Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


REPRESSION/1570: Alleingelassen ... kurdischer Widerstand in Sengal und Rojava (SB)



30. April in Berlin - rund 50 Mannschaftswagen der Polizei sind in den Straßen rund um den Franz-Neumann-Platz postiert, wo für 14.30 Uhr eine Demonstration unter den Mottos "Freiheit für Rojava - Lang lebe der Widerstand in Sengal und Rojava - Keine Waffen für Erdogan" angekündigt ist. Einige hundert Menschen, vor allem Kurdinnen und Kurden, finden sich allmählich auf dem Platz ein. Auch wenn nicht alle Mannschaftswagen die Demo begleiten, kommen am Anfang mehrere Polizisten auf jede Demonstrantin. Wer auf den Platz will, muß durch einen Polizeikordon und wird möglicherweise abgetastet. Eine kleine alte Dame mit einer Mütze in kurdischen Farben wird inklusive Handtascheninspektion genau untersucht. Die Frage des Schattenblick, ob eine derartig intensive Überwachung kurdischer Demonstrationen die Regel sei, wird von einem der Organisatoren bejaht. Immer wenn Kurdinnen und Kurden ihrer Sorge um das Schicksal der Menschen in Rojava und Sengal, die Angriffen der türkischen Streitkräfte als auch der Bedrohung durch den mit der türkischen Regierung kooperierenden Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, Masud Barzani, ausgesetzt sind, öffentlich Ausdruck geben, wird dies bei den Repressionsorganen als eine Art Hochsicherheitsrisiko eingestuft.

Das allerdings nicht aus der Position unbeteiligter Ordnungshüter heraus, sondern eines Staates, der die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung in der Türkei, im Nordirak und in Nordsyrien politisch und militärisch flankiert. Die Bundesregierung liefert Waffen an fast alle Akteure des Nahen und Mittleren Ostens, die, wenn sie den IS nicht direkt unterstützen, ihm zumindest Rückendeckung verschaffen, und sei es, indem sie die Gegner des IS bekämpfen, namentlich die kurdischen und ezidischen Selbstverteidigungskräfte in Rojava und Sengal. Ob Saudi-Arabien, Katar, die Regierung in Ankara oder Erbil, die Bundesrepublik sichert ihre hegemonialen Interessen durch Aufrüstung der reaktionärsten Akteure. Indem die militärischen Kräfte Rojavas und Sengals, die an vorderster Front gegen den IS kämpfen, von türkischen Streitkräften und mit Ankara kooperierenden Peschmerga bekämpft werden, wird dem IS eine Atempause verschafft.

Anfang März wurden zwei Mitglieder kurdischer Selbstverteidigungskräfte aus einem gepanzerten Transportfahrzeug deutscher Produktion heraus von sogenannten Roj Peschmerga in Sengal erschossen. Am 25. April bombardierten türkische Kampfflugzeuge Stellungen in Rojava und Sengal, was mindestens 70 Tote zur Folge hatte, ohne daß dies zu einer Verurteilung durch EU-Staaten oder die USA führte. Letztere unterstützen die kurdischen Selbstverteidigungkräfte YPG/YPJ im nordsyrischen Rojava militärisch im Kampf gegen den IS, was der türkischen Regierung sehr ungelegen kommt. Indem sie militärischen Druck auf die nordsyrischen Autonomiegebiete ausübt und versucht, deren drei Kantone sowie Sengal voneinander zu isolieren, könnte sie die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer, die an der Rückeroberung der IS-Hochburg Rakka beteiligt sind, dazu nötigen, von dort abzuziehen, um die türkische Aggression abzuwehren. Das wiederum könnte die US-Regierung veranlassen, die militärische Unterstützung der Selbstverteidigungskräfte in Rojava und Sengal einzustellen, was diese erheblich schwächte.

Die Bundesregierung flankiert die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung auch durch das PKK-Verbot und dessen drastische Verschärfung Anfang März. Rund 800.000 in Deutschland lebende Kurdinnen und Kurden werden daran gehindert, die Symbole der Organisationen ihrer Befreiungsbewegung oder das Bild des in türkischer Isolationshaft befindlichen Abdullah Öcalan öffentlich zu zeigen. Während sich die Bundesregierung dem türkischen Despoten Recep Tayyip Erdogan gegenüber kritisch zeigt, arbeitet sie ihm objektiv in die Hände, indem sie dessen Hauptgegner, die lediglich Autonomierechte verlangende kurdische Bevölkerung in der Türkei wie die in regionaler Autonomie organisierten Bevölkerungen Nordsyriens, hierzulande ohne ersichtlichen Grund als terroristisch kriminalisiert.

So auch am 1. Mai, als auf einer Demo in München ein Transparent mit der Aufschrift "Solidarität mit Sengal & Rojava heißt PKK-Verbot aufheben" beschlagnahmt wurde, weil ein nur teilweise abgebildetes Symbol am Rande des Transparents zur Straftat gemacht und zur Anzeige gebracht wurde. Nicht nur Kurdinnen und Kurden, auch deutsche Unterstützer und Medien laufen Gefahr, bei Mißachtung des faktischen Bilderverbots strafrechtlich verfolgt zu werden. Indem die Bundesregierung die Behauptung des Erdogan-Regimes, die PKK und ihre nordsyrischen Verbündeten seien Terrororganisationen und als solche mit dem IS gleichzusetzen, durch die verschärfte Verfolgung vermeintlicher PKK-Mitglieder und -Unterstützer mitvollzieht, fungiert sie faktisch als Instrument türkischer Hegemonialinteressen und Repressionswillkür. Bei vielen Redaktionen in Presse und Rundfunk, die noch über die Verteidigung und Rückeroberung der Stadt Kobani durch die kurdischen Selbstverteidigungskräfte ausführlich berichteten, herrscht in Sachen Rojava und Sengal wie der Unterdrückung der in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden inzwischen Funkstille. Sich diesem Konflikt zuzuwenden wäre auch für die Kritik an der Hegemonialpolitik der Bundesregierung unerläßlich, von der Unterstützung zwischen allen Fronten um ihr Leben kämpfender Menschen ganz zu schweigen.

2. Mai 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang