Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

REPRESSION/1403: Die soziale Frage repressiv beantworten ... Sicherheitsdiskurs nach Paketbomben (SB)



Die anläßlich der diversen entdeckten Paketbomben erhobenen Forderungen nach verschärften Sicherheitsmaßnahmen kranken daran, daß die konkreten Hintergründe dieser Attacken wie das Umfeld, in dem sie angeblich entstanden, weitgehend im Dunkeln bleiben. So wirkt die Lieferung einer herkömmlichen Druckerkartusche, die in jedem Fachgeschäft zu erstehen ist, an eine Adresse in den USA aus dem Jemen gerade so, als habe man den Verdacht der Sicherheitsbehörden absichtlich auf das Paket ziehen wollen. Unter den zahlreichen möglichen Zielen in den USA ausgerechnet eine kleine jüdische Synagoge zu wählen, die auch Schwulen und Lesben offensteht, scheint die Behauptung zu stützen, daß Al Qaida westliche Ziele angreife, weil militante Islamisten "uns unsere Freiheiten nicht gönnen". Die Behauptung, islamische Fundamentalisten wollten den westlichen Lebensstil zerstören, ist ein Produkt der kulturalistischen Ideologie, mit der die US-Regierung den offensiven, keineswegs die vermeintlichen Hintermänner der angeblichen Attentäter des 11. September 2001 treffenden Globalen Krieg gegen den Terrorismus initiierten.

Aus religiösen Gründen gegen Frauen, Schwule und Lesben gerichtete Unterdrückung findet in islamischen Gesellschaften ebenso statt wie in anderen Kulturen mit rigiden Moralvorstellungen. Den jeweiligen Wertekodex mit militanten Mitteln in Weltgegenden zu tragen, in denen der eigene Glaube nicht mehrheitlich vertreten ist, zeichnet vor allem christliche Kulturkrieger aus. Nach allem, was über die Ziele Al Qaidas bekannt geworden ist, geht es dieser Organisation oder Doktrin darum, westliche Truppen aus den Ländern des islamischen Kulturkreises zu vertreiben. Selbst wenn es einen Plan zur Missionierung der Welt für den Islam gäbe, wäre ein Vorgehen, das ausschließlich Feindseligkeit schürt, eine wenig aussichtsreiche Strategie.

Ohne vollends aufzuklären, wer hinter diesen Paketbomben steht, macht eine Debatte über das Abschießen von Frachtflugzeugen und andere drastische Maßnahmen nur den einen Sinn, die Gunst der Stunde zu nutzen, um den autoritären Sicherheitsstaat zu verwirklichen. Das gilt auch für die Paketbomben griechischer Herkunft. Nichts ist bislang mit Gewißheit geklärt, außer daß die Sicherheitsmaßnahmen im Bundeskanzleramt funktioniert haben. Das selbstevidente Etikett des Terrorismus taugt in beiden Fällen nicht dazu, eine nüchterne Analyse dieser Vorfälle vorzunehmen. Gerade weil sie nicht zu rechtfertigen ist, müßte man darum bemüht sein, das größere Umfeld der Entstehung politischer Gewalt zu verstehen und es dementsprechend zu verändern. Dazu gehören stets mehrere Akteure, wie die Folgen von Angriffen auf afghanische Familien durch NATO-Truppen zeigen, deren Überlebende sich daraufhin den Taliban anschließen oder diese zumindest unterstützen. Konfliktlösung kann in einer Welt massiver Disparitäten, in der der mangel- und gewaltbedingte Tod hunderttausender anonym bleibender Menschen selbstredend hingenommen wird, während andernorts tragische Einzelschicksale zum kriegsauslösenden Politikum erhoben werden, nicht ohne die Aufhebung materieller Antagonismen erfolgen.

All das weiß man seit langem, doch die Reaktionen nach Anschlägen und Anschlagsversuchen arbeiten stets dem Ausbau des staatlichen Gewaltmonopols und dem Abbau bürgerlicher Rechte zu. Warum sollte man nicht auf den Gedanken kommen, daß dahinter auf diese oder jene Weise System steckt, sprich absehbare Diskurs- und Reaktionsverläufe für den Ausbau staatlicher Repression instrumentalisiert werden? So zeigen schon die klaffenden Lücken im Anspruch auf mehr Schutz, in welche Totalität die Reise in die sogenannte Sicherheit gehen soll. Anschläge auf öffentliche Verkehrsmittel wie auch den privaten Individualverkehr sind in der Bundesrepublik jederzeit möglich, warum also beschränkt sich die Debatte auf den Luftverkehr?

Weil es faktisch unmöglich ist, die Verkehrsmittel hochmobiler Gesellschaften in ihrer Gesamtheit fugenlos zu kontrollieren, ohne Handel und Wandel zum Erliegen zu bringen. Nicht von ungefähr ist der Schutz kritischer Infrastrukturen, zu denen neben der Telekommunikation und der Energieversorgung vor allem das Verkehrswesen gehört, seit vielen Jahren eines der wichtigsten Themen sicherheitspolitischer Planung. Dabei geht es nicht nur um ihre Angreifbarkeit durch terroristische Akte islamischer Provenienz. Ob der drängenden sozialen Widerspruchslagen ist die Bedrohung der herrschenden Ordnung durch bürgerlichen Protest bis hin zu politisch motivierter Sabotage etwa im Rahmen wilder Streiks mindestens ebenso relevant. Indem nun verstärkt linksradikale Organisationen in Griechenland in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit rücken, knüpft der der Sicherheitsdiskurs an das dominante soziale Konfliktpotential an und nimmt einen aus klassenkämpferischen Motiven erwachsenden politischen Aktivismus ins Visier.

Dies zeigt sich auch am Insistieren der Unionsparteien und sie flankierender Massenmedien auf die Anwendung der Vorratsdatenspeicherung. Dieses zentrale Element einer umfassenden anlaßlosen Überwachung schafft die Voraussetzung zur Ausforschung sozialer Strukturen, anhand der nicht nur eventuelle Anschlagspläne, sondern auch die Aktivitäten sozialer Bewegungen frühzeitig auszumachen sind. Stellt man die Frage nach Sicherheitsdefiziten im öffentlichen Raum konsequent, dann führt kein Weg am Ausbau personenzentrierter Überwachung durch den präventiven Maßnahmestaat vorbei. Alles andere ist diesem nicht nur zu defensiv, sondern auch zu teuer und volkswirtschaftlich kontraproduktiv.

So wird die Kontrolle der Bevölkerung dank des heute möglichen Einsatzes von Observations- und Evaluationsinstrumenten, die gigantische Datenmengen verarbeiten können, so weit wie möglich ins Vorfeld der konventionellen, erst nach Anfangsverdacht einsetzenden Ermittlungen gelegt. Vorhaben wie die Einrichtung einer Datenbank zur Feststellung von Radikalisierungstendenzen in der EU und das bereits auffälliges Verhalten nach Sicherheitskriterien auswertende INDECT-Projekt der EU sind eingebettet in die Schaffung übernationaler geheimpolizeilicher Strukturen, mit der eine regelrechte Kultur institutioneller Verantwortungslosigkeit Einzug in die ihrem demokratischen Anspruch immer weniger gerecht werdenden Gesellschaften der EU hält. Nicht die kriminelle Tat und die Ermittlung der Täter soll im Zentrum polizeilicher Arbeit stehen, sondern der ad hoc bis zum Erbringen des Gegenbeweises als verdächtig geltende Mensch.

Indem die spektakulären Ereignisse, die die Politik auf den Kurs verstärkter Repression drängen, durch den zusehends geheimpolizeilichen Charakter staatsschützerischer Aktivitäten nebulös und undurchschaubar bleiben, nehmen sie eine ihrer Abwehr immanente Bedrohungsqualität an, die mit ihren angegebenen Urhebern nur bedingt zu tun hat. Das dadurch verstärkte Klima der Angst und Verunsicherung ist gleichermaßen rational wie irrational. Rational, weil die Verletzlichkeit menschlichen Lebens zu jeder Zeit gegeben und es keineswegs neurotisch ist, etwa körperliche Zustände hoher kinetischer Energie wie beim Autofahren als akute Gefahr zu erleben. Irrational, weil die am Beispiel des Terrorismus ausgemachte Gefahr in der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens weit hinter alltägliche Verrichtungen zurückfällt, die katastrophal entgleisen können.

"Angst im Kapitalismus", so ein Buchtitel aus den 1970er Jahren, als man den Dingen noch etwas bemühter auf den Grund ging, ist das Ergebnis verwertungsbedingter Fremdbestimmung und ihrer Kompensation durch Feindbilder, die es dem Menschen unmöglich machen sollen, die ihn nötigenden und zwingenden Verhältnisse direkt zu konfrontieren und zu überwinden. Das Schüren von Angst ist systembedingt so rational wie die individuelle Verortung dieser Bedrohung irrational.

4. November 2010