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REPRESSION/1487: Widerstand gegen Islamisierung, soziale Unterdrückung und Krieg in der Türkei (SB)




Die Massenproteste in der Türkei werden hierzulande als überraschende Entwicklung wahrgenommen, weil das in deutschen Medien verbreitete Türkei-Bild stark von den geostrategischen und ökonomischen Interessen der deutschen Funktions- und Kapitaleliten geprägt ist. Das Land ist ein wichtiger Handelspartner der Bundesrepublik und ein großer Abnehmer deutscher Rüstungsgüter. Die Bundesregierung unterstützt somit direkt die innere Repression gegen die kurdische Bevölkerung wie die strategischen Interessen Ankaras im Nordirak und in Syrien. Die NATO-Staaten hofieren die AKP-Regierung als Garanten ihrer Sicherheits- und Hegemonialinteressen. So gilt die Türkei seit jeher als strategisches Sprungbrett in die islamische Welt, doch wird sie auch als Vorbild für die Etablierung einer mit neoliberalen Wirtschaftsinteressen kompatiblen Staatlichkeit in der arabischen und islamischen Welt propagiert. Gleichzeitig fungiert sie als Riegel, der die EU gegen die kriegerischen Entwicklungen in den Staaten des Mittleren Ostens und die daraus resultierenden Migrationsbewegungen schützen soll.

Dementsprechend wenig erfährt man von deutschen Politikern und Journalisten über die massive Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung, die tausenden politischen Gefangenen, die das Eintreten insbesondere der Kurden für ihre Rechte zu einem gefährlichen Unterfangen macht, die rund 100 inhaftierten Journalisten, die abschreckende Wirkung auf jede regierungskritische Berichterstattung erzeugen. Wenig wissen die Bundesbürger auch über die Praxis deutscher Sicherheitsbehörden, auf allen Ebenen mit den türkischen Repressionsorganen bei der Verfolgung politischer Oppositioneller zusammenzuarbeiten. In Deutschland werden türkische Kommunistinnen und kurdische Aktivistinnen verfolgt, die aus EU-Drittstaaten eigens an die deutsche Justiz ausgeliefert werden, um ihnen unter Verwendung von türkischem Geheimdienstmaterial den Prozeß zu machen, obwohl sattsam bekannt ist, daß in der Türkei nach wie vor gefoltert wird. Die Zusammenarbeit zwischen deutschen und türkischen Geheimdiensten hat eine lange, bis in den NS-Staat zurückreichende Tradition, die auch durch die drei Militärdiktaturen, denen das Land im Rahmen der antikommunistischen Repression während des Kalten Krieges unterworfen war, nicht unterbrochen wurde. Schließlich sollte gerade in der Bundesrepublik niemals vergessen werden, daß der deutsche Imperialismus maßgeblich am Genozid an den Armeniern Anteil hatte, vom Einsatz deutscher Militärausbilder und Truppen in der Türkei während des Ersten Weltkriegs bis zur diplomatischen Rückendeckung durch das Deutsche Reich, auf die die jungtürkische Regierung sich bei ihrem Vorgehen gegen die armenische Bevölkerung berufen konnte.

Es gibt also vieles zu vergessen und zu beschönigen, um die hierzulande verbreitete Wahrnehmung von der Türkei als beliebtem Touristenziel, wertvollem Handelspartner und wichtigem NATO-Staat nicht zu stören. Der nun ausgebrochene Aufstand gegen die Regierung Erdogan entzündete sich am Bau eines Einkaufszentrums auf dem Gelände des Gezi-Parks in Istanbul, dem nicht nur einige der raren Grünflächen in dieser Metropole zum Opfer fallen sollen, sondern das unter anderem auch ein vielgenutztes Kulturzentrum bedroht. Die Istanbuler Bevölkerung protestiert auch gegen Verkehrsgroßprojekte wie den Bau eines dritten Flughafens oder einer weiteren Brücke über den Bosporus. Der vielschichtige Charakter des sich schnell über rund 40 Städte der Türkei ausbreitenden Widerstands zeigt jedoch, daß sich nun darüber hinaus ein seit langem währender Konflikt offen Bahn bricht.

Was zahlreiche linke Gruppen und Organisation, was Gewerkschaften, Kurdinnen und Alewitinnen in diesem Fall mit kemalistischen Nationalisten eint, ist die anwachsende Bedrohung ihrer bürgerlichen Freiheiten durch eine islamische Gesellschaftsdoktrin, die sich bis auf Fragen des Alkoholkonsums und der Kleiderordnung einschränkend auf ihre Lebensweise auswirkt. Arbeiterinnen und Arbeiter haben zusätzliche Gründe, gegen ihre Ausbeutung durch eine sozial höchst konservative und ökonomisch neoliberale Bourgeoisie zu protestieren, die mit der AKP-Regierung aufgestiegen ist. Die Absicht des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, das Regierungsystem des Landes in eine Präsidialdemokratie nach US-amerikanischem Vorbild zu verwandeln, bescherte dem Präsidenten noch mehr Machtfülle, als die Regierung der bei den Parlamentswahlen 2011 knapp unter der absoluten Mehrheit verbliebenen AKP ohnehin genießt. Vor dem Hintergrund einer politischen Repression von freiheits- als auch lebensbedrohender Art kann eine solche Entwicklung nur auf Widerstand großer Teile der Bevölkerung treffen.

Daß Erdogan sich über die Kritik der Protestler an seiner Amtsführung mit der Ankündigung hinwegsetzt, seinerseits eine Million Anhänger auf die Straße zu bringen, daß er auf der Durchführung des Bauprojekts im Gezi-Park besteht und sich verächtlich über die Demonstrantinnen und Demonstranten äußert, unterstreicht den autoritären Charakter seiner Amtsführung. Bislang jedenfalls waren es seine Gegner, die am Samstag eine Million Menschen allein in Istanbul auf die Straße brachten und eine Serie von Demonstrationen entfachten, die auch am Sonntag fortgesetzt wurden. Die Menschen ließen sich nicht davon abschrecken, daß die Polizei Tränengasgranaten in einer Menge abfeuerte, daß die Straßen mit leeren Kartuschen übersät waren, daß sie Gasbomben per Helikopter auf die Protestler abwarf, mit Gummigeschossen und in Einzelfällen offensichtlich auch mit scharfer Munition auf sie feuerte, daß sie mit Panzerfahrzeugen rücksichtslos in die Menge fuhr und wehrlos auf dem Boden liegende Menschen zusammentrat. Über 1000 Protestler wurden bisher festgenommen, Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt.

Im weiteren Sinne könnte man die Kämpfe auf dem Istanbuler Taksim-Platz oder im Stadtteil Besiktas, auf dem Kizilay-Platz in Ankara und in zahlreichen anderen Städten der Türkei auch als Reaktion auf die Instrumentalisierung der arabischen Aufstände zugunsten islamistischer Eliten verstehen. Die Arabellion blieb in einem neokolonialistischen Winkelzug stecken, indem mit dem NATO-Angriff auf Libyen Tatsachen geschaffen wurden, an denen der syrische Präsident Assad nicht mehr vorbeikommt. Indem die führenden NATO-Staaten säkulare Exilanten und islamistische Akteure für ihre Interessen einsetzten, konterten sie den unberechenbaren Charakter eines sozialen Aufstands zugunsten der Fortsetzung der eigenen Vormachtstellung. Was damit noch nicht unter Kontrolle gebracht wurde, wird mit finanziellem Druck durch IWF, Geberstaaten und Investoren paßförmig gemacht.

Indem Erdogan mit Hilfe von Waffen, die insbesondere von Katar über die Türkei an die syrischen Rebellen geliefert wurden, in den Krieg im Nachbarland eingriff und als einer der ersten die Einrichtung einer Flugverbotszone über Syrien forderte, hat er die Rolle des aggressivsten Akteurs unter den NATO-Staaten übernommen. Wie etwa die Anwesenheit von deutscher Patriot-Raketen auf türkischem Gebiet in der Nähe der syrischen Grenze zeigt, geht man in Berlin mit dieser Eskalationspolitik konform. Für die türkische Bevölkerung bedeutet dies, womöglich in einen Krieg verwickelt zu werden, in dem die AKP-Regierung ihren neoosmanischen Machtanspruch auf der Linie des islamistischen Rollbacks der arabischen Aufstände durchzusetzen versucht. Aller Voraussicht nach würde ein Erfolg des Versuches, sich zum regionalen Hegemon aufzuschwingen, die noch stärkere Islamisierung der davon betroffenen Gesellschaften zur Folge habe. Schlimmstenfalls löste er einen Flächenbrand aus, in dem die Türkei womöglich in eine militärische Auseinandersetzung gegen den Iran träte, was aufgrund der Bündnispflicht der NATO auch die Bundeswehr in den Krieg führen könnte.

All das ist den Demonstrantinnen und Demonstranten in der Türkei bewußt, und daher ist es keine Überraschung, daß sie sich erheben, sondern Resultat eines seit langem schwärenden sozialen und kulturellen Konfliktes. Da die AKP-Regierung weiterhin über eine starke Gefolgschaft verfügt, könnte die Situation zu einer gesellschaftlichen Zerrüttung führen, die die Stabilität des Landes maßgeblich erschüttert. Schon aus diesem Grund wird man in den Hauptstädten der NATO-Staaten sehr daran interessiert sein, dieser Entwicklung auf die eine oder andere Art entgegenzutreten.

Fußnote:

Bilder vom Aufstand in der Türkei siehe
http://occupygezipics.tumblr.com/

2. Juni 2013