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REPRESSION/1483: Sand in die Augen - Familien der NSU-Opfer im Schloß Bellevue vorgeführt (SB)




"Der Wille zur Aufklärung ist da", streute Bundespräsident Joachim Gauck den Familien der Neonazi-Mordopfer, die er heute im Schloß Bellevue empfangen hat, Sand in die Augen. Allerdings gebe es weiter Grund, beunruhigt zu sein, legte er sodann programmatisch die Grenzen dessen fest, was man legitimerweise fragen dürfe: "Warum hat es solche Fehler und Fehlentscheidungen in den Ermittlungen gegeben? (...) Auch ich war erschrocken darüber, welche Fehler in mancher Behörde möglich waren." Zu Recht warteten die Angehörigen auf Antworten - "mit steigender Ungeduld, weil doch über ein Jahr vergangen ist". Laut Redemanuskript versprach er: "Ich will mithelfen, dass Ihr Leid weiter wahrgenommen und anerkannt wird. Und dass aufgeklärt wird, wo es Fehler und Versäumnisse gegeben hat, dass darüber gesprochen und wenn nötig auch gestritten wird, was wir daraus lernen müssen!" [1]

Während gerade in Thüringen heftiger Streit zwischen den verschiedenen Polizeien und dem Verfassungsschutz um die Frage tobt, wer wen warum bei den Ermittlungen gegen den sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) massiv behindert, blockiert und ausgebootet hat, bestreitet der Bundespräsident schlichtweg, daß einflußreiche Interessen die Aufklärung bis heute mit allen erdenklichen Täuschungsmanövern und Aktenvernichtungen verhindern. Wo jede systematische Förderung und Steuerung neonazistischer Umtriebe durch staatliche Stellen allen Verdachtsmomenten zum Trotz von vornherein ausgeblendet wird, ist der opportunen Antwort, es habe sich um behördliche Fehler und Fehlentscheidungen gehandelt, das Feld bereitet.

Von da aus ist es nur noch ein kleiner und geradezu logisch anmutender Schritt, eine engere Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Polizei in Bund und Ländern zu fordern und anzubahnen: "Alle Menschen in unserem Land müssen darauf bauen können, dass unser Staat sie schützt. Und darum brauchen wir einen funktionierenden, einen starken, einen wehrhaften Staat. Ich danke all denen, die diesen Staat, zum Beispiel als Polizisten, auch unter Einsatz ihres Lebens schützen." Wie viele andere Protagonisten eines starken Staates vor ihm schlägt auch Gauck leichterdings eine ideologische Brücke zwischen dem angeblichen Versagen des Inlandsgeheimdienstes und der daraus abzuleitenden Konsequenz gebündelter Sicherheitskräfte mit umfassendem Datenabgleich und -zugriff.

Verpackt und verschleiert ist das bei Gauck mit der probaten Leerformel, Deutschland dürfe nicht vergessen, was geschehen ist. Er lobte die Arbeit des Bundestagsuntersuchungsausschusses und der Ombudsfrau Barbara John, die bei dem Treffen mit etwa 70 Angehörigen zugegen war. John habe allen Hinterbliebenen die Gewißheit und das Gefühl gegeben, nicht allein zu sein. Und natürlich durfte ein pastoraler Auftrag an uns alle nicht fehlen. Nach dem Staat zu rufen und Reformen zu fordern, genüge für sich genommen nicht: "Es geht um die Frage, wie im Alltag verhindert werden kann, dass sich Vorurteile und Ressentiments einnisten. Es geht um andere Haltungen, in unseren Behörden und Institutionen, aber auch bei vielen Bürgern."

Gaucks eigene Haltung zur leidigen NSU-Affäre mutet im Rückblick wie eine Achterbahnfahrt an. Noch im November 2012 hatte der Bundespräsident ein Treffen mit Angehörigen der NSU-Mordopfer abgelehnt, die mit ihm unter anderem besprechen wollten, warum Akten vernichtet und Handydaten von Helfershelfern gelöscht worden waren. In einem Schreiben des Bundespräsidialamts hieß es damals, man möge von einem solchen Treffen absehen, der Bundespräsident werde aber die weiteren Ermittlungen "mit Interesse verfolgen". Einen staatlichen Trauerakt lehnte Gauck ebenfalls ab. Er scheine ihm "nicht die richtige Form zu sein, um Toter zu gedenken, deren Ermordung schon so lange zurückliegt"(!). [2]

Zahllose sogenannte Ermittlungspannen, die inzwischen vier Untersuchungsausschüsse beschäftigten, Kritik an den Ermittlungsbehörden im In- und Ausland und das große Interesse an dem Prozeß gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte, der am 17. April 2013 vor dem Oberlandesgericht München beginnt, scheinen zum Umdenken des Bundespräsidenten beigetragen zu haben. Allerdings sind nicht alle Betroffenen glücklich über die Art und Weise, wie Gauck sie in seine präsidialen Arme schließt. So hatte Aysen Tasköprü, die Schwester des in Hamburg von dem NSU ermordeten Süleymann Tasköprü, Gauck gebeten, zu dem Gespräch im Bundespräsidialamt ihre Anwältin mitbringen zu dürfen. Dies wurde mit der Begründung abgelehnt, man wolle die Gruppe der Anwesenden nicht entufern lassen und eine vertrauliche Atmosphäre gewährleisten. Daraufhin schrieb Aysen Tasköprü einen offenen Brief an den Bundespräsidenten:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck, vielen Dank für die Einladung. Ich habe über meine Anwältin gehört, dass Sie nicht wünschen, dass die Rechtsbeistände der Nebenkläger bei dieser Einladung dabei sind. Sie möchten nur ihre Empathie ausdrücken, aber keine Anwälte auf diesem Treffen sehen. Es wäre emphatisch von Ihnen gewesen, nicht darauf zu bestehen, dass ich alleine ins Präsidialamt komme. Ich fühle mich dem nicht gewachsen und werde daher Ihre Einladung nicht annehmen können. (...)
Alles, was ich noch möchte, sind Antworten. Wer sind die Leute hinter dem NSU? Warum ausgerechnet mein Bruder? Was hatte der deutsche Staat damit zu tun? Wer hat die Akten vernichtet und warum? (...) Ihnen, Herr Bundespräsident, ist mein Bruder doch nur wichtig, weil der NSU ein politisches Thema in Deutschland ist. Was wollen Sie an unserem Leid ändern? Glauben Sie, es hilft mir, wenn Sie betroffen sind? Ich würde mir wünschen, dass Sie als erster Mann im Staat mir helfen könnten, meine Antworten zu finden. Da helfen aber keine emphatischen Einladungen, da würden nur Taten helfen. Können Sie mir helfen? Wir werden sehen. Mit freundlichen Grüßen.

Neben Aysen Tasköprü haben noch weitere Angehörige die Einladung ausgeschlagen. Der Münchner Anwalt Yavuz Narin teilte mit, daß seine Mandantinnen nicht nach Berlin reisen werden. In Anwesenheit von mehreren Dutzend Hinterbliebenen habe man keinerlei Möglichkeit, sich mit dem Bundespräsidenten detailliert auszutauschen. Nachdem die Polizei bis November 2011 vor allem im Umfeld der Familien ermittelt, Hinweise auf die Mordserie im Drogenmilieu oder der politischen kurdischen Szene gesucht und die Angehörigen der Ermordeten über Jahre immer wieder verhört und beschuldigt hatte, können die Betroffenen mit Fug und Recht mehr verlangen als Beschwichtigung und ein schon im Ansatz gebrochenes Versprechen auf rückhaltlose Aufklärung.

Fußnoten:

[1] http://www.abendblatt.de/politik/deutschland/article113721679/Gauck-sichert-NSU-Angehoerigen-Aufklaerung-zu.html

[2] http://www.rf-news.de/2013/kw07/aysen-taskoerprue-schreibt-an-bundespraesident-gauck


18. Februar 2013