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REPRESSION/1452: Anhörung Bradley Mannings - Whistleblower sollen eingeschüchtert werden (SB)



Warum eigentlich nicht den Spruch, 'wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten', einmal umkehren und an jene richten, die ihn normalerweise gegen Bürgerinnen und Bürger ins Feld führen, die nur ihre Privatsphäre schützen wollen? Warum also nicht die Kritiker der WikiLeaks-Veröffentlichungen daran erinnern, daß, wenn die Geheimdienstapparate hinter dem Rücken des eigentlichen Souveräns agieren und Menschenrechtsverletzungen begehen oder dulden, jedermann, der sich nicht mit Erpressern, Folterern und Kinderschändern gemein machen will, aufgerufen sein sollte, dies an die Öffentlichkeit zu bringen?

Auf diese Weise würden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen. Die jammern aber nun über ein gewaltiges Datenleck, über das der Inhalt von rund einer Viertel Million Diplomatendepeschen und anderen, von der US-Regierung als geheim eingestuften militärischen Dokumenten via Internetplattform WikiLeaks.org an die Öffentlichkeit gelangt ist. Offenbar haben die US-Regierung und ihre Verbündeten eine Menge zu verbergen und allen Grund, etwas zu befürchten. Das geben nicht nur die Depeschen selbst her, die den Eindruck erwecken, daß illegale Mauscheleien und Menschenrechtsverletzungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind und die Militärapparate reichlich davon profitieren, sondern darauf läßt auch die Schwere der Repressionen schließen, denen sich der Obergefreite der US Armee Bradley Manning ausgesetzt sieht.

Manning, der am Samstag 24 Jahre alt wird, soll Quelle der geheimen Diplomatenpost sein, die von der Whistleblower-Plattform veröffentlicht wurde. Am Freitag hatte er die erste Anhörung vor einem Militärgericht in Maryland, wo zunächst der Verteidiger David Coombs den zuständigen Richter der Befangenheit bezichtigt hat. Manning sieht sich einem ganzen Bündel an Vorwürfen ausgesetzt, wobei "Unterstützung des Feindes" am schwersten wiegt und mit dem Tod geahndet werden kann. Die Staatsanwaltschaft hat angedeutet, nicht die Höchststrafe, sondern lebenslänglich zu fordern. Daran muß sich das Gericht jedoch nicht halten.

Zu den bekanntesten Dokumenten, deren Veröffentlichung auf Manning zurückgehen soll, gehört neben den Folterberichten aus Irak und Guantánamo sowie Informationen zu Kinderhandel und -mißhandlung durch die private Sicherheitsfirma DynCorp in Afghanistan auch das im Internet kursierende WikiLeaks-Video "Collateral Murder", das den Angriff eines US-Hubschraubers am 12. Juli 2007 auf Zivilisten in Bagdad zeigt. Mindestens elf Personen wurden erschossen, unter ihnen zwei Reuters-Reporter.

Daß das Establishment etwas zu verbergen hat und wie empfindlich es reagiert, wenn unliebsame Informationen an die Öffentlichkeit gelangen, zeigt die Be-, bzw. Mißhandlung des am 26. Mai 2010 verhafteten Manning. Der wurde monatelang in Isolationshaft gesteckt, mußte nackt auf einer Pritsche ohne Decke und Kopfkissen schlafen und morgens ebenfalls nackt zum Appell antreten. Der Häftling sollte nach Strich und Faden gedemütigt, weichgeklopft, zerstört werden. Das Pentagon wartet nicht erst das Gerichtsurteil ab, sondern bestraft Manning bereits im Vorfeld. Nie wieder sollte ein Militärangehöriger es wagen, das eigene Gewissen höher zu stellen als den Gehorsam gegenüber dem Militärapparat, nie wieder sollte es zu so einer Supernova der Verbreitung von klassifiziertem Material kommen.

Dementsprechend verbissen wird auch WikiLeaks-Gründer Julian Assange von den US-Behörden verfolgt. Der Australier befindet sich in Großbritannien, wo er, mit einer elektronischen Fußfessel versehen, unter Kaution freigelassen wurde. Er soll nach Schweden ausgeliefert werden, wo er wegen minder schwerer Vergewaltigung, sexueller Belästigung und Nötigung verklagt wurde. Würde er an die schwedische Justiz überstellt, könnte er von dort an die USA ausgeliefert werden, wo er von den Ermittlungsbehörden vermutlich "gegrillt" werden würde.

Die Informationen, die über WikiLeaks veröffentlicht wurden, haben einiges in der Welt in Bewegung gesetzt, obgleich die rund 250.000 Depeschen bisher nur zu einem Bruchteil ausgewertet wurden. Die Aufstände in der arabischen Welt, die Wucht des Widerstands gegen die Besatzung Iraks, der Zusammenschluß der auseinanderdividierten palästinensischen Fraktionen Hamas und Fatah wurden zwar nicht von den WikiLeaks-Veröffentlichungen monokausal ausgelöst, aber sie hatten daran einen wichtigen Anteil.

Die mutmaßlich von Manning an die Öffentlichkeit gebrachten Dokumente kommen der Idealvorstellung des Whistleblowings sehr nahe, auch wenn sie "nur" wiedergeben, was andere geschrieben bzw. produziert haben. Bewertung, Analyse und Schlußfolgerungen wären der unverzichtbare zweite Teil eines investigativen Journalismus. Anläßlich des Manning-Falls drängen sich Fragen auf, die das Fundament des gesellschaftlichen Zusammenhalts betreffen. Manning, der beim militärischen Nachrichtendienst der USA im Irak gearbeitet hat, hatte eklatante Menschenrechtsverstöße der irakischen Partner bei seinem Vorgesetzten gemeldet. Daraufhin war ihm befohlen worden, sich nicht darum zu kümmern und die Klappe zu halten. Das konnte er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren und hat anfangen, geheime Informationen zu sammeln, um die Öffentlichkeit aufzuklären.

Es gibt also gute Gründe für Manning und alle, die ihren Blick nicht davor verschließen, zu sagen, daß die Gesellschaft auf einem Lügengebäude errichtet wurde. Einerseits predigt die US-Regierung Menschenrechte und Demokratie, andererseits verletzt sie hinterrücks ihre eigenen Werte. Dieser Grundwiderspruch wird durch die Veröffentlichung der geheimen Diplomatenpost in vielfacher Hinsicht transparent. (Die Rede ist hier von den USA, aber das gleiche gilt selbstverständlich für ihre Bündnispartner. So hat sich der frühere Bundesinnenminister und heutige Finanzminister Wolfgang Schäuble für die Nutzung von Informationen ausgesprochen, die nach harten Verhörmethoden - sprich Folter - zustandegekommen sind.)

Sich für die Rechte Mannings einzusetzen ist absolut wichtig, richtig und sollte nach besten Kräften unterstützt werden. Die Verantwortlichen für Mißhandlungen und Folter müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Das braucht allerdings niemanden davon abzuhalten, sich weitergehende Fragen zu stellen. Denn jenes Recht, das dabei in Anspruch genommen würde, ist das Recht der Herrschenden. Sollte Manning für schuldig befunden werden, hätte er auf der geltenden justitiellen Grundlage Unrecht begangen. Wer auf die Durchsetzung des Rechts besteht, müßte dies konsequenterweise akzeptieren. Diejenigen, die Menschen mißhandelt und gefoltert haben oder davon wußten und schwiegen, kämen ungeschoren davon; Bradley Manning hingegen würde verurteilt und wahrscheinlich lebenslänglich ins Gefängnis gesteckt. Dieses Rechtsverständnis bildet die Grundlage der Gesellschaft, an der jeder einzelne beteiligt ist.

16. Dezember 2011