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REPRESSION/1410: Vor den Toren der EU - Hunger- und Armutsaufstände niedergeschossen (SB)



Das wird man in Zukunft häufiger vernehmen: Menschen, die wegen gestiegener Lebenshaltungskosten und allgemeiner Perspektivlosigkeit auf die Barrikaden gehen, werden von staatlichen Exekutivorganen niedergeschossen. Die jüngste Protestwelle mit mindestens 23 Toten fand in Algerien und Tunesien statt, also in zwei Staaten, die zur Mittelmeerunion gehören und eng mit der Europäischen Union zusammenarbeiten. Damit hat der weltweit zunehmende Hunger unmittelbar vor den Toren Europas Einzug gehalten.

In den letzten Tagen haben algerische Sicherheitskräfte mindestens drei Personen erschossen und 1000 Personen festgenommen. Als die Proteste nicht abebbten, kündigte die Regierung als vorübergehende Befriedungsmaßnahme Preisnachlässe für Speiseöl und Rohzucker an. Man will den Druck ein wenig aus dem Kessel lassen. Seit Tagen hatten vor allem junge Algerier gegen die um durchschnittlich 30 Prozent gestiegenen Preise für Grundnahrungsmittel binnen weniger Monate protestiert; Zucker und Öl waren sogar innerhalb von zwei Wochen um bis zu 50 Prozent teurer geworden. Hier handelt sich ausgerechnet um zwei Produkte, von denen die EU und USA ihren Agrotreibstoff beziehen.

Auch wenn kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Einführung eines neuen Treibstoffs (E10) in der Europäischen Union, der zu zehn statt wie bisher fünf Prozent aus Agrosprit besteht, und den stark gestiegenen Kosten für die Agrospritausgangsstoffe Zucker und Pflanzenöl nachweisbar ist, läßt sich umgekehrt feststellen, daß man in einer globalisierten Welt nicht mehr von einer klaren Unterscheidung der Vorgänge sprechen kann. Beispielsweise haben im vergangenen Monat Bundeskanzlerin Angela Merkel und der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika die Gründung einer deutsch-algerischen Wirtschaftskommission beschlossen. Zu ihren Aufgaben wird die Förderung der Desertec-Initiative gehören. Die vom deutschen Großkapital (Deutsche Bank, Münchner Rück, Siemens, RWE, E.on, etc.) gegründete DII (Desertec Industrial Initiative) schickt sich an, erneuerbare Energien aus den Ländern Nordafrikas und Mittleren Ostens zur Deckung des europäischen Bedarfs zu beziehen. Das betrifft vor allem die Gewinnung von Sonnenenergie, aber schließt pflanzliche Energieträger, die auch als Lebensmittel verwendet werden könnten, ausdrücklich ein.

Repressive Staaten wie Tunesien und Algerien, in dem seit dem Bürgerkrieg in den neunziger Jahren noch immer der Ausnahmezustand herrscht, bilden das nach Nordafrika ausgelagerte Bollwerk der Europäischen Union gegen die übrige Welt. Dort werden die Lebensverhältnisse der Menschen vielfach von Hunger, Armut und bewaffneten Konflikten, die um die Ausbeutung der für den Export bestimmten Ressourcen ausgetragen werden, bestimmt.

Daß ungeachtet der auch in der Vergangenheit bereits mit großer Härte vorgegangenen Sicherheitskräfte in Algerien und Tunesien Massendemonstrationen und Unruhen ausgebrochen sind, deutet auf zwei Entwicklungen: Erstens sind Hunger und Armut unter den Einwohnern dieser beiden Länder noch nicht so weit entwickelt wie in manchen Regionen weiter südlich, in denen die ausgezehrten Menschen nicht einmal mehr die Kraft haben, sich gegen die Regierung zu erheben, zumal wenn sie dafür Hunderte Kilometer zu Fuß zurücklegen müßten. Zweitens befürchten die Algerier und Tunesier aus gutem Grund, daß sich ihre Lebensverhältnisse denen der subsaharischen Elendsregionen angleichen könnten und daß sie von ihren Regierungen keine Unterstützung zu erwarten haben.

Mögen die Anlässe der aktuellen Unruhen in Tunesien und Algerien, den spezifischen Ausgangsbedingungen geschuldet, voneinander abweichen, der gemeinsame Nenner besteht darin, daß große Bevölkerungsanteile bloße Manvöriermasse in den Händen der jeweiligen Eliten sind. Davon profitieren Deutschland und die Europäische Union ganz entscheidend. Die EU erscheint im Verhältnis nur deshalb (noch) als Hort der Freizügigkeit und Demokratie, weil sie an ihrer Außengrenze durch repressive Regime geschützt wird. Sie sind funktional an die Europäische Union angebunden, wobei von den Privilegien dieser Partnerschaft nur ein kleiner Teil der dortigen Bevölkerung profitiert. Darin unterscheiden sich die Verhältnisse nicht von denen im europäischen Wohlstandsraum.

10. Januar 2011