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REPRESSION/1591: Israel - Zeitbombe Gaza ... (SB)



Aber was meinen Sie, was ein israelischer Soldat machen soll, wenn ein Terrorist auf ihn zukommt und über die Grenze kommen will? Es gibt keine andere Möglichkeit als zu schießen.
Grischa Jakubovich, Oberst der Reserve in der israelischen Armee [1]

Wenn von einer Lösung des Nahostkonflikts zwischen Israel und den Palästinensern die Rede ist, blendet die zu einer Leerformel geronnene "Zweistaatenlösung" die Realität fortgesetzter Vertreibung palästinensischer Menschen weitgehend aus. Nicht das im Zuge der aktuellen Proteste geforderte Rückkehrrecht steht zur Disposition, sondern im Gegenteil die mit militärischen, administrativen und juristischen Mitteln vorangetriebene Einschränkung existentieller Voraussetzungen mit dem einzig absehbaren Ziel, sich des "Palästinenserproblems" im Zuge eines Verdrängungsprozesses endgültig zu entledigen. Die in Kreisen israelischer Regierungspolitik aufgeworfene Option, den Löwenanteil des Westjordanlands endgültig zu okkupieren, die restlichen Fragmente unter jordanische Verwaltung zu stellen und den Gazastreifen an Ägypten abzutreten, spiegelt diese Stoßrichtung wider, ohne eine noch weitreichendere Variante auszuschließen.

Daß eine israelische Regierung eine Einstaatenlösung zulassen könnte, wurde mit der Doktrin vom "jüdischen Staat Israel" de facto ausgeschlossen, die arabische Israelis zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradiert. Kämen die Palästinenserinnen und Palästinenser hinzu, geriete der jüdische Bevölkerungsanteil tendenziell zu einer Minderheit. Dies erforderte die Bereitschaft zu einer Koexistenz auf gleicher Augenhöhe, was für die israelische Führung und wohl auch die Bevölkerungsmehrheit undenkbar wäre. Auch die Zweistaatenlösung ist längst entsorgt, da die Siedlungspolitik im Westjordanland und in Ostjerusalem zu einer progressiven und aus israelischer Sicht unumkehrbaren Fragmentierung des palästinensischen Territoriums geführt hat, die einen lebensfähigen Staat Palästina unmöglich macht. Denkbar wäre allenfalls eine von Israel umfassend kontrollierte Enklave mit dem Status eines Protektorats, doch selbst dies erforderte einen Kurswechsel der israelischen Politik und Staatsideologie, wie er weniger denn je zu erkennen ist.

Die gängige Faustformel, eine Lösung des Nahostkonflikts könne nur in direkten Verhandlungen herbeigeführt werden, unterschlägt deren systematische Blockade. Zwar wiederholt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ein ums andere Mal sein Mantra, er sei zu Verhandlungen ohne Vorbedingungen bereit. Dabei setzt er jedoch den ungebremsten Siedlungsbau und den Anspruch auf ganz Jerusalem als Hauptstadt Israels als unverhandelbar voraus, obgleich sie für die Palästinenser zwangsläufig nicht hinnehmbar sind. Machen diese geltend, daß Netanjahus Formel von Verhandlungen ohne Vorbedingungen darauf hinausläuft, daß sie von vornherein essentielle Forderungen preisgeben sollen und damit bereits verloren hätten, bevor sie überhaupt am Verhandlungstisch Platz nehmen, bezichtigt er sie fehlender Verhandlungsbereitschaft.

Solange sich die israelische Regierung der prinzipiellen Unterstützung seitens ihrer Verbündeten sicher sein kann, die sie finanziell, militärisch, politisch und ökonomisch alimentieren, wird sich daran nichts ändern. Der scheidende US-Präsident Barack Obama, dessen gestörtes Verhältnis zu Netanjahu und der rechtsnationalen Regierung in Jerusalem in aller Munde war, hat Israel dennoch mit 38 Milliarden US-Dollar für Rüstungskäufe in den nächsten zehn Jahren den größten Militärdeal der Geschichte zugeschanzt. Sein Nachfolger Donald Trump legt massiv nach, erkennt Jerusalem als die Hauptstadt Israels an, verlegt die US-Botschaft dorthin und unterstützt den Siedlungsbau.

Die europäischen Regierungen und insbesondere die der Bundesrepublik halten der israelischen Führung im Umgang mit der palästinensischen Bevölkerung den Rücken frei, deren sporadisches Aufbegehren unter das Terrorverdikt gestellt wird. Gelegentliche Mahnungen und kritische Einwände sind bloßer Wellenschlag, der die Oberfläche kräuselt und folgenlos verebbt. Unterdessen wird der Gazastreifen am Tropf der Hilfsgelder notdürftig am Leben gehalten. Seit fast elf Jahren riegeln Israel und Ägypten den Küstenstreifen weitgehend ab, so daß er einem Freiluftgefängnis für zwei Millionen Menschen gleicht, die dort unter unwürdigen Lebensbedingungen eingepfercht sind. 1,3 Millionen Menschen sind von Lebensmittelhilfe abhängig, das Wasser ist ungenießbar, Strom gibt es nur wenige Stunden am Tag. Die Wirtschaft liegt am Boden, größter nichtstaatlicher Arbeitgeber sind die Vereinten Nationen, die Gesundheitszentren und viele Schulen betreiben. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 40, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei über 60 Prozent. Die staatlichen Angestellten bekommen häufig nur einen Bruchteil ihrer Gehälter und auch das teils mit monatelanger Verspätung. Die Bevölkerung, zur Hälfte 18 Jahre und jünger, sieht sich in einer ausweglosen Situation gefangen. [2]

Diese verheerenden sozialen Verhältnisse sind der maßgebliche Nährboden von Protest und Widerstand, der nun von den israelischen Streitkräften abermals massiv niedergeschlagen wird. Im Zuge der folgenschwersten Auseinandersetzungen seit dem Gazakrieg 2014 sind bisher 32 Palästinenser getötet und rund 2800 verletzt worden, die meisten davon durch Tränengas. Hunderte erlitten nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums Schußverletzungen. Scharfschützen nehmen gezielt einzelne Menschen unter Feuer, was derzeit aufgrund einer Videosequenz, die in sozialen Medien kursiert, Empörung ausgelöst hat. Der kurze Film zeigt einen israelischen Soldaten, der auf einen offenbar unbewaffneten Mann zielt und schießt. Der Mensch fällt zu Boden, und Kameraden des israelischen Schützen reagieren mit Freudenschreien. "Dieser Hurensohn", ruft einer von ihnen auf Hebräisch. Es ist unklar, woher die Aufnahme stammt und ob sie während der jüngsten Massenproteste an der Gazagrenze gemacht wurde. Die israelische Armee erklärte, das Video zeige offenbar einen Vorfall, der sich vor einigen Monaten ereignet habe. Man werde ihn gründlich untersuchen. Die israelische Menschenrechtsorganisation Betselem verurteilte "die illegalen Befehle, die Soldaten anweisen, auf Menschen zu schießen, die niemanden gefährden". Es habe Hunderte solcher Vorfälle an der Grenze gegeben. [3]

Wie so oft sind es einzelne Schicksale, die zumindest befristet durch die Nebelwand medialer Relativierung ins Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit vordringen. Das gilt auch für den 30jährigen palästinensischen Fotojournalisten Jassir Murtadscha, der von einem israelischen Scharfschützen getötet wurde. Er hatte die Proteste nahe des Grenzzauns gefilmt und trug eine Schutzweste, die klar mit "Presse" gekennzeichnet war, wie Videoaufnahmen belegen. Christophe Deloire, Generalsekretär von "Reporter ohne Grenzen", verurteilte das Vorgehen der israelischen Armee. Der palästinensische Fotograf sei offenbar Opfer eines gezielten Schusses geworden. [4]

Israels Verteidigungsminister Avigdor Lieberman wies alle Vorwürfe zurück und erklärte, jeder wisse doch, daß die israelische Armee die moralischste der Welt sei. "Wir haben dutzende Fälle gesehen, wo sich Hamas Terroristen als medizinisches Personal oder als Journalisten verkleidet haben. Wir werden keine Risiken eingehen." Die israelische Regierung wirft der Hamas vor, die Demonstrationen für ihre eigenen Zwecke zu nutzen und unter dem Deckmantel friedlichen Protests Terroranschläge vorzubereiten. Jeder, der sich in der Pufferzone aufhalte und dem Zaun nähere, werde deshalb als Bedrohung angesehen. Das Sperrgebiet an der Grenze wurde zur militärischen Zone erklärt, und wer es betritt, muß damit rechnen, daß auf ihn geschossen wird. Wer würde sich dem Grenzzaun nähern und damit sein Leben riskieren? Gemäß militärischer Logik, die auf politische Weisung ihre eigenen Fakten schafft, kann das eigentlich nur ein "Terrorist" sein, selbst wenn er sich als Sanitäter, Fotoreporter oder als Kind tarnt.

Die Palästinenserinnen und Palästinenser gedachten am "Tag des Bodens" massiver Landenteignungen und sechs israelischer Araber, die am 30. März 1976 in dem Ort Sachnin von der israelischen Polizei getötet wurden. Sie wollen am 14. Mai gegen die Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem protestieren. Und sie begehen den 15. Mai als Nakba-Tag (Tag der Katastrophe), weil im ersten Nahostkrieg 1948 rund 700.000 Menschen aus der Generation ihrer Großeltern und Eltern flohen oder vertrieben wurden. Während sie nun seit Tagen im Gazastreifen für das Rückkehrrecht demonstrieren, sorgt die massive Präsenz der israelischen Streitkräfte mit Panzern, Scharfschützen, Gummigeschoßen und Tränengas dafür, daß sie ihr Internierungsgefängnis nicht einmal einen Fußbreit verlassen können, ohne den höchsten Preis dafür zu bezahlen.


Fußnoten:

[1] www.fr.de/politik/nahost-es-gibt-keine-andere-moeglichkeit-als-zu-schiessen-a-1482185,2

[2] www.deutschlandfunk.de/proteste-im-gaza-streifen-kalkuel-und-verzweiflung.1773.de.html?

[3] www.merkur.de/politik/video-von-schuss-auf-palaestinenser-sorgt-fuer-weltweites-entsetzen-zr-9765659.html

[4] www.dw.com/de/gaza-tod-eines-journalisten-wird-zum-streitfall/a-43300669

10. April 2018


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