindern könnte, hat die traditionell zersplitterte Opposition zumindest in Teilen zusammengeführt. In einer Allianz für die Parlamentswahl üben Parteien den taktischen Schulterschluß, die ideologisch durch tiefe Gräben getrennt sind, in ihrer Gegnerschaft zu Erdogan jedoch fürs erste geeint werden. Die Republikanische Volkspartei (CHP) als stärkste Oppositionskraft im Parlament und die Iyi Parti (Gute Partei) der Rechtsnationalistin Meral Aksener haben ein Bündnis mit der islamistischen Glückseligkeits-Partei (SP) und der bürgerlich-konservativen Demokratischen Partei (DP) geschlossen, das auch den beiden kleinen Partnern zum Einzug ins Parlament verhilft.

Als einzige große Oppositionspartei gehört die Demokratische Partei der Völker (HDP) nicht zum Bündnis der Erdogan-Gegner, das die Zusammenarbeit mit der politischen Vertretung der Kurden scheut. Die HDP tritt bei den Parlamentswahlen allein an und kann laut Umfragen ebenfalls mit einem Parlamentseinzug rechnen, was AKP und MHP ihre Mehrheit kosten könnte. Sollte es tatsächlich dazu kommen, aber Erdogan als Präsident bestätigt werden, hätte er dank seiner erweiterten Macht auch ohne eigene Parlamentsmehrheit die Möglichkeit, wichtige Entscheidungen allein zu treffen. Er würde wahrscheinlich, wie nach einer Wahlschlappe der AKP im Jahr 2015 mit Erfolg exerziert, erneute Parlamentswahlen ansetzen und die Opposition bis dahin zerschlagen.

Mithin wäre eine Mehrheit der Opposition im Parlament ein beachtliches Zeichen, aber zugleich nur ein Pyrrhussieg, behielte Erdogan bei der Präsidentschaftswahl die Oberhand. Nach dem Verzicht Abdullah Güls, der als gemeinsamer Gegenkandidat mehrerer Parteien gehandelt worden war, hat die Opposition nun insgesamt fünf Bewerberinnen und Bewerber aufgestellt. Für die CHP geht der langjährige Abgeordnete aus Yalova und frühere Fraktionsvize Muharrem Ince ins Rennen, der als guter Redner und scharfer Kritiker Erdogans gilt. Die Iyi-Partei hat die ehemalige Innenministerin Meral Aksener nominiert. Sie hatte die ultrarechte MHP 2016 im Streit verlassen und im vergangenen Oktober mit anderen Dissidenten die Gute Partei gegründet. Die 61jährige dürfte Stimmen nationalistischer Wähler aus verschiedenen Lagern gewinnen. [4]

Für die kurdische Wählerschaft ist die Hardlinerin hingegen ein rotes Tuch, zumal sie die Kurdinnen und Kurden bis heute nicht als eigenständige Volksgruppe anerkennt. Die HDP bietet ihren früheren Vorsitzenden Selahattin Demirtas auf, obgleich dieser seit eineinhalb Jahren in Haft sitzt. Der charismatische Politiker hatte bei der Präsidentenwahl im August 2014 einen Achtungserfolg gegen Erdogan errungen und die HDP bei der Wahl im Juni 2015 erstmals ins Parlament geführt. Dies hatte Erdogans AKP die Mehrheit gekostet und Demirtas die Feindschaft des Präsidenten eingebracht. Die kleine linksnationalistische Vatan-Partei hat ihren Vorsitzenden Dogu Pirencek aufgestellt, die kleine proislamische Saadet-Partei ihren Chef Temel Karamollaoglu.

Erreicht kein Kandidat im ersten Anlauf mehr als 50 Prozent der Stimmen, folgt am 8. Juli eine Stichwahl. Für diesen Fall haben die Parteien im neuen Oppositionsbündnis verabredet, gemeinsam den stärksten Gegenkandidaten zu unterstützen. Dieses Szenario könnte angesichts der aktuellen Umfragen darauf hinauslaufen, daß den Kurdinnen und Kurden, die rund 20 Prozent der Wahlberechtigten stellen, eine Schlüsselposition zukommt. In einem Gastbeitrag in der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet schrieb Demirtas aus der Haft heraus, diese Wahl werde die türkische Politik der nächsten zehn Jahre beeinflussen. Entweder werde das "autoritäre Ein-Mann Regime seinen endgültigen Sieg verkünden" und sich in eine "vollständige Diktatur verwandeln" oder der Kampf für Demokratie werde gestärkt. [5]

Erdogan wird kein Mittel scheuen, seine Präsidialherrschaft auch und gerade auf den letzten verbliebenen Metern durchzusetzen. Für ihn geht es buchstäblich um alles oder nichts, doch das gilt um so mehr für seine Kritiker und Gegner, denen im Falle seines Sieges eine Zukunft droht, die all das in den Schatten stellt, was sie bereits an scharfer Repression erfahren haben. Daß sich in diesem Klima der Bedrohung und Verfolgung Menschen zusammenfinden und ihre Stimme gegen das despotische Regime erheben, zeugt von einem Widerstandsgeist und Mut, den man nicht hoch genug schätzen kann.


Fußnoten:

[1] www.tagesspiegel.de/politik/wahlen-in-der-tuerkei-es-wird-enger-fuer-erdogan/21236494.html

[2] www.tagesspiegel.de/politik/nach-verzicht-von-ex-praesident-guel-auf-kandidatur-die-tuerkei-steht-vor-einem-neuen-rechtsruck/21227296.html

[3] www.augsburger-allgemeine.de/politik/Standard-Poor-s-stuft-Kreditwuerdigkeit-der-Tuerkei-herab-id42907021.html

[4] www.tagesspiegel.de/politik/parlaments-und-praesidentenwahl-in-der-tuerkei-chp-stellt-muharrem-ince-gegen-erdogan-auf/21243794.html

[5] www.tagesschau.de/ausland/hdp-demirtas-101.html

4. Mai 2018


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